(Fr)Ess-Attacken bzw Binge Eating Disorder – Gedanken einer Ex-Betroffenen

Liebe Frau Lichtner-Hoyer,

Ihr gestriger Beitrag zum Thema "Erste Hilfe bei Fressattacken" hat in mir eine ganze Latte an Emotionen ausgelöst (gut, nicht?). Leise Ironie beiseite: Anstatt meine Antwort einfach nur in der Kommentarspalte versumpern zu lassen, hier meine Gedanken in Form meiner wöchentlichen Kolumne. Mein erster Kritikpunkt: ich finde Ihre Wortwahl nicht unbedingt sehr sensibel. "Stopfen", "Fressattacke" "nachgeschoben"– würde Sie einer Bulimikerin gegenüber auch von "Kotzen" oer "Finger in den Hals stecken" reden? Vermutlich nicht. Wie glauben Sie, dass Betroffene sich fühlen, wenn sie das lesen? Ich bin längst geheilt, aber selbst jetzt noch zucke ich bei Ihrer Wortwahl zusammen. Ja, als Autorin bin ich sprachsensibel, aber ich finde, das kann man auch besser formulieren. Zweitens ist das mit "Essen als Krücke" grob vereinfacht und ungenau. Binge Eating Anfälle können aus einer Reihe von Gründen passieren, nicht nur als emotionalen, sondern auch z.B. als Folgen von Diäten, zB einer Störung des Satt-Hunger-Gefühls, als Folge von subjektivem oder - wichtig – tatsächlichem Nahrungsmangel. Ernärhungscoach Isabel Foxen Duke hat erst neulich einen sehr interessanten Artikel darüber geschrieben.http://isabelfoxenduke.com/the-other-reason-people-binge-eat/

Gerade, wenn man bedenkt, wie viele (auch dicke) Menschen Diät halten, ist es wichtig, zwischen körperlichem und seelischem Hunger zu unterscheiden, will man den Betroffenen hefen.

Abgesehen davon – ich kenne keinen einzigen Fall, wo jemand zehn Schokoladen gegessen hat. Wenn man nicht hungrig ist, reicht eine schon, um sich sehr, sehr unwohl zu fühlen. Es gibt bei BED – Binge Eating Disorder – sicher auch Extremfälle, aber ich weiß nicht, wie hilfreich es ist, gerade diese Beispiele zu bringen.Drittens – und ganz wichtig – MAN ISST SICH NICHT TAUB. Ihre Vermutung stimmt bei sehr vielen Menschen einfach nicht.

Zum Teil isst man, weil es einem kurzfristig etwas wie Freude macht und Momente der emotionalen Erleichterung in schwierigen Situationen bring. Ja, man tauscht ein negatives Gefühl zumindest kurzfristig für ein positiveres – dass man nichts spürt, heißt das trotzdem nicht (und die negativen Gefühle kommen irgendwann auch wieder).

Überessen ist machmal eine rein körperliche Reaktion auf Stress – kennen Sie Prof.Petters Selfish Brain Theorie?

Manchmal isst man auch, weil es ein Akt des Selbsthasses und der Selbsbestrafung ist. Es kann aber auch ein unbewusster Versuch sein, Emotionen körperlich auszudrücken (in diesem Punkt kann man BED auch mit Ritzen oder anderen Selbstverletzungsakten vergleichen – die Übelkeit, der schmerzende Magen usw werden zu körperlichen Manifestationen eines seelischen Schmerzes). Außerdem kann das Essen z.T ein Umlenken der Emotionen auf andere Kampfplätze sein. Das, was ich – und viele andere (Ex-)Betroffene gespürt haben und spüren, ist definitiv alles andere als emotionale Taubheit, eher ein Ankämpfen gegen ein Übermaß an Emotionen, und das Gefühl, keine Ahnung zu haben, wie man mit dem Sturm im Inneren umgehen kann.

Es gibt Theorien, dass gerade HSP, also hypersensible Personen, einen Hang zu Essstörungen haben, und das kommt nicht von ungefähr.

Dass man die Gefühle nicht bewusst wahrnimmt, stimmt also nicht, jedenfalls bei sehr vielen Menschen. Viel mehr ist es so, dass die Essstörung als Mechanismus gilt, mit eben solchen Emotionen und Situationen umzugehen, die oft unlösbar scheinen – Stress von außen, Hilflosigkeit, einem Mangel an Selbstwertgefühl …

Sich zu hassen, weil man zu viel Schokolade gegessen hat, ist zB leichter, sich einzugestehen, dass man seine Träume nicht lebt oder seinen Job hasst oder tief sitzende Familienprobleme hat oder dass man sich einsam fühlt, aber trotz all seiner Versuche keine Ahnung hat, wie man ein Problem löst. Diese intensive Emotion ist aber das Gegenteil von "Taubheit".

Insofern finde ich Ihre Tipps auch nicht so wahnwitzig hilfreich. Spüren ist gut, keine Frage, aber Spüren alleine hilft oft nicht. Egal ob Menschen jetzt ihre Gefühle zu dämpfen oder umzulenken versuchen: darunter liegt – wie Sie auch schreiben – eine Hilflosigkeit, das subjektive oder objektive Gefühl, eine Situation nicht lösen zu können. Wenn man sich gestresst oder gedemütigt oder verletzt fühlt, und nicht weiß, wie man das lösen kann, kann man das auf Dauer mit Spüren alleine nicht wegbringen. Wenn man den Leuten sagt, alles wird besser, wenn "du dich nur spürst", finde ich das gefährlich. Spüren allein ändert nichts am Kern der Probleme. Wenn man isst, weil man sich nach Liebe und Umarmungen sehnt, dann man das nicht einfach "wegspüren".

Wirkliche Erste Hilfe bei Essstörungen sieht übrigens so aus, dass die Betroffenen sich schleunigst professionelle Hilfe und Unterstützung holen. Das kann eine Psychotherapie sein oder eine Selbsthilfegruppe oder eine Beratungsstelle für Essstörungen. Auch, weil sich hinter Essstörungen sehr oft massive Traumata verbergen – ein Binge Eater isst schließlich nicht nur, weil ihn Herr Maier aus der Buchhaltung schief angeschaut hat.

Bei mir waren es u.a. Mobbing durch Mitschüler und ein Migrationstrauma. Bei anderen kann es sexueller Missbrauch oder etwas ähnlich heftiges sein. Man kann nach Todesfällen anfangen zu essen, aus intesiven Verlassenheitsängsten, durch elterliche Ablehung und viel mehr. Das sind oft, wie gesagt, intensive Traumata, und das Zulassen verdrängter Gefühle kann sehr, sehr intensiv sein, gerade am Anfang.

Mit dem, was Sie in Schritt drei Bezeichnen, hat das unter Umständen nur ganz am Rande zu tun. Diese hochkommenden Gefühle können wild sein, und grausam, und harsch, und einen zu Tode erschrecken. Es kann aus einem herausbrechen wie eine Flutwelle, und hinterher fühlt man sich unfassbar leer und kaputt, und diese Leere und Zerschlagenheit ist zwar auch der erste Schritt zur Heilung, aber wenn man das erste Mal durchlebt, kann das sehr, sehr heftig sein. Darum ist es so wichtig, dass man gerade in der ersten Zeit Profis hat, die einem helfen. Bei Ihnen klingt Punkt drei sehr harmlos und irgendwie kopfig. Mich (und nicht nur mich) hat diese Phase der Heilung an meine seelischen und körperlichen Grenzen gebracht. Und ja, inzwischen kann ich mit meinen Gefühlen wohl besser umgehen als die meisten, die ich kenne (außerdem hat man als AutorIn oft sowieso eine fast schon obsessiven Hang zur Selbstreflektion).

Genauso wichtig, wie nach und nach den Umgang mit seinen Gefühlen zu lernen, ist übrigens, Lösungen für die Probleme zu finden. Auch deshalb ist die Hilfe von Profis für Menschen mit Essstörungen so wichtig. Sie können ihren Klienten helfen, an die oft verschüttete Kraft und den Mut in ihrem Inneren ranzukommen. Sie können sie darauf hinweisen, was sie alles können und wie weit sie gekommen sind, und gemeinsam Strategien ausarbeiten. Spüren ist gut. Taten setzen mindestens genau so.

Was mir geholfen hat, war u.a. eine gute Therapeutin, Schauspielunterricht, mir ein neues Umfeld suchen und einige radikale Änderungen im Leben (zB Diäten aufgeben, die Waage wegwerfen, ein Studium abbrechen, das ich gehasst habe usw, Beschäftigung mit derBody Love Bewegung) … Es war ein langer Weg. Aber ich habe es geschafft.

P.S: Bitte verstehen Sie mich nicht falsch: ich finde es wunderbar, dass Sie versuchen, zu helfen. Auch Ihren Satz „Binge Eating“ nennt man die Essstörung, die häufiger vorkommt als Anorexie oder Bulemie" finde ich sehr wertvoll und wichtig, weil viele von BED Betroffene, deren Angehörige oft gar nicht wissen, dass sie Hilfe brauchen. Mir war es einfach wichtig, auf die Diskrepanz zwischen Ihrer Theorie und meiner persönlichen Erfahung bzw der vielen Geschichten hinzuweisen, die mir im Laufe meiner eigenen Recherchen untergekomen sind und die meiner in vielen Aspekten so ähnlich waren …

Ich würde mich jedenfalls über einen konstruktiven Dialog freuen :)

2
Ich mag doch keine Fische vergeben
Meine Bewertung zurückziehen
Du hast None Fische vergeben
6 von 6 Fischen

bewertete diesen Eintrag

fischundfleisch

fischundfleisch bewertete diesen Eintrag 14.12.2015 23:16:59

Silvia Jelincic

Silvia Jelincic bewertete diesen Eintrag 14.12.2015 23:16:59

7 Kommentare

Mehr von Rhea