Die Obergrenze und der freie Fall

Es ist erstaunlich, wie gut es dem bisher noch unbegrenzten Flüchtlingsproblem gelingt, die Grenzen von Intelligenz und Charakter der politischen Akteure offenzulegen. Da stopfen erwachsene und gewählte bzw. ernannte Bürger auf offener Bühne ihre Sprechblasen in dermaßen verbogene Redewindungen, dass dem Zuhörer vor lauter Unsinn der Kopf zu schmerzen und die Haut zu jucken beginnt. Da sitzt eine auf die Verfassung vereidigte Ministerin in einem Fernsehstudio, die allen Ernstes die »juristische Seite beiseitelassen« und nur auf die Fakten schauen möchte – und schaut dann haarscharf an den Fakten vorbei. Neben dem humanitären Aspekt gibt es drei wesentliche Gründe bzw. Fakten, warum diese Obergrenzen-Rhetorik einen Tiefpunkt der kulturellen Entwicklung darstellt.

Erstens: Realitätsferne. - Die Regierung agiert wie eine Wohngemeinschaft, die im Badezimmer einen Rohrbruch feststellt und die Tür zumacht, damit das Wasser nicht ins Wohnzimmer rinnt. Dort ist’s nämlich noch recht trocken und gemütlich. Der einzige Sinn einer Obergrenze – und das wird auch offen zugegeben – ist es, Druck aufzubauen und einen Dominoeffekt auszulösen, der die Flüchtlinge zurück nach Griechenland oder sogar in ihre kriegsgeschüttelte Heimat spült. Aber werden sie dortbleiben? Oder werden sie – mit der Hilfe hochbezahlter Schlepper - andere Wege nach Europa suchen? Gut möglich, dass wir uns auf der oberbegrenzten Österreich-Couch ein paar Stunden ausruhen können. Aber wenn wir aufstehen – beispielsweise um uns ein Bier aus dem Kühlschrank zu holen – werden wir knöcheltief im Wasser stehen.

Zweitens: Verlust der politischen Kultur. – Natürlich gibt es eine »faktische Obergrenze«. Wenn nämlich alle Flüchtlinge der Welt nach Österreich kommen, dann würde das tatsächlich nicht funktionieren - jedenfalls nicht gut. Andere Staaten müssen auch helfen. Das funktioniert aber in Europa bekanntermaßen nicht. Deshalb – so die äußerst begrenzt smarte Idee – müsse man durch nationale Obergrenzen Druck auf die EU ausüben, um eine europaweite Lösung zu erzwingen. Druck erzeugt Gegendruck und Schäden im System, aber keine tragfähigen Lösungen. Wer meint, politische Lösungen durch Druck und Gewaltmaßnahmen erreichen zu können, hat das Feld des politischen Dialogs bereits verlassen. Es gibt nur eine Alternative zu einer europäischen Lösung: Das Zerbrechen der Europäischen Union. Die Obergrenzen-Rhetorik leistet dafür einen nachhaltigen Beitrag.

Drittens: Verlust der Rechtskultur. - Mag sein, dass die von der Regierung eingesetzten Rechtsgelehrten nach einigem Biegen und Beugen eine Obergrenzen-Lösung formulieren, mit der wir uns aus den allergröbsten Rechtsbrüchen eine Zeitlang herausreden können. Dazu zählen auch unverfrorene Schlitzohrigkeiten wie: Wir bearbeiten Asylanträge halt einfach nicht. Mag sein, dass das gelingt. Aber damit werden wir dann nicht nur das Feld des politischen Dialogs verlassen haben, sondern auch das Terrain der Rechtskultur. Geradlinige Rechtsstaatlichkeit ist vermutlich die größte Kulturleistung der menschlichen Zivilisation. Kant bezeichnete mit unkonfessionellem Blick das Recht als »den Augapfel Gottes auf Erden«. Wenn europäischen Staaten ihre geradlinige Rechtskultur aufgeben, dann ist Europa nicht nur eine taumelnde Gemeinschaft, sondern als Gesellschaft im freien Fall - ins Bodenlose.

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