Zehnter Hauptsatz:

Aug um Auge –

und die Welt wird blind sein. Gandhi

Warum kann man das Böse nicht einfach abschaffen? Das böse ist keine Substanz, sondern eine Eigenschaft, die Summe der falschen Entscheidungen. Es ist leider tautologisch – wie so viele Definitionen – wenn wir sagen, falsch ist eine Entscheidung dann, wenn sie böse ist, wenn sie anderen schadet. Viele Menschen glauben, dass man das Böse wie das Gute gleich ausschütten kann, dass Gerechtigkeit ein arithmetisches Mittel sei, das man immer wieder, wie auf einer Waage, herstellen und harmonisieren kann. Man muss lernen, die Ungerechtigkeit auszuhalten und man darf gleichzeitig das Ideal der Gerechtigkeit nicht aufgeben. Dazu gibt es glücklicherweise eine ganze Reihe von Helfern. Der einfachste Helfer ist die Gewohnheit. Sodann treten Kunst, Religion, Drogen, Gruppe und Schlaf herzu. Das ist auch die einfachste Lösung des Theodizee: Gott lässt das Böse zu, weil er uns das Gerechtigkeitsstreben eingeboren hat. Der gleiche Satz ohne Gott: das Böse ist die tatsächliche Kehrseite des Gerechtigkeitsstrebens.

Die Rache ist ein blinder Reflex, aber trotzdem verständlich, weil wir alle unter Herabsetzung leiden, wenn sie uns zugefügt wird. Entschließen wir uns selbst zur Demut, ob nun religiös-psychologischen Ratschlägen folgend oder nicht, so ist sie ein Zeichen der Stärke. Rache dagegen ist immer ein Zeichen von Schwäche und insofern nicht verurteilungswürdig. Würden wir die Rächer verurteilen, wären wir selbst welche. Rache gibt auch dem Gerechtigkeitsimpuls nach, ohne aber die Folgen auf uns selber zu beachten. Die höchste Strafe, die man erhalten kann, ist die Selbstverachtung. Sie tritt auch ohne Hinrichtung ein. Das Schlimme an der Weltgeschichte ist doch aber wohl, dass die meisten Hingerichteten unschuldig waren. Der Anspruch, die vermeintliche Berechtigung zum Richten, ist stets mehr missbraucht worden als dass sie gebraucht wurde. Schon aus dieser Ungleichung ergibt sich die Überflüssigkeit von jeder der Rache ähnlichen Strafe.

Und es zeigt sich, dass jede Konditionierung von Anmaßung ausgeht. Denn die Bedingungen für das Leben ändern sich so schnell, dass das heute Gelehrte und eventuell Gelernte morgen schon falsch sein wird. Zensuren und Strafen imitieren also das Leben auf hinfälligste Weise. Aber warum überhaupt? Die Lehre sollte sich, auch angesichts neuer Quellenbeschaffungsmöglichkeiten, auf den Ursprung besinnen: Methoden anzupassen oder zu entwickeln, die dem Zögling, seinem Verhalten und seinem Tun, entsprechen. Wem fiele da nicht das Glasperlenspiel ein, ein höchst unmoderner, weil zeitloser Roman.

Der Schrei nach Rache, außer dass er falsch und verständlich ist, kann also nur ein Schrei der Angst vor sich selbst sein. Wir glauben nicht (wir glauben nicht!), dass wir immer wieder die nötigen Selbstreinigungskräfte besitzen, um das, was in unser Bewusstsein tritt, nicht zu tun und das, was wir aus Tradition oder Überzeugung wollen, zu tun. Wir hoffen, dass andere uns ermahnen. Im Gegensatz zum Mikroleben, wo wir Strafzettel deshalb ablehnen, weil wir nicht einsehen wollen, dass wir etwas falsch gemacht haben, hoffen wir im Makroleben auf solche, die außer uns niemand sieht. Die liebsten Strafzettel dagegen sind uns diejenigen, die andere erhalten. Wir können dann das Gute in uns hineinprojizieren, glauben, dass uns das Böse nicht passieren kann und soll. Regelwerke mit oder ohne Strafen sind uns Korsett, Gängelwagen und goldener Käfig einer unverstandenen Moral.

Es ist schwer sich auf sich zu besinnen. Es ist schwer mit sich auszukommen, dabei wissen wir schon: die Antwort auf unser Unperfekt ist Demut, die wir für Schwäche halten, weil sie uns schon so oft aufgezwungen wurde.

Die Welt ist dann blind, wenn sie auf Rache und Vergeltung setzt. Die Augen öffnen sich, wenn wir die anderen verstehen.

Der Norweger Anders Breivik hat im Jahre 2011 auf der Ferieninsel Utøya neunundsechzig Menschen erschossen. Er glaubte, uns bestrafen zu müssen, indem er unsere Kinder erschießt, weil wir uns dem vermeintlich Fremden öffnen. Und manche zeigen sich, weil sie Opfer des Rachgedankens sind, als seine Schüler, wenn sie für ihn die Todesstrafe fordern. Die höchste Strafe für Breivik wird sein, dass niemand auf ihn hört. Trotz und wegen des ungeheuren Schmerzes, den er uns zugefügt hat, werden wir nicht auf ihn hören!

Der moralische Fortschritt, das Bessersein, erscheint gegenüber dem technischen Fortschritt, dem Schnellersein, als klein. Daraus darf man nicht schlussfolgern, dass die Rache jemals richtig war, im Gegenteil, man wusste es nur nicht besser. Zwei verfeindete Sippen, die sich gegenseitig die Väter erschlugen, verhungerten beide, statt nur eine, wenn sie auf Rache verzichtet hätte. Die Abhängigkeit von Herkunft gilt nur intern, nicht extern: jemand kann von sich sagen, dass er sich so verhält, wie er sich verhält, weil er aus der Welt stammt, wo man sich so verhält, aber ich darf es von ihm nicht sagen, auch nicht als Entschuldigung. Die Sippen haben übrigens überlebt, sonst wären wir nicht da, und daran kann man mathematisch exakt nachweisen, dass Rache sich immer von selbst überlebt.

Der dank ist der weitsichtigste Reflex, zu dem wir fähig sind, weil er uns immer wieder in die menschliche Gemeinschaft zurückführt, auch wenn wir uns durch Rache, falsche Entscheidungen, durch das Böse, durch Versagen und Angst an den Rand der Gesellschaft gebracht haben. Es wird noch viel Zeit vergehen, der moralische Fortschritt ist noch lange nicht an dem Punkt, bis wir auf abscheuliche Untaten anders als mit Strafe reagieren können. Niemand will weltfremde Lösungen. Es wird immer auch ungeheuerliche Kurzschlusshandlungen geben, aber vieles werden wir auch voraussagen können. Wenn wir endlich der Erziehung von Kindern und Jugendlichen unsere ganze Kraft widmen, jedenfalls mehr Kraft als etwa den Kapitalanlagen, dann werden wir auch bestimmte Verhaltensweisen, die gegen die Würde, gegen die Unverletzlichkeit, gegen die Integrität und das Selbstbestimmungsrecht von Mitmenschen gerichtet sind, im Vorfeld verhindern können. Erstaunlicherweise hat sich selbst die Mikrochirurgie fast explosiv-revolutionär verändert, während die Psychologie von Freud immer noch modern wirkt: die Überschätzung von verbaler Belehrung durch Schule, Polizisten und Moralapostel hält entgegen aller Erfahrungen an.

Der Dank mag der weitsichtigste Reflex sein, notwendig ist aber immer die denkende, dankende, einfühlende und emotionale Reflexion. Reflexion ist Orientierung, wenn sie von Wissen, Erfahrung, Tradition und Innovation untersetzt wird.

Die Quelle des Wissens ist das Glauben. Aber die Quelle von Demut und Gerechtigkeitsstreben ist das Wissen.

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