[YÜZÜNÜSÜ GÜLDÜRSÜN]

Liebe Familie Y., liebe Familie G.,

sicher haben Sie schon oft indirekt Aufforderungen erhalten, sich besser zu integrieren oder Sie haben Berichte in Zeitungen oder im Fernsehen so verstanden, dass Sie der Gesellschaft Leistungen zu erbringen hätten. Heute ist der Tag der Abrechnung, an dem ich Ihnen sagen möchte, was Sie für die Gesellschaft getan haben. Ich hatte das große Vergnügen, jeweils einen Sohn aus Ihrer Familie unterrichten und glücklich durch das Abitur bringen zu dürfen.

VSY war ein sehr sportlicher Schüler, der sicher, solange er Kind war, Fußballer werden wollte, aber er ist auch musikalisch und sozial. In den drei Jahren, die er bei mir war, hat er sich immer um andere Schüler gekümmert. An seinem Platz in der letzten Reihe hatte er den Überblick, wer gerade Hilfe braucht. Das hat er mir dann abends geschrieben. Umgekehrt, wenn ich etwas wissen wollte, was mich nichts angeht, schrieb er drei Punkte. Ich habe vorher und nachher keinen Schüler gehabt, der so sehr auf Diskretion und Vermeidung von Missbrauch einer Kommunikationslinie bedacht war. Statt Klatsch und Tratsch zu verbreiten, haben wir über die Türkei, über die türkische Sprache und über den Islam geschrieben. Der Zwiespalt des Migranten ist für die anderen schwer nachvollziehbar. Der Widerspruch tritt sogar in der zweiten und dritten Generation eventuell verschärft auf: man ist hier geboren, aber man weiß nicht warum. Es ist scheinbar auch kein Trost zu hören, dass die anderen Menschen auch nicht wissen, warum sie geboren sind.

In seiner Kindheit und Jugend war er oft in der Moschee. Er hat seinen Glauben auf eine durchaus moderne Art verinnerlicht. Wenn es darauf ankommt, steht er mit klaren Worten dazu, ohne aber andere Menschen zu belehren oder zu beschämen. Ich habe gesehen, wie er betet, ich habe ihn aber auch genauso oft beim Fußball spielen und fröhlich sein gesehen. Ein Klassenfahrt ohne Alkohol ist früher unvorstellbar gewesen. Die Klasse verdankt ihm übrigens die Fahrt nach Lloret de Mar, der europäischen Partyhauptstadt. Er hat solange auf mich eingeredet, bis ich mein, wie sich gezeigt hat, falsches Vorurteil aufgegeben habe. Er hat im Gegenzug auch sein, teilweise richtiges, Vorurteil gegen Lehrer aufgeben. Am meisten habe ich durch ihn über das türkische Leben, über die wohlklingende, musikalische Sprache und den Glauben als tägliches Lebenselement erfahren. Kurz hat er wohl sogar mit dem Gedanken gespielt, mich zur Konversion zu überreden, aber dann gemerkt, dass es nicht um Missionierung gehen kann. Ich hatte das auch erst kurz vor ihm entdeckt.

Als ich das erste Mal in Istanbul war, hat er mir alles über facebook oder Telefon übersetzt. Mein britischer Bloganbieter war damals in der Türkei verboten, aber er hat mir einen Zugang gelegt, so dass ich jeden Abend meinen vielgelesenen Blog hochladen konnte. Ihm ist es auch zu verdanken, dass ich einige Jahre später mit einer Klasse nach Istanbul gefahren bin. Auf seiner Hochzeit mit einer Mathematikstudentin – ich fasse es nicht – fremdelte ich etwas, aber das ist für uns eine gute Erfahrung, einmal in der Minderheit zu sein, aber seine ganze Familie kam immer wieder zu mir an den Tisch, alle kannten mich, allen hat er von mir erzählt, der schweigsame, manchmal sogar etwas verschlossene Junge, der jetzt zum Ehemann wurde.

HG kannte ich schon, bevor wir beide seiner Klasse Istanbul gezeigt haben, in deutsch und türkisch übrigens. Einmal haben wir sogar einer indischen Familie die Süleymaniye auf englisch erklärt, sie hatten so intensiv zugehört, dass wir uns nicht entziehen konnten.

Ein nicht alter Lehrer war an Lebensüberdruss und Krebs gestorben. Wir befürchteten, dass nur sehr wenige Menschen zu seiner Beerdigung kommen würden. Aber da hatten wir nicht mit HG gerechnet. Er hat seine Klasse zum Friedhof geführt, Schüler aus anderen Klassen gewonnen, er hat die Mutter des Lehrers, die im Rollstuhl sitzend und wider Erwarten doch noch gekommen war, getröstet und umarmt. So etwas habe ich vorher und nachher noch nie gesehen!

In Istanbul, in Üsküdar, aber da, wo keine Touristen mehr hinkommen, habe ich einen alten Bekannten, mit dem ich aber leider nicht sprechen kann, weil er nur und ich nicht türkisch kann. Ich bin also mit HG hingegangen, er hat wunderbar übersetzt und durfte sich in dem Laden meines Freundes aussuchen und mitnehmen, was er wollte. Das ist ein Kindertraum, aber er war kein Kind mehr und der Laden das, was man in Berlin einen Späti nennt. Danach gingen wir unter der Galatabrücke essen. Im nächtlichen Istanbul sahen wir Flüchtlinge aus Syrien mit ihren Kindern auf der Straße. Sie haben nicht gebettelt, aber sie hatten auch nichts. Wir haben also in einem anderen Laden, im Altstadtbezirk Sultan Ahmet, ein Abendbrot für sie gekauft und Spielzeug für die Kinder nicht vergessen. Dann fragte HG besorgt, ob wir jetzt noch nach Hause, in unser Hotel finden würden. Das befreiende Lachen galt wohl eher der syrischen Familie als dem Nachhauseweg, der kein Problem war.

HG war als Schüler nicht so leicht lenkbar wie andere. Trotzdem hat auch er dieses eigenartige nichtegoistische, soziale Element, nicht sich, sondern die anderen in den Mittelpunkt zu stellen. Die deutschtürkischen Schüler verbreiten eine Atmosphäre der Solidarität. Sie würden keinen Mitschüler verraten, auch wenn sie selbst dadurch in Schwierigkeiten kommen. Sie haben eine Leichtfüßigkeit, Fröhlichkeit und Freundlichkeit, die uns guttut, die wir lernen könnten und sollten. Merkwürdigerweise findet Migration einen Anker in der Esskultur. Die Franzosen, meine Vorfahren, brachten das Weißbrot und die Frikadelle nach Deutschland. Versuchen Sie einmal heute in einer normalen deutschen Kleinstadt, Sauerkraut, das uns im englischsprachigen Raum einen deftigen Spitznamen eingebracht hat, als Essen zu erhalten. Es gibt in jeder Stadt in Europa gesündere orientalische Essensvarianten. Aber das Essen ist eigentlich nur nebenbei erwähnenswert.

An einem schönen Herbsttag, versöhnt durch einen Jahrhundertsommer, kann man sich Migration als ein Würfeln Gottes vorstellen. Nach ein paar Jahrhunderten erstarrt jede Gesellschaft in guten wie in weniger guten Eigenschaften, die man gerade in Europa gut beobachten kann. Dann schickt er wieder ein, zwei Völker auf die Reise, um besseres Verhalten zu mischen. Denn überall, wo Menschen aufeinander treffen, werden sie sich auch lieben, verstehen, miteinander reden und feiern. Und es wird Kinder geben, die eine neue Mischung guten Lebens versprechen und darstellen. VSY und HG sind zwei von ihnen.

Ich danke Ihnen, den Familien von VSY und HG, für zwei wunderbare Söhne, die hier stellvertretend für hunderte Schüler und Mitbürger genannt sind. Statt Vorurteile und gar Hass zu verbreiten, sollten wir lieber mit offenen Augen und offenem Herzen durch die Welt gehen. Es ist ziemlich gleichgültig, woher wir stammen und was für Politiker uns führen oder verführen, wichtig ist, wohin wir gemeinsam gehen.

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