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Wir öffnen das Fenster und sehen hinaus. Draußen steht ein Baum. Wir sehen ihn, aber gleichzeitig fällt uns ein, was wir über den Baum und die Bäume wissen. Der Baum hat also eine eigene Erzählung. Der Fachbegriff dafür heißt Narrativ, von lateinisch narrare = erzählen. Gleichzeitig und unabhängig von den Begriffen gibt es auch große Menschheitserzählungen, mit und in denen wir uns besser erkennen können. In allen Kulturen gibt es Erzählungen von der Entstehung des Menschen, zum einen, weil niemand wissen kann, wie der Mensch entstand, zum anderen, weil Prozesse über Millionen Jahre nur in einer symbolhaften Erzählung verstanden werden können. Die Geschichte von der Zerstörung der Stadt Sodom wegen des unmoralischen Lebenswandels ihrer Bewohner mag uns kindisch vorkommen, aber Tatsache ist, dass es unmoralische Menschen, zerstörte Städte und die ständige Verwechslung von Ursache und Wirkung gibt. Diese Geschichte, so kindisch sie die Vernunft auch verurteilen mag, kennt jeder.

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Schelling, Hegel und Hölderlin lebten für kurze Zeit im selben Zimmer im Evangelischen Stift Tübingen, zwei künftige Philosophen und ein unglücklicher Dichter sollten Pfarrer werden, wurden es aber zum Glück nicht. Wenn Hölderlin, dessen Namen Goethe sich nicht merken konnte oder wollte und in Hölterlein verhunzte, nichts neues vorzutragen hatte und nichts zu lernen war, gab es vielleicht Gespräche. Schelling mag gesagt haben: Ich lerne nur, um selbst zu schaffen, nur durch dieses göttliche Vermögen der Produktion ist man wahrer Mensch, ohne dasselbe nur eine leidlich klug eingerichtete Maschine.* Hölderlin erwiderte vielleicht: O, ein Gott ist der Mensch, wenn er träumt, ein Bettler, wenn er nachdenkt und wenn die Begeisterung hin ist, steht er da wie ein missratener Sohn, den der Vater aus dem Haus stieß und betrachtet die ärmlichen Pfennige, die ihm das Mitleid auf den Weg gab.** Hegel überlegte lange und stieß dann hervor, indem er heftig in seinem Heft blätterte: Ist erst das Reich der Vorstellungen revolutioniert, so hält die Wirklichkeit nicht aus.***

3

Es ist möglich, dass Kafka mit seiner vor hundert Jahren entstandenen Erzählung über die Metamorphose des Handlungsreisenden Gregor Samsa die Entstellungen des Menschen durch den ersten Weltkrieg vorwegnahm. Im Gegensatz zu seiner trostlosen Figur Samsa, dem summenden Käfer, war Abteilungsdirektor Dr. Franz Kafka in seiner Versicherungsgesellschaft hochgeschätzt und galt als fast unersetzbar, er wurde weder für den Krieg noch für seine 1917 mit einem Blutsturz beginnende schreckliche Krankheit freigestellt. Aber auf seinen Wegen wird er die verstümmelten Opfer des Krieges gesehen haben. Im Hungerwinter mag dies besonders kafkaesk gewesen sein.

Der erste Weltkrieg hat sowohl die schrillste Kriegsbegeisterung hervorgerufen als auch den stillsten Pazifismus. Die Kriegsbegeisterung wurde von vielen Intellektuellen nicht nur geteilt, sondern auch begründet und befördert. Die lange Friedensperiode in Europa verband man kausal mit der Entfremdung und Erstarrung, statt dass die Ursache dieser Entfremdung in der Industrialisierung und Säkularisierung gesehen wurde. Der Abschied der europäischen Menschen von der Natur, dem Dorf, der Familie, dem Handwerk und der Staatsreligion hat über ein Jahrhundert gedauert, wurde aber von den um 1913 lebenden Menschen auf den Überdruss des Friedens verortet. Im Krieg erwartete man die große Seelenreinigung, die man zu brauchen glaubte. Nur wenige Fachleute werden das tatsächliche Skript des Krieges geahnt haben: die Mechanisierung des Tötens mit dem Ergebnis seiner Potenzierung. Der Aufschwung von Chirurgie und Prothetik ist, genau wie die Weiterentwicklung von Kettenfahrzeugen und U-Booten, allein dem Krieg als Katalysator zugerechnet worden. Indessen führte die Seelenreinigung (Katharsis) des Krieges zu einer Sinnentleerung und einer zeitweiligen Aushöhlung des Tötungsverbots, die in Auschwitz und in den Gulag ihren Höhepunkt fand. Erst die Abschaffung der Todesstrafe und die theoretische und praktische Ächtung des Krieges haben zur vollständigen Wiedereinsetzung des Tötungsverbotes, merkwürdigerweise aber nicht zur Renaissance der christlichen Kirchen als moralischer Instanz geführt.

Die Entstellung durch das Alter findet sich schon in antiken Sagen, in denen Blindheit mit Weisheit gekoppelt werden, wie bei Teiresias oder Ödipus. Bei Teiresias, dem blinden Seher, wird auch die Vermännlichung der alten Frau und die Verweiblichung des alten Mannes dargestellt. Der unbekannte Dichter Anton Kuh sagte über den berühmten Dichter Stefan George, dass er wie eine alte Frau aussehe, die wie ein alter Mann aussieht. Und das sieht man häufiger! Bei den Brüdern Grimm taucht ein durch Tremor entstellter Alter auf, dem erst durch das Verständnis des Enkels seine Würde zurückgegeben wird. Die signifikante Erhöhung des Durchschnittsalters durch den allgemeinen Wohlstand führt zu der gerne als Vergreisung beschriebenen Deformation der Bevölkerungsstruktur. Oft übersehen wir dabei die damit einhergehende Entstellung zum Beispiel der Mobilität, aber auch der Sinneswahrnehmungen. Das Straßenbild wird zunehmend von Rollator genannten Gehhilfen bestimmt, Krücken, Stöcke, Hörgeräte, Brillen und Prothesen gehören zum Standardequipment des modernen Menschen in den Industrienationen, besonders in Japan und Deutschland. Dagegen ist in einem bitterarmen Land wie Niger die quicklebendige Hälfte der Menschen jünger als fünfzehn Jahre. Das Dilemma des Alterns ist die Wandel der körperlichen Gestalt und Funktion bei gleichzeitiger geistiger Wahrnehmung und Gestaltungskraft. Der Kern des Menschen, sein Wesen, seine Psyche bleibt unverändert, unbenommen. Das zeigt der zum Käfer geronnene Gregor Samsa aus Abteilungsdirektor Dr. Franz Kafkas heilloser fantasy. Die Idee der Entstellung als Folge der Entfremdung, als Ausdruck des Widerstands nach der Unterwerfung, der Freiheit also nach der Sklaverei der Arbeit, führte zu einem neuen Verhältnis von Kunst und Wirklichkeit, das von Kafka vielleicht erahnt oder erhofft und in der 'Verwandlung' versucht wurde.

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Kafka ging gerne ins Kino. Das Kino war mit der Schallplatte, dicht gefolgt vom Radio und Fernsehen, der zweite Schritt der Reproduktionsfähigkeit von Information und Kunst. Weder Hegel noch Kafka konnten das erzählende (narrative) Zeitalter voraussehen, ihre Vorahnungen waren aber höchst erstaunlich. Tatsächlich gibt es eine bemerkenswerte Differenz zwischen der Realität und der Vorstellung. Kinder leben in einer parallelen Spielwelt, aber das Theater gibt es auch schon seit altersher. Nachahmung ist das Gegenstück von Seelenreinigung****, wie die Klageweiber des Orients die Umkehr und die Mütter seiner Helden sind. Der Hass über den autoritären Lehrer entlädt sich am besten in seiner Parodie. Die Tragödie beschrieb schon Nietzsche als einen Zwilling der Musik als Bewusstseinserweiterung. Aber auch Drogen erzeugen parallele Inhalte, Vergrößerungen, Minimierungen, Mobilisierungen, Omnipotenzierungen der phantastischsten Art. Die Flugfähigkeit des Menschen, auch sie eine der antiken Ursagen, nämlich Ikarus und sein Erfinder und Vater Daidalos, der auch das Labyrinth und seine Lösung fand, den roten Faden, wurde noch im sechzehnten Jahrhundert im Bereich der Magie gesehen, so dass der vermutlich erste Mensch, der mehr als wenige Meter flog, Ahmed Celebi, zunächst kurz gefeiert, dann aber verbannt wurde. Im Verbannungsort, der maghrebinischen Wüste, starb er dreißigjährig und allein.

Zunächst erscheint es so, als ob all die Technik der Informations- und Kunstreproduktion die Entfremdung vertiefen oder ein neue Entfremdung erzeugen würde. Millionen tief in ihre Geräte versenkter Jugendlicher lassen uns glauben, dass sie für die Realität verloren sind. Auch die parallel entstandene HipHopKunst handelt von der Flucht aus der Welt, wie schon vor ihr die Romantik oder das Barock. Statt also ein apokalyptisches Verschwinden zeigt die Gegenwart vielmehr ein katalytisches Verwandeln, einerseits zyklisch, andererseits progressiv. Dass der Bruch mit der Vergangenheit diesmal tief und vor allem schnell sei, daran hegt niemand Zweifel, nur das heißt bei weitem nicht, dass er auch zerstörend oder gar endgültig sei.

Das Reich der Vorstellungen ist technisch so radikal revolutioniert, dass auch der Inhalt sich zu verwandeln beginnt. Was mit Edgar Allan Poe und Jules Verne als science fiction begann, hat eine ganze fantasy-Industrie hervorgebracht, einen Komplex aus Filmen, Spielen, Musikproduktionen, Verbundnetzen, die thematisch festgelegt oder generalisiert sind. Zwar bleibt es eine Illusion, dass man zum Beispiel bei facebook mit mehr als zwei Milliarden Menschen kommuniziert, davon abgesehen, dass es nach wie vor keine Botschaft für sie gäbe, aber die Illusion hat die Möglichkeit an die Seite bekommen und das Minimalmodell: mit den uns bekannten Menschen können wir über Raum und Zeitgrenzen hinweg kommunizieren. Das hilft nicht nur bei der Bewältigung der komplexen Realität, sondern erweitert auch fortlaufend die Vorstellung. Der heutige Mensch muss sich nicht in einen Käfer verwandeln, er kann sich selber zu jeder Zeit und überall jede nur vorstellbare Gestalt geben, ohne entstellt zu werden. Seine Vorstellungskraft wächst mit der Zahl seiner Verwandlungen.

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Es gibt auch immer die Angst, all das Neue könnte die Intimität zum Beispiel der Familie oder der Liebe zerstören, eine solche produktive Gedankenbrutstätte wie das Hölterleinzimmer würde es gar nicht mehr geben. Das Gegenteil scheint wirklicher zu sein: das Ende des achtzehnten und der Beginn der neunzehnten Jahrhunderts war für Jugendliche die Hölle. Man glaubte, dass man den Kindern das Gute und das Wissen einbläuen könnte, mit dem Stock das verstärken, was der Geist nicht vorstellen konnte. Das Böse erzeugt immer nur das Böse, aber das Gute erzeugt eben auch das Gute. Das wissen wir erst seit der Zeit nach dem zweiten Weltkrieg dank der Geistesriesen Albert Schweitzer, Mahatma Gandhi, Martin Luther King und John Lennon, die übrigens Menschen waren. Dass drei von ihnen von ihren Gegnern erschossen wurden, bestätigt das bittere Faustwort, dass, wer etwas davon erkannt, seit je gekreuzigt und verbrannt wurde. Es gibt immer auch die Angst. Natürlich steht auch Goethe mit seinem vielzitierten Faust in der Ahnenreihe des narrativen Zeitalters. Das Silicon Valley ist sechshundert Kilometer von der alten Traumfabrik Hollywood entfernt, aber direkt aus ihr geboren. Das Silizium, der elementare Grundbaustein des Computers, ist das Gegenteil von dem alten verhängnisvollen Silentium (SCHWEIGE!!!), das Generationen disziplinieren sollte. Der alte Traum, den Staat, den man einerseits als Strukturfaktor braucht, der sich aber immer, auch in seiner bürokratischsten Form, der Demokratie, verselbstständigt und zur Ordnungsmacht wird, der in so vielen Utopien - Nirgendwoen - zerstört wurde, um sich immer wieder zu erheben, scheint erst im berühmten Tal von San Francisco sein wohlverdientes Grab zu finden. Fast unbemerkt hat sich die Romantik (= 'die Welt poetisieren!';) verwirklicht und Besitz von den meisten Menschen ergriffen. Selbst im ärmsten Land Afrikas, in Niger, kann man sich fast leichter eine Geschichte beschaffen als eine warme Mahlzeit. Die Vorstellung wurde revolutioniert, und das ist wohl nach der Freiheits-, Gleichheits- und Brüderlichkeitsrevolution die größte und noch größere. Es ist wunderbar - im wahrsten Sinne des Wortes -, dass das Denken nach dem Fliegen die größte Errungenschaft und das schönste Vergnügen, die beste Verwandlung und tiefste Revolution der Menschheit geworden ist. Was zählt, ist das Erzählte, nicht die Zahl.

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So wie die Romantik der Reflex und die Abwehr der Industrialisierung und Säkularisierung war, eine Anti-Technik-Bewegung, die mit dem Gedicht gegen die Lokomotive vorging, eine Flucht in den Traum, so ist vielleicht das Heraufbeschwören des Nationalismus oder auch nur der Nation der letzte Reflex des bedrängten Menschen, der seine letzte Identität schwinden sieht, die seiner nationalen Herkunft.

Wahrscheinlicher ist hingegen, dass der Mensch, so wie bei Kafka vorausgeahnt, zu Verwandlungen fähig ist, die sich in den großen Erzählungen, inzwischen meist Filmen oder Spielen, spiegeln. Und wer Herr über alle Geschichten wird, muss und wird nicht mehr schweigen. Neben die Inflation des Geldes und der Dinge tritt die Inflation des Wortes, auch des Schimpfwortes. Aber man darf sich nicht täuschen: Was zählt, ist das Erzählte. Geschichten machen nicht satt, aber besser. Satter als satt kann man nicht sein, aber besser als gut.

*SCHELLING, Vorlesungen über die Methode des akademischen Studiums

**HÖLDERLIN, Hyperion

***HEGEL an Niethammer 28.10.1808

****Mimesis ist das Komplement der Katharsis.

Anmerkung: Wegen der Osterferien ist das ein Doppeltext für zwei Sonntage.

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Peter Fuchs

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