DIE EINEN KENNEN DIE ZUKUNFT, DIE ANDEREN DIE VERGANGENHEIT

In diesen Tagen hat man den Eindruck, sich argumentativ im Kreise zu drehen. Wir haben jahrelang die Leere, den Mangel an Innovation, die Talent- und Tatenlosigkeit, den politischen Unwillen und den Reformstau beklagt. Wir sprachen schon von einer überangepassten Generation ohne jeden Widerstandswillen. Solche Beschimpfungen sind ohnehin meist Verklärung der eigenen Jugend. Jeder findet sich richtig.

Nun ist aber die Veränderung eingetreten. Der ängstliche Rand der Gesellschaft verkriecht sich in archaische Verhaltensmuster: es wurden bisher 1000 Flüchtlingsheime angezündet, zum Glück ohne ernsthafte Opfer. Das ist der rechte Rand der Gesellschaft. Er will, dass Deutschland so bleibt, wie es einmal war. Wir wissen, dass das nicht geht. Die umwerfendsten Veränderungen treten ein, wenn man die Rechten gewähren lässt. Dann bricht das ganze Land, samt Staat, Moral und Ordnung zusammen. Lässt man dagegen die Linken gewähren, mangelt es bald am notwendigsten. Im letzten Spiegel schreibt ein prominenter Linker, dass nicht ernstzunehmen sei, wer nicht 140 Zeichen weit denken könne: zur Abschaffung des Kapitalismus. Er könne es. Aber wir wissen, wohin es führt. Petry, die rechte Galionsfigur, fordert schon Mauern, Waffengewalt und Homogenität. Der rechte Rand reicht weit, manche haben Angst und glauben, dass es europaweit zu einer Rückkehr der rechten Gewaltherrschaft kommen könnte. Das kann niemand ausschließen, die Wahrscheinlichkeit ist aber nicht sehr hoch.

Im FAZ blog stand kürzlich ein langer Artikel voller Einzelheiten von einem und über einen alten Mann, der nachts in seiner Sparkasse keinen höheren Geldbetrag zur Bezahlung eines Gemäldes und für eine Urlaubsreise abholen konnte, weil dort vier schwarzhaarige Fremde frech grinsend herum lungerten. Das ist in der Tat unangenehm. Wer hätte die Situation an seiner Stelle ignorieren können? Das Deutschland, aus dem er käme, argumentierte er, kannte so etwas nicht. Nein, in dem Deutschland, aus dem er kommt, konnte man nachts keine Geldbeträge abholen. Ein Nazi war Ministerpräsident eines Bundeslandes und bis in die 80er Jahre war es gang und gäbe, Kinder und Jugendliche so lange zu schlagen, bis die Putzfrau das Blut aufwischen musste. Im anderen Teil Deutschlands kam die renitente Jugend in Jugendwerkhöfe, wurde von der weiteren Bildung ausgeschlossen oder an der vermauerten Grenze erschossen. In meiner Jugend hatten die Alten Angst vor den Jugendlichen, die mit Kofferradio am Bahnhof standen, lange Haare hatten und Elvis Presley und dann Beatles und Rolling Stones hörten. Das Schreckgespenst waren damals die langen, heute sind es die schwarzen Haare. Genauso unredlich ist es, wenn man Ursache und Wirkung in ihrer Reihenfolge umdreht. Jeder weiß, dass die Bundeskanzlerin ihren berühmten menschenfreundlichen Satz erst sagte, als schon über eine halbe Million Flüchtlinge in Deutschland waren. Warum muss man also immer wieder so tun, als hätte Angela Merkel die Menschen in Syrien und Eritrea, im Irak und in Afghanistan erst eingeladen und dann wären sie gekommen. Es ist noch unredlicher, jetzt plötzlich die offenen Grenzen zu beklagen, die erfreulicherweise sowohl durch konservative als auch sozialdemokratische Regierungen Europas nach und nach geöffnet wurden, was besonders diejenigen zu schätzen wissen, die früher selbst eingemauert waren. Grenzen und Mauern, Schießbefehle und Verfolgungsjagden scheitern und müssen scheitern, auch wenn sie sich selbst durch Teilerfolge zu beschwichtigen suchen. Die Flüchtlingskrise ist seit zehn Jahren vorausgesagt worden, allerdings blieben die Bücher der Demografen weitgehend unbeachtet. Die Flüchtlingskrise ist weder durch die einladenden Worte der deutschen Kanzlerin noch durch ein zu lasches Grenzregime ausgelöst worden, sondern durch Pest, Krieg und Hunger. Kennedy wusste es in seiner berühmten Antrittsrede noch, seither scheint es vergessen.

Nun ausgerechnet den Kapitalismus abschaffen zu wollen, der übrigens eine Wirtschaftsordnung und keine Person ist, der bei allen Kriegen, Widersprüchen und fortgeschriebenen Ungerechtigkeiten durch seine industrielle Massenproduktion den Hunger von 90% der Bevölkerung auf unter ein Siebtel, also etwa 14% gedrückt hat. Die Menge der Lebensmittel ist durch den Kapitalismus schneller gewachsen als die Menge der Menschen, die sich allein im zwanzigsten Jahrhundert zweimal verdoppelt hat: von zwei auf vier, dann von drei auf sechs Milliarden.

Keinesfalls besteht der Kapitalismus nur aus dem Streben nach Maximalprofit. Wir wissen und ignorieren es alle: er besteht auch aus dem Streben nach Maximalkonsum. Und um dieses beides zu bedienen, gibt es eine im Norden weitgehend automatisierte und rechnergesteuerte, im Süden auf Hand- und Kinderarbeit beruhende Produktion, deren Produkte billig sind, aber deren Preis hoch ist. Würden wir die heute noch bestehenden Konsumtionsprobleme mit der Enteignung der Reichen lösen wollen, so wäre das erstens einmalig und zweitens würden die anderen beiden Probleme, Krieg und Pest, fortbestehen. In einem Punkt scheinen sich aber alle Linken, Grünen, Christen, Buddhisten einig zu sein: wir müssen sofort aufhören Waffen zu produzieren. Es wäre dies ein genauso traumatisch erlebter Einschnitt wie die Öffnung der Grenzen. Die Angst vor neuen Problemen darf uns nicht hindern, alte Probleme zu lösen. Wir brauchen kolumbianischen Mut, aber mit aufgeklärter Moral. Viele Flüchtlinge scheinen den zu haben.

Stellen wir uns einmal vor, wir müssten oder wollten nach Eritrea flüchten. Wir können die Sprache nicht, die meisten wissen noch nicht einmal, welche Sprache man dort spricht. Wir kennen das politische System, die Religionen, die Kultur, das Essen, das Wasser nicht. Man kann im Internet oder im Fernsehen mehr über Deutschland erfahren als über Eritrea, sicher, das ist ein Unterschied, aber das emotionale Empfinden, das Urvertrauen, das von einem Land ausgeht, das wird genau so weitergegeben wie zu Zeiten des Alten Testaments: von Mund zu Mund (wenn auch ein Smartphone dazwischen geschaltet ist). So gesehen ist die Flüchtlingskrise eine Bestätigung für den guten Ruf Europas und des Kapitalismus: hier liegt die Hoffnung, nicht in deren Abschaffung. Wir müssen uns gegenseitig Mut machen, statt die Mutmacher fortwährend zu verunglimpfen. Keiner kennt die Vergangenheit oder die Zukunft. Obwohl wir alle einen Rechner haben: alles lässt sich nicht berechnen. Zum Leben gehören immer auch Mut, Vertrauen, Glauben und Wissen.

1 Der Kapitalismus ist kein Wolf, sondern wir.

Der Wolf ist kein Untier, sondern der Vorhund.

2 Der Kapitalismus hat zwei böse Seiten:

Maximalprofit und Maximalkonsum.

3 Früher war alles schlechter. Alles.

4 Das Hauptproblem der Menschen sind ihre Waffen.

5 Bildung ist die einzige Lösung aller Probleme.

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