Der erbitterte Widerstand gegen Angela Merkel ist auch ein Restvorurteil gegen Frauen. Frauen hatten bis 1918 in Deutschland kein Wahlrecht und kein Recht, ein Konto zu eröffnen, selbst dann nicht, wenn sie eine beträchtliche Summe geerbt hatten, weil die herrschende Meinung den Frauen nicht das Recht absprach, aus Gehässigkeit, aus Machtwillen, aus Demagogie, sondern die Fähigkeit. Man war vor 1918 der festen Überzeugung, dass Frauen und Schwarze über andere, nämlich geringere geistige Fähigkeiten verfügten als Männer.

Diese Erkenntnis kam daher, dass es offensichtlich keine Frauen in führenden Positionen gab, keine Dichterinnen, Wissenschaftlerinnen, Politikerinnen. Selbst den Ausnahmen unterstellte man Hilfebedürftigkeit. Maria Theresia regierte nur deshalb so erfolgreich, weil ihr nach außen erst ihr Mann und dann ihr Sohn zur Seite gestellt war, so dass damalige Frauenfeinde die österreichische Politik genau andersherum sehen konnten. Nicht die Vergangenheit war besser, sondern die mangelnde Erkenntnis war einfacher. Früher stimmte die Welt noch, ist der Satz, den man genauso oft hören kann wie: früher war alles besser. Wenn nur alte, weiße, blöde Männer zur Regierung taugen, dann ist nicht die Regierung besser, sondern die Erkenntnis der Fehler und Richtungsweisungen leichter. In den Vereinigten Staaten von Amerika spielt sich gerade eine solche Erkenntnistragödie ab. Die Botschaft, es sei doch alles ganz einfach, den Terror beendet man mit Einreiseverboten, mangelnde Wirtschaftskraft mit Protektionismus und das ewige Zaudern schwarzer, weiblicher, liberaler und junger Menschen mit Aktionismus.

Jedoch weiß jeder Mensch: Aktionismus ist blind, weil er wütend wird. Und Wut ist nicht das Gegenteil von Zaudern. Demokratie ist auch nicht zaudern, sondern abwägen, überlegen, erörtern.

Die großen autokratischen Regierungen des neunzehnten Jahrhunderts, die meist auch gleichzeitig monarchisch waren, wurden durch die Abschaffung der einfachen, dichotomischen Sichten ausgehöhlt. Erst nach dem Sturz des Kommunismus 1989 wurde den meisten Menschen klar, dass die große politische Differenz nicht zwischen links und rechts bestand, sondern zwischen autoritär, was zeitweilig auch totalitär genannt wurde, und liberal. Allerdings sind sowohl Freiheit als auch Ordnung als Leitbilder menschlichen Zusammenlebens notwendig. Während aber die Freiheit das wichtigste Ideal und Ziel der Menschen ist, kann die Ordnung immer nur ein begrenztes notwendiges Übel sein.

Natürlich hatte Rousseau recht, wenn er schrieb, dass die rechtliche Definition des Raumes oder des Besitzes der Beginn der Gesellschaft ist, weil sie den ersten Vertrag darstellt. Aber auf Rousseau können sich die Ordnungshüter gerade nicht berufen. Er ist ihnen zum Glück verdächtig. Alle Versuche, den Besitz in Gemeineigentum zu überführen sind dann gescheitert, wenn dies als die neue Ordnung ausgegeben wurde. Allerdings gibt es berühmte Ausnahmen, wie die Allmende, die gemeinsame Weide. Aber es gibt, als Gegenargument, auch das Allmendedilemma, das schädliche Suchen nach dem eigenen Vorteil zulasten der anderen. Man kann es gut mit einem schönen, leider wahren Satz von Goethe aus den ‚Maximen und Reflexionen‘ umschreiben: ‚So eigenartig widersprechend ist der Mensch: zu seinem Vorteil will er keine Nötigung, zu seinem Schaden leidet er jeden Zwang.‘[163]

Vielmehr ist die Lösung der Ungerechtigkeit unter uns Menschen in Bildung und allgemeinem Wohlstand zu finden. Das sind beides langwierige, letztlich nur demokratisch zu erlangende Eigenschaften. Die soziale Durchlässigkeit, sozusagen die Abschaffung der Klassen, ist eine große Errungenschaft, aber sie geht einher mit dem Verlust der elitären, apriorischen Eigenschaften einer vorbestimmten Führung. Wenn jeder und jede nach oben gelangen kann, dann fehlt es, dem Anschein nach, an wirklicher Führung. Deshalb wird von sozialrevolutionärer Seite immer wieder das Auseinanderklaffen von arm und reich betont, das es auch tatsächlich gibt. Allerdings lebt ein Prozent unserer Bevölkerung in märchenhaftem Reichtum, ein Prozent lebt in bitterer, unwürdiger, meist auch unnötiger Armut.

Aber dazwischen ist die eigentliche Errungenschaft der Industriegesellschaft: achtundneunzigprozentiger allerdings1 abgestufter Wohlstand. Allerdings2 ist die Befreiung vom Hunger nicht identisch mit dem Erreichen einer Zufriedenheit. Allerdings3 ist allgemeiner Wohlstand nicht Problemlosigkeit. Allerdings4 schaffen weder Wohlstand noch Demokratie den ständigen Widerspruch zwischen Evidenz und Tatsache aus der Welt. Der neue informationelle Zustand scheint dabei sogar eher kontraproduktiv zu sein. Aber auch er ist nicht abschaffbar. Informationelle Isolation ist heute weniger denn je möglich, wünschenswert ist sie ja ohnehin nicht. Nordkorea wird an der einfachen, durch Internet und Fernsehen verbreiteten Tatsache zugrunde gehen, dass Südkorea gar nicht arm ist, obwohl es nach der Logik der Herrscherdynastie arm sein müsste.

Obwohl Autokraten immer mit der Evidenz spielen, um es harmlos zu sagen, sind sie doch immer wieder erfolgreich. Nach einer langen Periode der Liberalität, der Demokratie und auch des Wohlstands sehnen sich mehr Menschen nach autokratischen Verhältnissen, in denen sozusagen die Welt noch stimmt: Mann noch Mann ist und Frau Frau, in denen Männer herrschen und Waffen das Sagen haben, in denen schwarz und weiß deutlich unterscheidbar sind, der Feind außen ist, der Freund innen. Ob Hitler, Honecker oder Höcke glauben, was sie schreien, wissen wir nicht. Es ist aber auch nicht sehr wichtig.

Innenpolitisch machen wir gerne den Wandel zur Demokratie am Jahr 1968 fest. Die Spiegelaffäre war überstanden, Brandt wurde Kanzler und kniete in Warschau, die linken Studenten mutierten von niederzuknüppelnden Staatsfeinden zur Elite. Aber es wird vergessen, dass noch zehn Jahre lang in Baden-Württemberg Filbinger regierte und der CDU die höchsten jemals erreichten Wahlergebnisse einfuhr. Filbinger kämpfte nicht nur gegen linke importierte Studenten, sondern auch gegen einheimische Bauern, die den Rhein für wichtiger erachteten als Atomkraftwerke. Und Filbinger reagierte und regierte nicht nur mit Wasserwerfern, sondern auch mit der Untergangslüge, die gerade wieder modern wird: wenn wir das Atomkraftwerk Wyhl nicht bauen, wird es in zehn Jahren hier dunkel sein. Wenn wir Europa und Amerika nicht zumauern, wird das Abendland untergehen.

Evidenz ist oft nicht Erkenntnis, sondern dummer Spruch. Erkenntnis ist so schwer wie Wohlstand und Demokratie. Das dauert.

In seinem zweitberühmtesten Zitat beklagt Hamlet nicht, dass die Welt aus den Fugen, dass etwas faul im Staate, sondern dass ausgerechnet er, der Zauderer und Prokrastinierer, berufen sei, sie einzurichten. Dass wir uns berufen fühlen, Schicksalsschläge hinzunehmen, besonders hartes Leid zu tragen oder die Welt zu verbessern, ist doch auch nur eine Frage der Projektion, nicht des Projekts. Die meisten Menschen folgen ohnehin nur der Musik, befolgen Befehle und folgen damit ihrer eigenen Vergangenheit, unabhängig davon, ob sie erfolgreich war. Gruppe scheint ihnen wichtiger als Erfolg.

Pixabay/Diana Kuehn

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