Sollte Merkel die laufende Legislatur nicht überstehen, so werden ihre Kritiker sagen, dass sie an ihren Fehlern scheiterte. Ihre Befürworter aber können triumphieren: ein solch langes Scheitern hat es in der deutschen Politik noch nie gegeben. Möglicherweise erhält sie sogar eine eigene Kategorie (wie Quislinge, Gaullismus, Reagonomics, Thatcherismus): Merkelismus. Darunter würde man eine autokratische Herrschaft verstehen, die die Demokratie nicht beschädigt.

Die meisten Autokraten können und wollen mit Demokratie nichts anfangen, weil sie glauben oder glauben wollen, dass jede Mitsprache zu Mitbestimmung und damit zu Schwächung führt. Oppositionspolitiker, Journalisten, dann Generäle und Richter werden entlassen, eingesperrt oder gleich erschossen. Die nächste Stufe ist ihre Diskreditierung als Agenten eines feindlichen Systems. Und schließlich wird die Demokratie selbst als unfähig und schädlich für das Volk denunziert, welches diesen einen wunderbaren Führer verdient hat, wenn es ihm folgt. Das Volk ist immer, wer folgt. Jeder, der eine Gesellschaft auch nur einigermaßen nüchtern betrachtet, sieht, dass es Volk immer nur als definierte Menge geben kann, zum Beispiel als Staatsvolk, nie aber als ein undefinierter und undifferenzierter Brei von Menschen, die ihre Interessen aufgeben. Wer glaubt, dies träfe nur auf afrikanische oder lateinamerikanische Gesellschaften zu, fahre nach Belgien. Andersherum gesagt: es gibt deshalb verschiedene Politiker und Politikansätze, weil es Menschen mit verschiedenen, aber jeweils legitimen Interessen gibt. Die pluralistische Gesellschaft ist keine Gnade, die von oben gewährt wird, sondern Basisdemokratie, von unten gewachsene Vielfalt. Das Erschrecken über den von den Rechten so genannten Genderwahn ist die Ablehnung des Pluralismus. Sie glauben, Pluralismus sei gemacht, um die alte Ordnung zu stürzen. Unterdrückung ist Chaos, nicht Ordnung.

Jedem, der die Welt betrachtet, könnte klar sein: in den meisten Ländern geht es demokratisch zu, allerdings in verschiedenen Graden, Abstufungen oder sogar Arten. Die USA, eines der ältesten demokratischen Länder, haben die meisten Strafgefangenen und die meisten Opfer von Mord und Totschlag. Deutschland und Japan sind das ziemliche Gegenteil davon, unterscheiden sich aber deutlich im Arbeits- und Sozialsystem. Skandinavien ist die Musterschülergegend. Dass aber auch die Diktaturen und Autokratien divers auftreten, wird wohl erst jetzt richtig deutlich. Solange wir vor allem über Hitler, Stalin und Mao Tse Tung geredet haben, erschien Diktatur eineindeutig. Aber schon Piłsudski und Petain waren eine kategoriale Herausforderung. Putin, Erdoğan und Rodrigo Duterte stellen uns vor interpretative, aber sogar auch wirtschaftliche Schwierigkeiten, von den König Salman, einschließlich Kronprinz Mohammed, und Reformkönig Mohammed VI. ganz zu schweigen.

Am äußersten Rand der Demokratie, da wo sie in die Unbeweglichkeit übergeht, herrscht der Merkelismus.

Alle drei größeren CDU-Kanzler, Adenauer, Kohl und Merkel, hatten Rudimente des Autoritarismus in ihrer Amtszeit. Adenauer, dessen politische Begriffe aus dem neunzehnten Jahrhundert stammten, in dem er sein Studium und sein Referendariat abschloss, hatte kein Problem mit den Nazis Globke und Gehlen oder der Schließung der SPIEGEL-Redaktion. Zu seiner Entlastung muss man sagen, dass er seiner ersten Wahl 73 und bei seinem Rücktritt bereits 87 Jahre alt war. Kohl, von dem der schöne Brauch und auch das Wort 'Aussitzen' stammt, was auch nicht gerade der Inbegriff demokratischen Handelns ist, erwies sich zum Schluss als Inhaber völlig veralteter und undemokratischer Moralbegriffe. Sein 'Ehrenwort' in der Spendenaffäre galt ihm mehr als der Rechtsstaat und dessen politische Würde. Er war zur Karikatur seiner selbst geworden.

Merkel stammt aus der DDR, was mit ihrem Demokratieverständnis insofern nichts zu tun hat, als sie erst 1989 und eher zufällig in eine politische Laufbahn geriet. Darüber hinaus ist es völlig albern, ihr ihre Tätigkeit, wenn es überhaupt eine war, in der FDJ vorzuwerfen. Das waren formale Funktionen, die fast jeder Mensch in der DDR einmal kurz innehatte. Ihre Gegner wollen ihr etwas vorwerfen, wissen aber nicht, was. Denn eigentlich verkörpert Merkel den Typ Politiker, den auch sie bewundern, dessen Autorität nicht aus dem Charisma, sondern aus dem Autoritarismus stammt.

Seit wann wurde Merkel als bedeutende Politikerin wahrgenommen? Seit der Finanzkrise mit der Bankenrettung und der Griechenlandkrise mit den Bürgschaften und der schleichenden Übernahme der griechischen Wirtschaft. Viele Menschen haben aber nicht das autoritäre an diesem neuen Agieren bemerkt, sondern das angeblich oder tatsächlich geflossene Geld. Die meisten Menschen haben keine Ahnung von Geld. Das ist auch nicht schlimm, weil sich niemand (niemand!) eine oder gar dreikommaneunacht Billionen Euro vorstellen können. Mit der Zahl Tausend hört unser Vorstellungsvermögen normalerweise auf. Das Wort Bankenrettung ist heute noch ein Pejorativ. Noch plastischer war ihr neuer Regierungsstil bei der Abschaffung (offiziell: Aussetzung) der Wehrpflicht zu beobachten. Während die CDU jahrelang die Wehrpflicht zu einer heiligen und nationalen Mission erklärt hatte, erschien es so, als ob der steinreiche und hochadlige Verteidigungsminister Reichsfreiherr von und zu Guttenberg im Alleingang diese dringend notwendige Modernisierung vorgenommen hätte. Dass er dann über seine wahrscheinlich gekaufte Dissertation, die er nicht nur nicht geschrieben, sondern auch nicht gelesen hatte, stolperte, bestätigt nur, dass Merkel damals schon bereit war, für den neuen Politikertyp (Macron, Kurz, Lindner, Kühnert, Trudeau) Platz zu machen, gleichgültig ob mit oder ohne Doktortitel. Fast noch deutlicher war die Wende in der Kernkaftwerkspolitik. Auch hier verharrte die CDU Jahrzehnte auf einem völlig überholten und schädlichen Standpunkt, da wir weder die Risiken der Atomkraft einschätzen noch die Brennstäbe entsorgen können. Der Tsunami, der das japanische Kraftwerk Fukushima hinwegfegte und unermessliches Leid brachte, drehte auch die Kanzlerin um hundertundachtzig Grad, ohne jemanden oder gar ein Gremium zu befragen.

Europa und Deutschland wurden schließlich gespalten durch ihren zum soundbite* verkommenen Satz aus der Bundespressekonferenz vom 31.August 2015: Deutschland ist ein starkes Land. Das Motiv, mit dem wir an diese Dinge herangehen, muss sein: Wir haben so vieles geschafft – wir schaffen das! Statt dessen wird der stark verkürzte Satz heute eher als ein Befehl einer überdrehten Kanzlerin zitiert: Wir schaffen das, wir haben das zu schaffen, wenn ich das will. Gerade ihre erbitterten Gegner im rechten Lager, denen die Art gefallen müsste, hören sozusagen das Gegenteil. Wenn Gauland als Bundeskanzler rufen würde: Wir schaffen das nicht, schließt die Grenzen!, würden sie jubeln. Aber was wäre das für ein Land? Dann wäre Deutschland ein schwaches Land, das in einer Krise paranoid reagiert, dessen Autoritarismus dann tatsächlich Befehlscharakter hätte. Denn, erinnern wir uns an den Spätsommer 2015, als die Kanzlerin uns ermutigen wollte und als Millionen Menschen zu den Bahnhöfen und in die provisorischen Flüchtlingsheime strömten um zu helfen. Das war gemeint mit: Wir schaffen das!

Die Demokratie ist hingegen durch Merkel nicht angetastet worden. Fast könnte man sogar sagen, das Merkel-Paradoxon besteht darin, durch ihren autoritären, personalen Leitungsstil die Demokratie länger erhalten zu haben als das im Moment möglich ist. Allerdings erleben wir nicht das Ende der Demokratie, sondern eine Krise.

* ein anderer soundbite, nur wenige Meter von Merkels Satz entfernt gesprochen, war 'tear down this wall'. Reagan meinte am 12. Juni 1987 natürlich Mr. Gorbatchev, aber wenn wir heute die Welt meinen, wird der Satz nur noch richtiger.

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