Schon mehrmals habe ich hier einen Satz geschrieben, der auch falsch verstanden werden könnte. Wer viel schreibt, weiß, dass jeder Satz anders verstanden werden kann, als der Autor ihn gemeint hat. Wer einen Text liest, wird sein Autor, auch das stand schon mehrmals hier. Der Satz aber, den ich meine, lautet: Seit Heinrich Himmler deutscher Innenminister war, gibt es schwarze Deutsche. Der Satz ist nicht falsch und auch nicht unschön, weil er zwei Dinge zusammenbringt, die zunächst nicht zusammenzupassen scheinen. Aber man könnte ihn auch so verstehen, dass sein Autor etwas gegen schwarze Deutsche hat. So ist es aber nicht. Nicht jeder Satz ist eine Autobiografie, eher umgekehrt, jeder Satz wird Eigentum der Leser. Was der Satz immer sagen sollte und auch gesagt hat und auch heute noch sagen soll, ist, dass der Wächter über die so genannte ‚Rassenreinheit‘ selbst dafür gesorgt hat, dass wir heute wissen, dass es weder ‚Rasse‘ noch ‚Reinheit‘ gibt. Wenn man also ein Prinzip, noch dazu ein so falsches und widriges, auf die Spitze treibt, muss es zwangsläufig scheitern. Trotzdem fallen immer wieder Menschen auf Versuche herein, eine komplexe Sache einfach erklären und verändern zu wollen. Es ist immer wieder der unauflösbare Gegensatz zwischen Wahrheit und Evidenz, der uns die fata morgana der Trivialität vorspiegelt. Wahrheit wäre die völlige Übereinstimmung eines Dinges oder Vorgangs mit seiner Beschreibung. Die kann es also nicht geben, nur Näherungen. Deshalb flüchten wir uns gerne in die Evidenz, in den schönen Schein, es könnte so gewesen sein, und gerade das erscheint uns oft unbezweifelbar. Ein Sonderfall von Evidenz ist die Augenzeugenschaft. Viele glauben, etwas besonders gut zu verstehen, weil sie dabei gewesen sind.

Der Versuch also, das ohnehin schon konstruierte Deutschtum zu komprimieren und isolieren, bedeutete sein beschleunigtes Ende. Nation ist immer schon nur der Versuch gewesen, Nation zu sein. Und Deutschland hat diesen Prozess natürlich nicht in der Isolierzelle erlebt, obwohl es nach dem letzten Krieg dahinein gehört hätte, sondern im Verein mit anderen untergehenden Nationen: das britische Empire versank wie die Grande Nation, von Balzac mit seiner Figur grandeur et decadence vorausgesagt. Wir alle versuchen, Probleme aus unserem Hinterhof in einen anderen Hof zu verschieben. Das ist, nach meiner tiefen Überzeugung, auch der Grund dafür, dass ein menschenähnlicher Gott, obwohl er für so viele Menschen evident ist, arithmetisch nicht möglich ist. Zu viele sich widersprechende Bitten müsste er erfüllen oder versagen. Genauso kann man Probleme eben nicht verschieben. Ein schöner Sonntagsaufruf wäre es zu sagen: Dann lasst sie uns doch gemeinsam lösen…Das ist merkwürdigerweise immer nur als Ausnahme möglich. Allzu schnell verfallen wir wieder in unser Hinterhofdenken.

Der letzte Krieg hatte als eines seiner Nebenziele die Zementierung des patrialinearen Weltbildes. Das Mutterverdienstkreuz gab es für einen biologischen Akt, nicht für eine Innovation oder einen Gedanken. Die Geburtenrate hat sich dadurch nicht signifikant geändert, wohl aber das Bild und Selbstbild der Frau. Denn obwohl sie Kinder bekommen sollten und obwohl mehrere Millionen Kriegsgefangene dafür ebenfalls eingesetzt wurden, mussten sie – wie schon im ersten Weltkrieg – in der Rüstungsproduktion arbeiten. Nach dem Krieg haben sie nicht nur die Trümmer weggeräumt, sondern auch die Kinder allein erzogen und wahrscheinlich ganz pragmatisch auf eine Reihe von bis dahin für unverzichtbar gehaltene Prinzipien verzichtet. Die aggressive Verteidigung der Männerherrschaft hat ihr Ende beschleunigt. Allerdings hat die Verwirklichung der manchmal Gleichberechtigung, manchmal Emanzipation genannten neuen Stellung der Frauen lange gedauert und dauert noch an. Anders als bei der Nation war vielen unserer Vorfahren vorher nicht klar, dass es zwischen Frauen und Männern mehr Schnittmengen gibt als es vorstellbar war. Das binäre Geschlechtssystem schien zu felsenfest und zu ewig zu sein, als dass man es sich wankend und erodierend vorstellen konnte. Wir dürfen nicht vergessen, dass die heutige Diskussion um die marginale Frage des Transgender nur eine Projektion der tatsächlichen und großen Probleme ist. Nicht gelöst ist die work-life-balance, wenn man Kinder hat, keine Vision leitet die Vaterrolle, noch nicht einmal die gerechte gleiche Bezahlung von Frau und Mann ist angedacht. Auch Quoten sind immer nur eine Zwischenlösung, wenn überhaupt.

Obwohl fast übergangslos nach der Aufklärung die Romantik einsetzte und starke gegenläufige Impulse gegen die Industrialisierung, Urbanisierung und Verwissenschaftlichung des Lebens einbrachte, dauert der etwas sinnlose Kampf zwischen (Populär-)Wissenschaft und (Elitär-)Erzählung an. Es ist ein schon sprichwörtlich gewordener Vorwurf, dass sich die Aufklärung an die Stelle der alten Vormünder gesetzt hat. Der Glaube an wissenschaftliche Erkenntnisse und Halbwahrheiten und an die Zeitung hat den Glauben an die bis dahin einzig vorstellbare religiöse Welt abgelöst. Das ganze neunzehnte Jahrhundert über ist Europa im Aufbruch: Flucht und Migration, religiöse Atomisierung – ein Schisma jagt das nächste, und das nicht nur im Christentum -, Not und Verelendung werden dicht gefolgt und bald überholt von Hygiene und ausreichender Nahrung. Der Paukenschlag der Tamborakrise hatte auf der einen Seite biblische Ausmaße, auf der anderen Seite aber auch einen riesigen Innovationsschub vom Fahrrad über den Mineraldünger bis zum Suppenwürfel zur Folge.

Erst im neunzehnten Jahrhundert lernten die meisten Menschen in Europa lesen und schreiben, denn dazu braucht man nicht nur eine Schule, sondern auch Zeit, Lesestoff und Freiheit. Unbemerkt von der pseudoreligiös aufgefassten Wissenschaft und dem sich rasant entwickelnden Journalismus – beides hält auch bis heute an – hat sich die von den Romantikern ersehnte Erzählkultur verbreitet. Ironisch könnte man sogar sagen, dass nach der Religion und der Wissenschaft Grimms Märchen den Diskurs bestimmen, und Diskurs ist noch nicht einmal mehr das richtige Wort: es geht fast nur noch um Zuhören und Kopieren. Die Märchen hämmern auf allen Bildschirmen auf uns ein. Musik ist zur Hauptkommunikation geworden. Gleichzeitig wurde die Arbeit immer mehr entmenschlicht, was merkwürdigerweise Rationalisierung genannt wurde. Das ist insofern irreführend, indem zwar zur Erfindung der Maschine ratio gebraucht wurde, aber allen weiteren Prozessen wurde sie entzogen. Man könnte also auch gut sagen, dass die Rationalisierung zur einer Irrationalisierung führte. Wenn man weiter bedenkt, dass Rationalisierung auch immer nach einer Optimierung sucht, also einer Verbesserung ohne Verschlechterung, dann zeigt sich, dass der alte Egoistengrundsatz: not in my back yard nur fortwährend seine Grenzen nach außen verschiebt. Unsere Fabrik produziert kein CO², zahlt Tariflohn, hat einen Betriebsrat, aber unsere Seltenen Erden werden von Kindern in Afrika ausgebuddelt, unser Müll wird nach Indien und China exportiert und für Möbel-H***** wird der Amazonas- und indonesische Urwald gerodet.

Diese Irrationalisierung hat aber mehrere Seiten, deren eine nur der sinnlose Ticket- oder Pfandflaschenautomat ist, einschließlich der überall überflüssigen, aber alimentierten Arbeitskräfte. Die andere Seite ist die Unterhaltungsindustrie, über deren Megakitsch man lachen darf, deren geradezu omnipotenter Bildungseinfluss aber nicht unterschätzt werden darf. Zwar gibt es noch 800 Millionen Menschen, die hungern und Analphabeten sind, aber schon drei Milliarden Menschen haben ein Smartphone, was einen ungeheuren, noch vor wenigen Jahren nicht vorstellbaren Innovations- und Bildungsschub bedeutet. Je mehr Bildung wir haben werden, desto mehr werden wir auch unseren Hinterhof öffnen wollen.

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