WANN WIRD AUCH DER ZEITPUNKT KOMMEN, WO ES NUR MENSCHEN GEBEN WIRD?

Beethoven an Struve 1795

‚Systemsprenger‘ ist ein äußerst expressiver Film aus dem Jahr 2019 von Nora Fingscheidt, der beim Deutschen Filmpreis in diesem Jahr zurecht acht Titel gewann. Der Titel mag nicht ganz glücklich gewählt sein, denn das delinquente Mädchen will auf keinen Fall das System sprengen, vielmehr kann sie sich nicht in das System einordnen, weil ihr von Anfang an ein Platz verwehrt war. Wir nehmen das Milieu und die Probleme, von denen der Film meisterhaft und ohne moralische Vorhaltungen erzählt, nur ungern zur Kenntnis. Es ist dem so genannten mainstream der Vorwurf zu machen, dass er am liebsten nur sich selbst mit fertigen Erklärungen zur Kenntnis nimmt. Wer wird schon gerne unterwandert?

Das Coronavirus brachte uns – der Welt, jedenfalls der Menschheit - eine echte Krise. Eine Krise kann auch immer ein Versagen der Regierung sein, aber hier kann man wahrscheinlich noch nicht einmal der chinesischen Regierung, die zu schelten sonst ein sehr dankbares Unterfangen ist, Vorwürfe machen. Schon dass es verschiedene Erklärungsmuster der Entstehung, wahrscheinlich eine Zoonose, gibt, zeigt unsere Hilflosigkeit.

Aber wie in der Menschheitskrise, die durch das Große Erdbeben von Lissabon 1755 ausgelöst wurde, helfen Schuldzuweisungen nicht weiter, und so ist diese Katastrophe nicht nur der Beginn der Aufklärung und Säkularisation, sondern auch der pragmatischen Regierungspolitik. ‚Begraben wir unsere Toten und bauen die Stadt neu auf‘, soll der Kanzler des portugiesischen Weltreichs damals gesagt haben. Und in Hannover fand der Philosoph Leibniz den Begriff der Theodizee. Aus der Tamborakrise ging nicht nur das Fahrrad hervor, sondern auch der allgemeine Gedanke der Substitution.

Es ist also möglich, dass sich aus der schnellen Abfolge mehrerer Krisen zu Beginn des 21. Jahrhunderts ein neues Weltgefüge ergibt, das auf Nachhaltigkeit, Regionalität, Ressourcenschonung und Transparenz, kurz auf Empathie statt Wachstum und Wachstumsemphase setzt. Die Zeit der Großmächte, der Kriege und des Waffenhandels und vielleicht sogar der Rivalitäten könnte von Regierungen beendet werden, wenn sie ihr schnelles, effektives und koordiniertes Handeln, das sie in der Krise hinzugewonnen haben, in der Zeit nach der Krise kreativ fortzuführen imstande sind.

Auch Ursachenforschung wird es nach der Krise geben, und sie wird vielleicht zu dem Ergebnis gelangen, dass der Klimawandel, die Flüchtlingskatastrophe und die Coronapandemie in engerem Zusammenhang stehen als wir bis jetzt vermuten können und wahrhaben wollen. Wir sehen Zusammenhänge nur schwer, weil wir die Weltgeschichte* als Fernsehserie erleben, Folge für Folge, und unsere Interpretation zwischen Eindämmung und Verdammung flattert.

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So kann es sein, so kann es kommen. Aber gerade in dem – historischen – Moment, in dem die Menschheit vor dem Spagat steht, handeln zu müssen, aber nicht zu wissen, wohin es geht, pochen manche Menschen auf verbriefte Rechte, auf Versammlungs- und Meinungsfreiheit. Auch ohne Krise weiß niemand, was morgen passiert, aber die Wahrscheinlichkeit, dass nichts Außergewöhnliches passiert, ist dann eben höher.

In Kriegs-, Krisen- und Pestzeiten ist dagegen die Wahrscheinlichkeit höher, dass das Ungewöhnliche, sogar das Systemsprengende passieren kann. Unsere Ahnen haben nach dem zweiten Weltkrieg immer ihre Verwunderung geäußert, dass ausgerechnet sie überlebt haben, die überlebenden Holocaustopfer haben sogar ihr Gewissen nie beruhigen können, dass sie, aber nicht ihre Eltern und Geschwister überlebt haben. Das Leben des Dichters Paul Celan ist vor fünfzig Jahren an diesem Dilemma zerbrochen.

Es ist unverantwortlich, im Moment der Krise Grundrechte oder überhaupt Mittel einzufordern, die die Krise nicht beenden können. Natürlich ist es das Recht der Linken, auch öffentlichkeitswirksam an ihrer Vision festzuhalten, aber ist es auch hilfreich? Die Grundrechte sind immer in Gefahr. Aber je demokratischer ein Gemeinwesen ist, desto mehr kann sich der Einzelne auf seinen Schutz verlassen. Im Moment gibt es lediglich eine Prioritätenverschiebung. Der Beitrag dieser Linken zur Fortentwicklung der Gesellschaft besteht also lediglich in der Selbstdarstellung. Vom Sprengen des Systems ist nichts zu sehen.

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Neben Bill Gates als dem Hauptverursacher sehen die Rechten auch den nun nächtlichen Austausch der autochthonen deutschen – in anderen Ländern der dortigen - Bevölkerung gegen die als Flüchtlinge getarnten und von den Regierungen jetzt nicht nur eingeladenen und geduldeten, sondern gezielt platzierten Muslime und Afrikaner. Es gab die Vermutungen, dass die Kirchen geschlossen sind, damit die Muslime die Ramadanbeschränkungen nicht als diskriminierend empfinden, das ist das Wiederaufleben der angeblichen Weihnachtsabschaffung. Plötzlich entdecken die Rechten ihre Liebe zur Kirche. Keiner von ihnen kommt auf die Idee, dass ein hygienisches Versammlungsverbot alle betreffen könnte?

Es ist zwar menschlich verständlich, Verursacher in Menschengestalt zu vermuten, aber es ist nicht besonders evident. Jeder weiß heute, dass der erste Weltkrieg mit einem Attentat begann, aber niemand glaubt, dass dieses Attentat, so erschütternd es auch aufgefasst worden sein mag, die Ursache des Krieges war. Wir sehen heute die beiden Weltkriege sogar als eine Einheit** mit ungeheuer komplexen Ursachen und Folgen an. Auch der Beitrag der Rechten zur Fortentwicklung der Gesellschaft besteht lediglich in Selbstdarstellung. Vom Sprengen des Systems ist nichts zu spüren.

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Manchmal legt eine Krise auch Tatsachen frei, die sonst eher verborgen bleiben. So haben sowohl islamistische Ayatollahs im Iran als auch die evangelikalen Haus- und Hassprediger des US-Präsidenten die Ursache der Pandemie in einer Strafe Gottes erkannt, die er den Menschen wegen der Homosexualität schickte. Der alttestamentarische Begriff der Gottesstrafe ist im Neuen Testament durch die Nächsten- und Feindesliebe mehr als aufgehoben. Yesus geht - im Gegensatz zu allen Fundamentalisten, die übrigens schon wieder Sündenerlasse verkaufen – von der Gleichartigkeit aller Menschen aus.

Die Vorstellung von Tat oder Untat und darauffolgender notwendiger Strafe ist - gelinde gesagt - mittelalterlich. Die gesamte moderne Welt hat ihren wirtschaftlichen und sozialen Erfolg gerade den Gedanken der Empathie und der Resozialisierung zu verdanken. Der von Generalfeldmarschall Graf von Schlieffen – angesichts des ersten Genozids der Neuzeit – ausgerufene Rassenkampf und der von Lenin kurze Zeit später als tödlich deklarierte Klassenkampf sind gescheiterte Ausläufer des Paradigmas von der angeblich nicht schädlichen Prügel.

Selbst das ewiggestrige und auch gerade genüsslich mit seinem Scheitern beschäftigte fundamentalistische System Saudi-Arabiens hat das Auspeitschen als Strafe abgeschafft. Vielleicht hören nun ihre Gegner, die Ayatollahs im Iran, auf, Homosexuelle an Baukränen aufzuhängen. Das ist alles Selbstdarstellung, die nicht nur kein System sprengt, sondern Menschen tötet, was allen Menschen nach allen Philosophien und Religionen verboten ist.

Die Coronakrise und ihre hoffentliche Bewältigung durch die Logistik der Eindämmung, auf die wir als Fernsehserienseher der Weltgeschichte so sehr hoffen, könnte als Wegweiser oder vielleicht sogar als Weg gedeutet werden, endlich alle Menschen nichts als Menschen sein zu lassen und zu behandeln. Das ist kein frommer Wunsch, noch nicht einmal eine Vision, das ist der einzige Sinn, den das Leben der Menschheit haben kann, wenn es überhaupt einen Sinn hat. Aber dafür spricht wenigstens Beethoven***.

*nach einer Idee von Egon Friedell, Kulturgeschichte der Neuzeit, 1927-1931

**nach Imanuel Geiss und Eric Hobesbowm

***als Metapher für alles Transzendentale: NO DEAL BUT IDEAL.

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