Hätte er nicht mehrere Hundert Tote gefordert, dieser "Putschversuch", man würde es als Posse ansehen, was da innerhalb von 12 Stunden in der Türkei abgelaufen ist: Erst Bilder von Soldaten und Panzern (wobei Habitus und Material eher an das erinnerte, was man aus den 70-er Jahren noch aus Südamerika gewahr hat), als Ergebnis ein triumphierender Erdogan im Fahnenmeer, der von den Seinen gefeiert wird.

Der Böse, der für all das verantwortlich gemacht wird, steht sofort fest: Gülen, der alles gesteuert haben soll aus dem fernen Pennsylvania. Der "Erzfeind" Erdogans, wie es dieser Tage wiederholt zu lesen ist. Die kritiklose Übernahme von Erdogans Diktion zeigt auch hier ein eher kurzes Gedächtnis derer, die dafür bezahlt werden, Journalismus mit Qualität zu liefern:

Die Herren Gülen und Erdogan sind tatsächlich alles andere als "Erzfeinde".

Getrennt marschieren, vereint schlagen

Sehr lange Jahre hat man zusammen Seit` an Seit` gekämpft für das gemeinsame Ziel, die Islamisierung der in ihrer Verfasstheit bis dato säkularen Türkei. Die inhaltlichen Differenzen zwischen beiden sind marginal. Eher ist es die Frage des "Wie", was beide unterscheidet: Die Gülen-Bewegung setzt auf das Mittel der "leisen" Veränderung der Gesellschaft von innen -- "Baut Schulen, keine Moscheen" -- und den Marsch ihrer Anhänger durch die Institutionen und in die Funktionen des Staates hinein.

Für Erdogan führt der Weg zur Macht über die Wahlurne, also Parteipolitik.

Politisch ist er der Ziehsohn Erbakans, dessen Versuch der Islamisierung der Türkei 1997 noch von den den Atatürk`schen Prinzipien verpflichteten Militärs im Nationalen Sicherheitsrat gestoppt wurde. Erbakan war Gründer der Bewegung Milli Görus -- "Nationale Sicht" -- und Autor des gleichnamigen Buchs, in dem er den Islam als den einzigen Ausweg für die Menschheit aus der Weltordnung der Ungerechtigkeit preist.

Und erlöse uns von dem Bösen...

Wer für diese Ungerechtigkeit verantwortlich zeichnet, ist kaum überraschend:

„Der Zionismus ist ein Glaube und eine Ideologie, dessen Zentrum sich bei den Banken der New Yorker Wallstreet befindet. Die Zionisten glauben, dass sie die tatsächlichen und auserwählten Diener Gottes sind. Ferner sind sie davon überzeugt, dass die anderen Menschen als ihre Sklaven geschaffen wurden. Sie gehen davon aus, dass es ihre Aufgabe ist, die Welt zu beherrschen. Sie verstehen die Ausbeutung der anderen Menschen als Teil ihrer Glaubenswelt. Die Zionisten haben den Imperialismus unter ihre Kontrolle gebracht, und beuten mittels der kapitalistischen Zinswirtschaft die gesamte Menschheit aus. Sie üben ihre Herrschaft mittels imperialistischer Staaten aus.“

Mili Görus hat Erbakan nicht etwa mit ins Grab genommen, sondern firmiert heute als "Moscheeverein" - "konservativ", "militant", "antidemokratisches Staatsverständnis", so die Einschätzung bundesdeutscher Sicherheitsorgane - der u.a. die Faith-Moschee in Bremen und die Mevlana-Moschee in Berlin betreibt.

"Die Demokratie ist nur der Zug, auf den wir aufspringen, bis wir am Ziel sind"

Erdogan als Erbakans Ziehsohn und politischer Erbe war es, der den ältlich-hässlichen "Anstrich" der islam(ist)ischen Partei "renovierte": Mehrmals "modernisiert" präsentiert man sich mittlerweile als AKP, "Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung" und setzt das Nebeneinander von konservativem Religionsverständnis und "moderner" Ökonomie, also Moschee und Shopping-Mall nach Kräften um. Erdogan als deren Chef hat allerdings in keiner Sekunde erkennen lassen, dass damit sein Bonmot: "Die Demokratie ist nur der Zug, auf den wir aufspringen, bis wir am Ziel sind" keine Geltung mehr hätte. Die Gülen-Bewegung kann nach Einschätzung von Necla Kelek allerdings keineswegs mehr Anlass zur Hoffnung sein: Zwar erscheine man nach aussen eher "pragmatisch", allerdings sei dieser "Islam light“ nur die Tünche, die „nach innen […] einen machtbewussten islamischen Chauvinismus“ überdecke.

Über diese Übereinstimmung beim gemeinsamen Ziel sollte die Differenz in der Wahl der Mittel dorthin nicht hinwegtäuschen. "Getrennt marschieren, vereint schlagen" wäre die treffende Beschreibung.

"Erzfeinde" sehen jedenfalls anders aus:

Quelle: leggeroleggero.com

So hätte Erdogan seine Kraftprobe mit der Militärführung gute 10 Jahre nach Erbakans erzwungenem Abtritt ohne Wirken und Unterstützung von Seiten Gülens schwerlich bestanden: 2007 hatten die Generale ihr Veto eingelegt gegen die Berufung von Abdullah Gül auf den Posten des Staatspräsidenten. Dieser hatte Erdogan bei der Renovierung der islamischen Partei zur "modernen" AKP zugearbeitet und diente diesem in Folge als Aussenminister. Als solcher wies er, wenig überraschend, die türkischen diplomatischen Vertretungen im Ausland an, Mili Görus dort jeweils nach Kräften zu unterstützen -- kleiner Hinweis darauf, wessen Gedankengut sich die AKP verpflichtet sieht. Erdogan reagierte auf den Widerstand des Militärs gegen sein Ansinnen, Gül zu "seinem" Staatspräsidenten zu machen, mit der Ausschreibung von Neuwahlen; die er mit überwältigender Mehrheit gewann. (An dieser Stelle besser keine Häme in Richtung der türkischen Wählerschaft: Da hat man in Deutschland schon Leute ganz anderen Kalibers gewählt....)

Der Bruch zwischen beiden "Erzfeinden", Erdogan und Gülen, ist noch ziemlich frisch: Hatte man sich bis dahin(zumindest vom Ergebnis her) zielführend zugearbeitet, war es die Verstrickung des "Systems Erdogan" in den tiefsten Sumpf der Korruption, der für Gülen, der schlicht Zweifel an der charakterlichen Eignung seines bisherigen Mitstreiters hegte, der Anlass war, sich von diesem zu distanzieren. 2013/14 war es, als dieser Korruptionsskandal die Türkei erschütterte: Dessen Gipfel war die Veröffentlichung des Mitschnitts eines Telefongesprächs, in dem Erdogan seinen Sohn anwies, in dessen Haus aufbewahrte (Schmier)gelder schnellstmöglich verschwinden zu lassen. Der bekannt dünnhäutige Autokrat Erdogan deutete all dies als Machwerk Gülens um und nutzte die Affäre zur ersten Welle der "Säuberung" der Institutionen von tatsächlich oder vermeintlich ihm unbequemen Missliebigen. So nachhaltig, dass es zu weiteren Ermittlungen oder Verfahren von Seiten von Polizei und Justiz nicht mehr kommen konnte.

Seitdem, und erst seitdem, wird alles, was für Erdogan unbequem oder gefährlich werden könnte, als Intrige Gülens deklariert.

So auch der jetzige Putschversuch, der dermassen dilettantisch war in seiner Ausführung, dass Zweifel daran, ob seine Urheber tatsächlich in den Reihen der Militärs zu suchen sind, als nicht von vornherein abwegig erscheinen müssen:

"Was soll das für ein Putsch sein mit fünf Panzern und zwei Flugzeugen?", fragt jemand in facebook. "Dieses Land hat viele Staatsstreiche erlebt, aber so was noch nie. Angeblich ist die Luftwaffe verwickelt. Und dann kann der Präsident mitten im Putsch nach Istanbul fliegen?"

Flugs konterte Gülen Erdogans Vorwurf (schon in der Nacht, also ganz zu Beginn der Vorgänge, hatte der ja zu kund und zu wissen gegeben, wer der Schuldige sei), er, Gülen, stecke als Verantwortlicher dahinter, mit der Vermutung, das Ganze sei von Erdogan selber inszeniert worden: Denn wer ziehe den allergrössten Nutzen daraus?

"Der eigentliche Putsch beginnt erst jetzt"

Zumindest letzteres ist nicht von der Hand zu weisen:

Die zweite grosse Säuberungswelle rollt, und die Grosszahl der davon Betroffenen findet sich(wieder) in den Reihen der Justiz.

Die ja bekanntlich über die Exekutive, also das Agieren der Regierung wachen soll...

Egal, ob der Anstoss zu dem Ganzen nun tatsächlich von aussen kam, von eher mittleren Rängen einer führungs- und einflussmässig eher "ausgebeinten" Armee oder vom Autokraten selber:

Dass sich nun ausgerechnet ein Erdogan als Repräsentant und Bewahrer einer demokratischen Verfasstheit feiern lassen kann, ist schon ein eher schlechter Witz der Geschichte.

Und "wir"?

Wenig überzeugend auch die Reaktionen darauf von aussen: Man steckt in der nachvollziehbaren Klemme, jemandem wie eben diesem Erdogan als "Freiheitsheld" und "Demokrat" zumindest verbal die Stange halten zu müssen. Soweit, so schlimm.

Viel schlimmer aber die Haltung z.B. einer Frau Merkel, die "Panzer auf der Strasse" und "Schüsse auf das eigene Volk" zwar richtigerweise als Unrecht bezeichnet.

Aber dann, wenn ein Erdogan genau so gegen "seine" Kurden vorgeht, sich eher schmallippig zeigt -- oder gar nichts sagt.

Dabei sieht es in Diyarbakir nach Erdogans "Antiterrorkampf" durchaus vergleichbar aus wie im syrischen Aleppo:

Quelle: rt.com

Und die, die als Letzte noch den Mut haben, darüber zu berichten, werden von türkischen "Sicherheits"organen mit dem Tode bedroht:

Quelle: ndr

Weiterführend:

http://www.cicero.de/weltbuehne/tuerkei-dieser-mann-ist-erdogans-staatsfeind-nummer-eins/57248

http://www.lavanguardia.com/internacional/20160716/403267327190/gulen-erdogan-golpe-de-estado.html

https://leggeroleggero.com/2015/10/09/chi-e-fethullah-gulen/

http://jungle-world.com/artikel/1997/35/38990.html

http://www.welt.de/politik/ausland/article157090810/Der-eigentliche-Putsch-beginnt-jetzt-erst.html

http://www.ndr.de/fernsehen/sendungen/zapp/Tuerkei-Erdogan-gegen-kurdische-Intellektuelle,tuerkei548.html

https://www.rt.com/news/335337-diyarbakir-turkish-military-crackdown/

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Aron Sperber

Aron Sperber bewertete diesen Eintrag 17.07.2016 23:04:50

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