Die untere Aussichtsplattform des Eiffelturms. Hunderte Menschen wahrscheinlich genau so vieler Nationalitäten wuseln hier herum, in einem Sari, einem Hijab, in Anzug und Krawatte, im Hawaiihemd, Minirock oder mit Turban. Aber jeder und jede hat einen Fotoapparat dabei oder wird gerade selber mit Paris im Hintergrund abgelichtet. Was hat es mit dem Phänomen des Fotografierens auf sich, dass Menschen unabhängig von Herkunft, Alter und Bildung so davon fasziniert sind?

Der Begriff "Fotografieren" stammt aus dem Lateinischen und bedeutet übersetzt soviel wie "Malen mit Licht". Was diese Tätigkeit in ihren Anfangsjahren auch ziemlich gut beschrieb: Die Prozedur war relativ anstrengend und langwierig für alle Beteiligten: Mehrere Minuten mussten die Sujets in genau derselben Haltung verharren, sonst wurde aus dem Foto nichts. Und ein zweites gab es nicht. Dafür war die bahnbrechende neue Technik zu teuer, zu aufwändig, zu elitär. Ein gewöhnlicher Arbeiter oder Bauer wurde Mitte des 19. Jahrhunderts wohl einmal in seinem Leben fotografiert - wenn überhaupt. Und sein Bild stand dann auch nicht für ihn, sondern für die Gruppe, die er repräsentierte. Als Individuen verewigt wurden nur die Wichtigen, Könige, Herrscher, Präsidenten. Heute ist ein durchschnittlicher Mitteleuropäer wohl Hauptmotiv von mehreren Tausend Bilddateien und Statist von noch mehr Fotos, die von verschiedensten Menschen am Strand, auf einem Berggipfel oder auf der Aussichtsplattform des Eiffelturms gemacht wurden.

Keine Frage: Seit seiner Erfindung hat der Fotoapparat eine steile Karriere hingelegt. Aus riesigen, unhandlichen Gestellen wurden kleine Pixel-Wunder mit hunderten Aufnahmeeinstellungen und x-fachem Zoom. Doch die Geschichte der Fotografie beginnt meines Erachtens schon viel früher.

Natürlich handelt es sich dabei nicht um deren Geschichte in einem technologischen Sinn, sondern um die Motivation dahinter, die überhaupt erst zur Erfindung der Kamera geführt hat. Der Drang, etwas von unserem Leben festzuhalten, scheint tief in uns verankert zu sein. Zeichnungen von der Jagd und von Wildtieren sind uns aus der Steinzeit bekannt, manche dieser Werke sind sogar mit einem farbigen Handabdruck des Künstlers "signiert". Seit der Mensch die Möglichkeit dazu hat, ist die Herstellung von Bildern Teil einer jeden Kultur. Egal ob bei den alten Ägyptern, den Mayas oder den Inuits in Grönland, die in Ermangelung anderer Materialien aus Walknochen kleine Kunstwerke schufen: Die Menschen arbeiteten zu jeder Zeitepoche daran, dass sie selber und was ihnen im Leben wichtig war, über den Tod hinaus wenigstens als Abbild bestehen bleibt. Es ist der Wunsch, nicht in Vergessenheit zu geraten. Der Wunsch nach Bestätigung, Anerkennung und der Sehnsucht, alles Schöne zu verewigen. Vielleicht ist es schlussendlich sogar das, was uns als Menschen ausmacht.

Ich behaupte, genau derselbe Grund steckt auch heutzutage noch hinter unserer tivialen, ja vielleicht sogar banalen Knipserei. Das Einzige, das sich geändert hat, sind unsere Mittel. Und diese wiederum führen dazu, dass buchstäblich jeder Moment festgehalten werden kann. Bei Bootsfahrten, Wanderungen oder am Strand beschleicht micht manchmal das Gefühl, dass einige meiner Mitreisenden das Land und die Leute nur noch auf dem Display einer Kamera, eines Handys, einer eines iPads wahrnehmen. Sie halten ihre Erlebnisse fest, die so gar nie stattgefunden haben. Nonstop drücken sie ihre Finger auf den Auslöser, produzieren Fotos eins wie das andere und verfügen wohl entweder über terabyteweise Speicherplatz oder über zuviel Zeit für das Sichten all dieser Bilder. Wenn Fotografieren früher Malen mit Licht war, dann ist es heute wohl ein Herumgekritzel mit Licht. die Menschen müssen sich nicht mehr entscheiden, welche Momente wichtig genug sind, verewigt zu werden. Heute geraten wir nicht mehr in Vergessenheit, weil wir unser Leben nicht für Menschen in weit entfernten Ländern und künftige Generationen abbilden können, sondern weil wir als Individuum in der Flut der Abbildungen schlichtweg untergehen. Wir scheitern nicht mehr daran, unser Leben darzustellen und festzuhalten, sondern möglicherweise schon daran, das Dargestellte und Festgehaltene wirklich zu leben. Und vieles verewigen wir auch nicht für die Nachwelt, sondern zu einem grossen Teil für unser Ego. Wir schwelgen gerne und auch berechtigterweise in Erinnerungen, die die Bilder vom letzten Urlaub in uns hervorrufen. Wir stellen das Bild vom Traumstrand ins Internet, weil es Daheimgebliebenen neidischer macht, als es unsere Schilderungen je könnten. Ja, wir knipsen wie verrückt, weil wir uns sogar fürchten, Erlebnisse ohne Fotobeweis zu "verlieren". Aber vergessen ist auch etwas sehr Menschliches.

Manchmal bin ich meiner Unterwasser-Kamera schon fast dankbar wenn ihr Akku wieder leer ist und ich die Fische nur durch meine Taucherbrille und nicht noch durch die Kamera anschaue. Denn ich kann im Zweifelsfall darauf vertrauen, dass mein Gedächtnis die aussergewöhnlichen, speziellen, umwerfenden Erlebnisse für mich abspeichert. Vielleicht sollten wir uns gelegentlich daran erinnern, dass wir bereits von Natur aus mit einer HD-Kamera und mit beeindruckend viel Speicherplatz ausgestattet sind.

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