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“Ich kann freilich nicht sagen, ob es besser wird, wenn es anders wird. Aber so viel kann ich sagen: es muss anders werden, wenn es besser werden soll!”(Georg Christoph Lichtenberg (1742-1799), deutscher Naturwissenschaftler)

Meldungen über den Rechtsruck hierzulande, in Ungarn und Österreich, in Polen und Frankreich, sie sind nicht neu und erfahren in Tagen der „Flüchtlingskrise“, die vor allem eine Hilfeinfrastrukturkrise war und ist, von großen Teilen der Bevölkerung eher Zustimmung oder Gleichgültigkeit als Empörung und Entsetzen. Dabei ist, bei genauem Hinsehen, die Frage nach Zuwanderung und Integration beinahe nur nebensächlich. Der Kern der rechten Bewegung, die nicht nur Europa sondern, mit Trump, auch Amerika erfasst hat ist nicht vorrangig fremdenfeindlich. Die Xenophobie ist nur ein Symptom von vielen. Der Kern der Bewegung ist vor allem eines: regressiv und reaktionär.

Die Feindbilder dieser Bewegung sind nicht neu und schon gar nicht ausschließlich den derzeitigen Migrationsbewegungen geschuldet.

Heute.de berichtete am 07.05. über den „Rechtsruck der Jungen“ in Polen. Dort, wie beinahe überall wo Rechte an Boden gewinnen, sehen sich viele Menschen abgehängt, profitieren nicht von Wirtschaftsboom und Wachstum, von Reichtum und Wohlstand des Landes in dem sie leben.

Ihre Unzufriedenheit äußern sie mit der Wahl rechtsnationaler Parteien, im Falle Polens repräsentiert von der „PiS“ (Partei für Recht und Gerechtigkeit). Seit ihrer Machtergreifung wurden diverse Gesetze beschlossen, die sicherlich vieles im Sinn haben mögen, ganz sicher aber nicht breite Wohlstands- und Rechteverteilung. So will die Partei in Polen das Verfassungsgericht entmachten. Ein Verfassungsurteil, das einen Gesetzesentwurf zur Arbeit des Tribunals (Eine „Reform“ der Justiz) für verfassungswidrig erklärt hatte, wird von der Ministerpräsidentin Beata Szydlo nicht anerkannt und blockiert. Auch soll die Unabhängigkeit der Staatsanwaltschaft unterminiert werden. Zudem wurden Intendantenstellen des öffentlichen Fernsehens mit aktiven Politikern besetzt und damit die Pressefreiheit massiv eingeschränkt. Mittlerweile werden Stimmen laut die fordern, die zweite Stufe des im Januar eröffneten Verfahrens zur Überprüfung der Rechtsstaatlichkeit in Polen einzuleiten.

Kurz: Hier werden die Abgehängten nicht bereichert, gewinnen nichts. Stattdessen verlieren sie die wenigen Freiheiten, zu denen in demokratischen Ländern auch gehört, nicht im Zweifel Opfer staatlicher Willkür zu werden. Eine unabhängige Justiz dient allen Bürgern.

Zehntausende Polen haben das verstanden und demonstrieren regelmäßig gegen die Nationalisten. Ihre Angst vor einem autoritären Staat ist sicherlich nicht unbegründet, schaut man sich z.b das im Januar erlassene Polizeigesetz an, das die Berufsgeheimnisse von Ärzten, Journalisten und Anwälten angreift.

Trotz dieser erschreckenden Entwicklung die niemandem dient, bis auf den neuen Machthabern und denen, die sowieso zu den Systemprofiteuren zählen, die keinem Frustrierten, keinem Angstbürger, keinem Arbeitslosen zu einem besseren Leben verhilft, ist die Zustimmung zur rechtsnationalen Partei ungebrochen „hoch“. Sie erhält in Umfragen 39% Zustimmung (wobei tatsächlich nur 19% aller Wahlberechtigten ihr ihre Stimme gegeben haben. Ihr Siegeszug war nur möglich, weil mittlerweile knapp 50% aller Wahlberechtigten nicht zur Wahl gingen).

Warum also, und hier steht Polen stellvertretend für jedes andere Land, in dem die Nationalisten derzeit ihren Siegeszug antreten, wählen ausgerechnet die, die auch und gerade in einem autoritären System zu den Verlierern und nicht zu den Gewinnern zählen, zunehmend rechts-konservativ und schließen sich den Profiteuren an, die Sozial- und Rechteabbau fordern, um die eigenen Pfründe zu sichern, um ihren Wohlstand fürchten und diesen präventiv vor Zugriffen durch das eigene Volk wie auch durch „Fremde“ schützen wollen?

Warum die Wahl derer, die das „einfache Volk“ nicht mehr verachten könnten?

Sie bieten einfache Antworten auf komplexe Probleme. Keine Lösungen, selbstverständlich. Keine Umverteilungen, keine fairen Löhne, Arbeit und Chancengleichheit für alle. Kein Recht auf Meinungsfreiheit oder freien Lebensentwurf, keine Rechtsstaatlichkeit vor der alle gleich sind, auch keinen Ausbau der Arbeitnehmerrechte, Streikrechte, keine Bildung, keine Solidarität.

Denn für die, die es noch immer nicht verstanden haben:

Die Solidargemeinschaft „nationale Zusammengehörigkeit“ ist brüchig und hält üblicherweise nur so lange, wie Krankheit, Behinderung, eine andere Meinung und Abweichung vom autoritär verordneten Kurs das Individuum nicht außerhalb der Gemeinschaft katapultiert.

Aber sie bieten eben keine Logik an, die neuen Rechten, sie bieten Sündenböcke, das Gefühl neuer Überlegenheit noch in der prekärsten eigenen Lage, die kurzzeitige Illusion, es könnte einfache Antworten auf zunehmende Globalisierungsängste und der Angst vor der Technokratie Brüssels geben.

So zitiert Krzysztof Ignaciuk in seinem Artikel auf heute.de einen PiS-Anhänger:

"Keiner bei uns will hier Flüchtlinge; wir wollen nicht das, was in Paris und Brüssel passiert ist. Und Schwulsein ist für mich eine Krankheit."

In solchen Aussagen, quer durch Europa, wird die Basisproblematik offenbar. Die Angst vor Veränderung, vor allem was nicht normiert und damit berechenbar ist. Vor allem, was Lebensillusionen zerstören könnte. Selbstverständlich auch Angst vor Tod, Terror und Krieg, vor denen, so hoffen einige vielleicht, ein übermächtiger Staat schützen soll. Doch diesen Schutz kann es nicht geben. Terror gibt es nicht erst seit heute und er ist schon gar nicht Islamisten vorbehalten. Und mehr Überwachung hat auch in anderen Ländern in keinem Fall für mehr Schutz oder Sicherheit gesorgt. Das Risiko ist der Preis der Freiheit.

Am hartnäckigsten aber hält sich unter Rechts-Konservativen das Märchen ewiger Glückseligkeit in alten Familienordnungen, von heiler Familie, Planbarkeit, Sicherheit.

Dabei sollten wir heute so weit sein zu verstehen, dass es für den Menschen keine „Norm“ gibt. Menschen sind in ihren Lebensbedürfnissen so vielfältig, wie sie es in Herkunft, Sprache, Hautfarbe, Religion sind. Das Bild der ewigen, heiligen, heilen Familie, es war schon in der Vergangenheit für die meisten Menschen selten mehr als Fassade und nie „Norm“.

Es gibt heute nicht „mehr Homosexuelle“, es ist für Homosexuelle lediglich leichter geworden, sich offen zum eigenen Sein zu bekennen. Was heute ehrlich gelebt werden darf, musste in früheren Zeiten, die von vielen Nationalen auch hierzulande glorifiziert werden, unter dem Deckmäntelchen heiler Familie versteckt werden. Nicht selten verbunden mit Angst vor Existenzverlust oder gar Verlust des eigenen Lebens im Falle einer Enttarnung. Da traf Papa seinen Freund heimlich, Mutti ergab sich in die Ehe, ließ sich schwängern und träumte heimlich von der Nachbarin. Da streifte Opa sich im abgeschlossenen Kämmerlein Omas Kleidchen über und träumte davon, einmal Frau sein zu dürfen.

Und heute? Was hat sich geändert, gerade unter denen, die nach außen daran arbeiten, ihr „konservatives“ Image zu pflegen? Papa geht unter der Woche in den Puff und bezahlt für dezentes Schweigen. Mutter greift heimlich zum Alkohol und versteckt die leeren Flaschen unter der Spüle oder im Küchenschrank und beim abendlichen Plausch wird Interesse aneinander geheuchelt. Vom Kindesmissbrauch über Gewalt in der Ehe, Lüge und Betrug, nichts davon ist dem Prekariat vorbehalten, den Schwulen und Lesben, den Muslimen und anderen Feindbildern der Nationalkonservativen.

Ein gutes Beispiel für diese Form der Heuchelei bot erst vor kurzem Frauke Petry von der AfD, als sie gegen Scheidung wetterte - bis sie sich für ihren neuen Freund von ihrem Ehemann trennte. Sie will sich das Sorgerecht ihrer vier Kinder mit ihrem Exmann teilen. Für viele Frauen und einige Männer in diesem Land bedeutet eine derartige Situation, plötzlich alleinerziehend zu sein.

Zu Alleinerziehenden schreibt die AfD:

"Die Alternative für Deutschland will die finanziellen Belastungen Alleinerziehender und Unterhaltspflichtiger korrigieren. Gleichzeitig wenden wir uns gegen eine Glorifizierung individualisierter Lebensformen. ... Wer unverschuldet in diese Situation geraten ist, verdient selbstverständlich unser Mitgefühl und die Unterstützung der Solidargemeinschaft. Eine staatliche Finanzierung des selbstgewählten Lebensmodells "Alleinerziehend" lehnen wir jedoch ab"

Übersetzt heißt das: Wer sich trennt hat seine Gründe offenzulegen (die „schuldhafte Scheidung“ gab es in Deutschland bis 1976) und nachzuweisen, dass er Hilfe „verdient“. Der Staat als letzte Instanz in Fragen des Privatlebens ist das Ende der Freiheit auch für die, die heute noch an ihre „ewige Liebe“ und heile Welt glauben mögen und schon morgen in einer Beziehung aufwachen könnten, die erkaltet und lieblos ist und die dennoch heute Menschen vorschreiben wollen, wie ihr persönlicher Lebensweg auszusehen hat.

Es ist leicht, anderen eine illusorische Norm aufdrücken zu wollen, solange man nicht selber betroffen ist, solange sich die vermeintliche „Abweichung“ vom vorgegebenen Pfad nicht als die einzige Norm präsentiert.

“Nichts ist so beständig wie der Wandel” wusste schon Heraklit um 500 v. Chr. und war mit dieser Erkenntnis vielen „aufgeklärten“ Rechtsnationalen um Längen voraus.

Das Bild vom Menschen, von der Gesellschaft, von der Welt, das von diesen Reaktionären gepflegt wird, es ist Heuchelei, aber offensichtlich eine, die schwer aus den Köpfen derer zu kriegen ist, die so sehr an ein Lebensideal im Märchenformat glauben möchten, dass sie notfalls mit Gewalt daran festhalten.

Es ist der Traum von einer Welt, in der Freiheit aufgegeben wird zugunsten eines Lügengerüstes von Schutz (durch Waffen), heiler Welt (durch Lügen), Normierung (durch Ausschluss und Strafe).

Der Widerspruch und die Unmöglichkeit der eigenen Forderungen, sie mögen sich ihren Verfechtern nicht erschließen. Was man unterdrückt erhebt sich beizeiten. Dies gilt im Individuum wie auch innerhalb von Gesellschaftsstrukturen. Nicht zuletzt deshalb sind Unterdrückung, Exklusion, Verletzung der Menschenrechte ein Garant für Gesellschaftszerwürfnisse und Krieg.

Aber es sind nicht nur Homosexuelle, die den Hass derer auf sich ziehen, die ewiggestrig die Vergangenheit schönfärben.

Es sind alle Minderheiten und Randgruppen, die das eigene Selbstbild gefährden. Kranke, Alte, Juden, Muslime, Frauen, Homosexuelle, Ausländer: Sie alle bedrohen nicht real die Gesellschaft mit ihrer Anwesenheit. Sie bedrohen lediglich das verklemmte, in sich geschlossene Weltbild, in dem es sie nicht geben darf, die Abweichung von der Norm.

Mit Zwangsarbeit gegen psychisch Kranke und Arbeitslose, mit Euthanasie und Ausschluss gegen Behinderte und Alte, Judenzählungen und selbstverständlich ein Verbot der Brit Mila für Juden und ein Schächtverbot für Juden und Muslime (und da ich meine „Tierfreunde“ schon kenne: Es ist noch immer wissenschaftlich umstritten, ob Tiere beim Schächten tatsächlich schlimmer leiden als bei der „regulären“ Schlachtung, bei denen Ihre Schweinsbratwurst zustande kommt. Alle Methoden scheinen eben so schmerzhaft zu sein, wie sie fachgerecht durchgeführt werden. Also sparen Sie sich Ihre „rechtschaffene“ Empörung), ein Verbot von Minaretten und Muezzinrufen für Muslime, Nötigung zum Kinderkriegen und Unterwerfung der Frau in das alte Rollenmodell, Einreiseverbote und Zäune plus Schießbefehl für „Fremde“. Das ist die reale Politik hinter dem Geschwafel vom "Wir - Das Volk". Nur gibt es kein "wir" außerhalb dieser ideologisch eng gesteckten Grenzen. (Die hier genannten und verlinkten Beispiele, wahlweise aus Ungarn, Deutschland, Polen sind in dieser und anderen Formen auf sehr vielfältige Weise zu finden und sollen nur einen kleinen Überblick bieten.)

Das alles hatten wir schon. Einiges davon im Verlauf der Geschichte mehrfach. Und es ist verdienterweise kläglich gescheitert. Jedes Mal. Wir durften gestern den „Tag der Befreiung“ feiern, ein freudiger Anlass. Doch die Befreiung ging danach noch weiter, manifestierte sich in Rechten für Minderheiten, für Frauen, in sozialen Strukturen, die zumindest den (ausbaufähigen) Versuch wagten, auch Kranke und Behinderte zu integrieren und Menschen im Gesellschaftskollektiv individuelle Rechte zuzusprechen.

Wir, die wir diese Werte behalten und pflegen wollen, können uns Polen ein warnendes Beispiel sein lassen:

Nur 19% aller Wahlberechtigten konnten eine radikale, verfassungsfeindliche Partei an die Macht wählen, die dennoch für alle im Land zu Schaden gereicht.

Regieren kann sie nur, weil knapp die Hälfte der Bürger das Wählen verweigerte.

Wenn selbst die Aussicht auf den Verlust der eigenen Grundrechte und Freiheiten nicht dazu veranlasst, den Weg zur Wahlurne zu finden, was dann?

„Wer in der Demokratie schläft, wacht in der Diktatur wieder auf“ (Unbekannter Verfasser/gerne fälschlich Goethe zugeschrieben)

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