Ottakring ist ein traditioneller Wiener Arbeiterwohn- und Industriebezirk, der inzwischen sehr multikulturell geworden ist. Der Ausländeranteil ist hoch - Tendenz weiter steigend. Die von Vielen als Balkanmeile bezeichnete Ottakringer Straße entwickelte sich seit Mitte der 1990er Jahre zur Fortgehmeile für die Turbofolk-Community.

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Hip-Hop ist zwar bisher nicht unbedingt meine bevorzugte Musikrichtung, aber jedenfalls als politisch engagiertestes Genre interessant. Und so bin ich auf die momentan spannendsten Hip-Hop-Musiker Wiens gestoßen.

Hip-Hop, der in den afroamerikanischen Ghettos der USA entstanden ist, verbreitete sich ab den 1980er Jahren international. Er fand in den Banlieues von Paris und Marseille und in den Migrantenvierteln anderer Großstädte einen neuen Nährboden - ab der Jahrtausendwende auch in Wien. So entstand in Wien-Ottakring 2007 das Hip-Hop-Duo EsRAP des austrotürkischen Geschwisterpaares Esra und Enes Özmen, die sich inzwischen einen Namen machen konnten.

Esra (29) und Enes (25) Özmen sind in Wien geboren und in Ottakring aufgewachsen. Sie verarbeiten ihre Erlebnisse als türkische MigrantInnen in der 3. Generation, stellen sich Fragen nach ihrer Identität, dem Fremdsein im eigenen Land und auch dem Frausein in der männerdominierten Hip-Hop-Welt. Interessant finde ich bei EsRAP auch den Bruch mit Geschlechterstereotypen, denn Esra übernimmt den harten Sprechgesang und rappt sehr kraftvoll, während ihr Bruder mit seiner feinfühligen Stimme die schönen arabesken Refraingesänge beiträgt. Die sozialkritischen Texte sind auf migrantendeutsch oder auf türkisch, authentisch und biographisch inspiriert. Auf vulgäre Sprache wird großteils verzichtet, auf Frauenfeindliches natürlich ebenso. Die Songs regen zum Mitfühlen, Mittanzen, aber auch zum Nachdenken an.

Ihre erste Berührung mit Musik hatten die Beiden in ihrer Kindheit mit arabesker Musik aus dem Heimatland ihrer Vorfahren, vor allem Aufnahmen des äußerst populärem Sängers Müslüm Gürses, von dem ihr Vater viele Kasetten hatte, die er täglich rauf und runterspielte. In den meist sentimentalen Liedern von Müslüm Gürses geht es vorwiegend um Alltagsprobleme, leidende Liebe und Schmerz, wie in diesem Text über Nilüfer, die er bittet, ihm sein gebrochenes Herz zurück zu geben.

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Nach ersten Auftritten im Jugendzentrum folgten die ersten Mixtapes und auf digitalen Kanälen veröffentlichte Tracks. Ab 2010 studierte Esra an der Wiener Akademie der bildenden Künste an der postkonzeptuellen Kunstklasse. Durch das künstlerische Umfeld an der Akademie ergaben sich nun mehr Connections und dadurch mehr Anfragen für Auftritte. 2011 spielte EsRAP am Donauinselfest und veröffentlichte mit Ausländer mit Vergnügen das 1. Musikvideo auf YouTube. Der Songtext setzt sich mit Alltagsrassismus und dem Gefühl von Heimatlosigkeit auseinander:

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Darauf folgten 2013 Gleichberechtigung:

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und Mein Weg:

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Der Tschusch ist da war 2016 die erste offiziell veröffentlichte Single von EsRAP. Das Musikvideo in Schwarz-Weiß zeigt eine nächtliche Autofahrt in Wien und Menschen auf dem Brunnenmarkt.

Im Text thematisiert EsRAP das Wort "Tschusch", das von ÖsterreicherInnen umgangssprachlich als abwertende Bezeichnung für Gastarbeiter aus Ex-Jugoslawien, Südosteuropäer oder Orientalen verwendet wird. Das Wort enthält die slawische Wortwurzel für "fremd". Es wird auch von MigrantInnen untereinander verwendet, aber eher ironisch und als kumpelhafte Anrede.

Esra und Enes fühlen sich nicht als Türken, aber auch nicht als Österreicher, obwohl sie österreichische Staatsbürger sind. Sie bezeichnen sich als Tschuschen aus Ottakring. Esra findet, dass es eine Kraft hat, die positiv wirkt, wenn sie sagt: "Ich bin Tschusch."

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Esras Abschlussarbeit war das erste Rap-Diplom an der Akademie der bildenden Künste. Sie hatte den Titel "Rap als Widerstand - Migration, Bildung und Freiheit". Die Präsentation beinhaltete auch einen halbstündigen Rap.

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Nun arbeitet Esra an ihrer Dissertation über die Beziehung von Stadt und Rap in Österreich. Denn Rap ist eine besondere Kunst, weil er ein breites Publikum hat und weil man damit Leute erreichen kann, die sich unter Kunst etwas ganz anderes vorstellen. Aber auch EsRAP selbst haben inzwischen abseits der Rapszene ein Publikum erreicht, etwa mit ihren Auftritten bei der Eröffnung der Wiener Festwochen 2018 und 2019 sowie beim Wissenschaftsball im Wiener Rathaus. Für beide übrigens, abgesehen vom Schulball, der erste Ball.

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Seit 2018 organisiert EsRAP die Veranstaltungsreihe "Gürtel Squad", eine offene Bühne für Hip Hop, Rap und Straßenkultur.

Im Dezember 2018 erschien Kabadayi/Die Tage werden besser, in dem es um Genderfragen geht. Die Textzeile „Die Tage werden besser, wer wird übrig sein?“ passte aber auch gut für die Donnerstags-Demos gegen die türkis-blaue Regierung. Obwohl ich Demonstrationen gegen eine demokratisch gewählte Regierung nicht besonders sinnvoll fand, halte ich es für wichtig, wenn sich auch die migrantische Jugend politisch zu Wort meldet und Probleme aufzeigt.

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Am 28. Juni 2019 erschien das mit Spannung erwartete Debütalbum mit dem Titel Tschuschistan beim Berliner Label Springstoff. Tschuschistan ist für Esra und Enes überall dort, wo die Diaspora zu Hause ist. Es ist ein Ort, wo sie sich wohlfühlen und willkommen sind, etwa beim Teetrinken auf dem Yppenplatz in Ottakring, wo auch das Release-Konzert stattfand.

Allerdings spricht Esra auch von Altagsrassismus und einem enormen Hass gegenüber dem Islam, den sie in Wien spürt. Und Enes beklagt, dass in Wien nur die Moschee am Hubertusdamm Minarette hat. Alle anderen Moscheen sind seiner Meinung nach hässlich.

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Der Sound von EsRAP kann in viele Richtungen gehen, mal mehr, mal weniger musikalische Ausformungen und etwa auch in der Zusammenarbeit mit der Wiener Metal-Balkanbeats-Band Gasmac Gilmore, die ihrerseits gerne fremde Stilelemente in ihre Musik mit einbeziehen:

Freunde dabei (Achtung Ohrwurm!) ist die zentrale Titelnummer des Albums - eine klassische politischen Partynummer kurz vor der Nationalratswahl. Unschwer ist zu erkennen, wer hier angegriffen wird:

"Du hast Polizei – ich hab Brüder dabei, ich hab Schwestern dabei, ich hab Brüder dabei/Du hast Hassnetz - ich hab Liebe dabei/Du hast Ibiza – ich hab das Video dabei!"

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Eine weitere Zusammenarbeiten mit Gasmac Gilmore: Weil hier jeder diesen Kanaken kennt:

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Im Song Da Boss rappt Esra von ihrem Vater, der zwar ein großes Auto fährt, aber auch putzen würde – und von ihrer Mutter, die ein Kopftuch trägt, das sie als Symbol der Freiheit deutet.

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In Galata und Riesenrad geht es einmal mehr um ihre Zerrissenheit zwischen Istanbul und Wien. Für das Gefühl, trotz der gebotenen Möglichkeiten wie gelähmt zu sein, verwenden EsRAP eine Metapher des persischer Sufi-Mystikers, Gelehrten und Dichters Rumi, der in der Türkei gelebt hat und dort noch immer sehr populär ist:

Binde mal zwei Vögel zusammen, sie werden nicht fliegen können, obwohl sie vier Fügel haben. Wir wollten fliegen, waren gefesselt unter gelungenen Regeln. denn wir waren hier als Ausländer die gebundenen Vögel.

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Die beiden Songs Dunya Ve Alem und Gecelere Bak sind ausschließlich auf türkisch, denn Esra meint, dass es sehr emotionale Lieder sind und sie sich diesbezüglich besser ausdrücken kann. Zudem kann sie die türkische Diaspora leichter erreichen. Aufgenommen wurde das Video in Kappadokien (Zentralanatolien).

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Auch in Gastarbeiter geht es um Erfahrungen, die viele türkischstämmige Enkelkinder von ehemals Angeworbenen teilen.

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Von 23. - 26. Juli 2020 wird die 11. Auflage des Popfestes Wien über die Bühne gehen, diesmal kuratiert von Esra Özmen mit dem Kärntner Indierockmusiker und Produzenten Herwig "Fuzzman" Zamernik.

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EsRAP machen aber mehr als Musik. Mit ihren vielen Rap-Workshops für Schulklassen vermitteln Esra und Enes der nächsten Generation Skills und kritisches Denken weiter. Als Integrationsbeauftragte des damaligen Integrationsministers Sebastian Kurz ließ sich Esra aber nicht gewinnen, denn sie will lieber weiterhin Missstände kritiseren.

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Ich bin froh, dass ich durch Zufall auf diese Gruppe gestoßen bin. Es hat mich daran erinnert, wie sehr ich Türken, orientalische Musik und diese Kultur einst geliebt habe. Den Yppenplatz mit seinen hippen Beiseln und den Brunnenmarkt mit seinem bunten Basarleben und Dutzenden Marktständen besuche ich noch immer gerne. Vor 20 Jahren noch „Klein-Istanbul“ genannt, ist dieses Grätzl heute viel mehr durchmischt und ein authentisches Nebeneinander von alteingesessenen Wienern, migrantisch geprägter Arbeiterklasse, Bobos und Studenten.

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