Jetzt reden also alle über die „Eltern von Linz“.

Das Bild, das der Sportfotograf Manfred Binder am 2. April auf Facebook gestellt hat, wurde nicht nur viral - sondern geht auch in „echten“ Medien mittlerweile um die Welt.

Kein Wunder: Zu sehen, wie da ein paar Eltern ihre Sprösslinge im Rahmen eines Kinderlaufes mit aller Gewalt in Richtung Ziellinie schleifen und zerren, lässt niemanden kalt.

Auch mich nicht: Ich bin in Linz den Halbmarathon gelaufen. Auf der Heimfahrt sah ich das Bild auf Facebook (ich glaube in der Timeline von ORF-Anchor Roman Rafreider) und bin auf die Seite des Urhebers gegangen. Von dort habe ich Binders - journalistisch gesehen - "1000 Gulden Schuss" Sonntagabend auch in meine Timeline geholt. Zu diesem Zeitpunkt hatten das bereits um die 250 andere User ebenso getan.

Das Original war - und ist - unverpixelt: Eltern und Kinder sind zu erkennen. Die Startnummern ebenso. Über die kann man ohne Probleme die Namen aller Beteiligten herausbekommen. Das ist bei jedem Sportevent Usus.

Das Bild ging durch die Decke. Nicht bei mir, sondern insgesamt. Erwartungsgemäß. Am Montag tobte das Netz - und am Dienstag war die Sache in die „echte Welt“ gehoppst: Natascha Marakovits, eine laufende Kollegin vom Kurier, hatte die regionale Story ins Hauptblatt gestellt.

@Marakovits/Kurier

Und: BUMM! Plötzlich sprangen alle auf - und überboten sich im In- und Ausland mit Analysen, Geschichten und Expertisen: So funktionieren Medien halt.

Parallel dazu brach die Meta-Diskussion aus: Als erste kam meine Schwester. Die - eine Volksschuldirektorin und Vollblut-Pädagogin - prügelte mich auf Facebook schon Sonntagnacht mit nassen Fetzen. Wie ich mich unterstehen könne, Kinder, die offensichtlich Opfer einer - sagen wir es ruhig, wie es ist - Misshandlung wurden, kenntlich an die Öffentlichkeit zu zerren.

Meine Antwort war moralisch mau, aber faktisch korrekt: Bilder, die man auf Facebook teilt, kann man nicht bearbeiten. Und der Rechteinhaber habe die Fotos eben so wie sie sind online gestellt.

Donnerstagfrüh ging beim Standard mein Laufblog online. „Rotte rennt“ aus Linz. Die Kindergeschichte hatte ich ganz bewusst ausgelassen - erwähnte sie aber im Vorspann der diversen Verlinkungen.

Prompt kam Kritik: Ein „John Byron“ kritisierte in einer Lauf-Gruppe, dass ich zur Steigerung meiner Klickzahlen fremde Kinder an die Öffentlichkeit zerre. Ohne sie um ihr Einverständnis gefragt zu haben.

©ScreenshotFacebook

Moralisch kann ich der Kritik nicht widersprechen. Rechtlich schon: Erstens mit der Antwort, die ich schon meiner Schwester gegeben habe. Zweitens mit den „Spielregeln“ von Sport- und anderen Events. Die bestätigt, wer mitmacht: Mit dem Überstreifen der Startnummer akzeptiere ich, dass es Presseberichte geben wird - und dass in diesem Rahmen auch Bilder angefertigt werden und veröffentlicht werden können, auf denen ich zu erkennen bin. Mit der Teilnahme trete ich also Rechte ab. In rechtlicher wie in finanzieller Hinsicht. Nur: Daran denkt halt keiner.

Sinngemäß steht dieser Rechteverzicht-Satz auch auf Eintrittskarten in die Oper, zu Clubbings oder zum Ländermatch. Anders könnte kein Veranstalter auch nur ein Bild seines Events aussenden - und kein Medium dürfte mehr als unbebilderte Texte veröffentlichen. Und: Da Minderjährige nicht „geschäftsfähig“ sind, müssen Eltern für sie ihr „ok“ geben. Das geschieht bei solchen Events - durch den Kauf von Tickets oder Startnummer durch „mündige“ Berechtigte. (Kauft das Ticket ein Unberechtigter und mein Kind geht hin, ist das eine Frage der elterlichen Aufsichtspflichten: Derlei kann kein Veranstalter überprüfen.)

Moralisch sieht das natürlich anders aus: Nicht ohne Grund hat der Kurier - aber auch viele andere Zeitungen - die Bilder der Kinder verpixelt. Und meist auch die Gesichter der Eltern und die Startnummern. Gut und richtig so. (Anmerkung: Im Original des hier verwendeten Screenshots von der Seite des "Daily Mirror" und in etlichen andern Medien sind Gesichter und Startnummern nicht unkenntlich gemacht. Diese Einschwärzungen habe ich - nachträglich - selbst vorgenommen.)

©ScreenshotFacebook

Dass da nun die Kritik kommt, wieso bei mir (und mittlerweile 700 anderen Facebookusern, die Binders Original geteilt haben) das nicht geschehen ist, ist ebenso nachvollziehbar, wie der nun immer wieder artikulierte, empört-moralische Imperativ, dass man - wenn Verpixeln beim Teilen nicht geht - auf dieses Foto halt verzichten müsse.

Stimmt eh. Prinzipiell.

Nur: Hätten Rafreider, ich und 200 andere das am Sonntag getan, wäre das Bild auf Manfred Binders Timeline heute noch ein aussagekräftiges, aber sehr einsames Dokument über den durchgeknallten Ehrgeiz, mit dem manche Eltern ihre Kinder misshandeln. Und keiner würde drüber reden.

Nicht über das Bild - aber auch nicht darüber, was es über die Gesellschaft in der wir uns bewegen, aussagt.

Ganz ehrlich: Ich habe auf die Frage, was da wichtiger oder richtiger ist, keine Antwort.

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