In einem Antiquariat in G., einer Universitätsstadt in Niedersachsen, kaufte ich das Buch "Endlösung", in dem Martin Gilbert in Form eines Atlas' die Vertreibung und Vernichtung der Juden von 1933 bis 1945 darstellt. Mit über 200 Karten zeigt er den enormen logistischen und bürokratischen Aufwand, den die Deutschen betrieben, um das zu vollenden, was sie als ihre historische Mission zu begreifen schienen: Die Vernichtung derjenigen, die sie als Verkörperung des Bösen ansahen, ein Kampf, der von Anfang an integraler Bestandteil, wenn nicht Zweck ihres Weltkriegs war (und es ist zu fragen, ob sie, nachdem ihnen der Griff nach der Weltmacht im ersten nicht gelungen war, dieses Kriegsziel im zweiten der Vernichtung derjenigen unterordneten, die im antisemitischen Wahn (ein Pleonasmus, ich weiß) die Welt beherrschen.)
Der Band erregt immer wieder Staunen, wenn man sich vor Augen führt, wie viele Mitwirkende nötig waren, um dieses mörderische Projekt ins Werk zu setzen: Eisenbahnbeamte, Schreibkräfte, Polizisten etc. - alles kleine Rädchen, gewiss, die sich dann später auch darauf berufen konnten, lediglich Mitläufer gewesen zu sein, wenn auch unverzichtbare. Staunen sieht man aber auch auf dem Gesichtern der Opfer, die auf den wenigen Fotos des Bandes zu sehen sind, wenn sie in langen Reihen auf das warten, von dem sie ahnen, dass es ihre Ermordung sein wird - neben, natürlich, Ratlosigkeit, Angst. Es ist das Staunen darüber, dass das, was ihnen widerfährt, diese bürokratische Barbarei, diese Negation jeder zivilisatorischen Errungenschaft, überhaupt möglich sein kann.
Und vielleicht hätten sie noch mehr gestaunt, wenn sie gewusst hätten, wie sich ihre Mörder in ihren Briefen und Tagebüchern (ich erwarb ebenfalls den Band "Biedermann und Schreibtischtäter" von Götz Aly und anderen) präsentierten: Ein Anatom, der an den Leichen von Hingerichteten seine Studien betrieb, klagt über seine schleppend verlaufende Karriere; ein Arzt, der als Gutachter im Euthanasieprogramm Kinder ermorden ließ, die nichts anderes verbrochen hatten, als krank zu sein, schreibt kitschig-kindische Briefe an seine Frau - es sind Dokumente, für die selbst der Begriff "Banalität" zu hoch gegriffen wäre, sie zeigen die Faszination, die der Faschismus auf Menschen ausübt, die ihre Brutalität hinter der Maske von Sentimentalität und Larmoyanz ausleben.
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Aly, Götz: Biedermann und Schreibtischtäter. Materialien zur deutschen Täter-Biographie. Beiträge zur nationalsozialistischen Gesundheits- und Sozialpolitik, Bd. 4. Berlin : Rotbuch-Verlag, 1987. 207 S. : Ill. ISBN: 9783880229532
Gilbert, Martin: Endlösung. Die Vertreibung und Vernichtung der Juden. Ein Atlas Hamburg, Rowohlt, 1982. 264 S. mit zahlr. Karten, ISBN: 3 499 5031 x