Verfassung versus Realverfassung in Österreich

Höchst interessant, dass sogar die offizielle Webseite des Parlaments auf die Diskrepanz zwischen Verfassung und Realverfassung verweist: "Neben der formalen Verfassung gibt es die "gelebte" Verfassung - die sogenannte Realverfassung. Die Realverfassung beschreibt die verschiedenen informellen (im Gegensatz zu den formellen) Abläufe, die im politischen Geschehen wirksam werden. So wird der Einfluss der Bundesregierung, der Landeshauptleute oder der politischen Parteien klar." Die folgende Schlussbemerkung kann als Postulat, nicht aber als Beschreibung empirischer Tatsachen verstanden werden: "Sie können sich aber nie über die rechtliche Verfassung hinwegsetzen."

Die anonymen Autoren dieses Beitrags werden noch deutlicher: „Wenn von der Verfassung eines Staates gesprochen wird, kann aber auch eine Beschreibung davon gemeint sein, wie Abläufe in einem Staat tatsächlich funktionieren: Wer verfügt über Einfluss, wer bestimmt Themen, wer kann Projekte verhindern, oder wie kommen Entscheidungen zustande. In Österreich ist es z. B. so, dass die Bundesverfassung in sehr vielen Staatsangelegenheiten eine zentrale Stellung für das Parlament vorsieht. Tatsächlich dominieren aber die Regierung und die Regierungsparteien weite Teile der Politik. So wird etwa in den Medien regelmäßig berichtet, dass ‚sich die Regierung auf ein Gesetz geeinigt hat‘. Selbstverständlich wird der Gesetzentwurf dann noch dem Nationalrat und dem Bundesrat zur Beschlussfassung vorgelegt. Aber selbst wenn dort nach intensiven Diskussionen noch Änderungen vorgenommen werden, bleibt in der Öffentlichkeit oft der Eindruck, dass letztendlich nicht das Parlament, sondern die Regierung Gesetze beschließt.“

Dass die Realverfassung zumindest in einem Punkt von der geschriebenen Verfassung abweicht, darauf verweist auch Ex-Vizekanzler Reinhold Mitterlehner in seiner politischen Abrechnung mit dem Titel „Haltung“:

Hubert Thurnhofer www.thurnhofer.cc

„Wer mit der Vorstellung ins Parlament kommt, er kann sofort mitgestalten, wird von der Praxis schnell eines anderen belehrt. Da geht es zuerst einmal um das Erlernen von Disziplin und Unterordnung, und zwar in jedem Klub.“ (S. 85)

„Es wird viel vom freien Mandat gesprochen, tatsächlich ist jedoch der Klubzwang sehr stark. Kaum einer getraut sich, in der Klubsitzung aufzuzeigen und auszusprechen, dass er etwa bei diesem oder jenem Beschluss nicht mitgehen würde. Im ÖVP-Klub hat sich ein fein gesponnenes, bewährtes Meinungsdämpfungssystem entwickelt. Die Klubarbeit ist in drei Arbeitsgemeinschaften (Bauern, Arbeitnehmer und Selbstständige) organisiert, dort können Kritiker Dampf ablassen, bevor eine Materie überhaupt in den Klub kommt. Vor allem für die Abgeordneten aus den Ländern, die nur für die Sitzungen nach Wien reisen, ist das praktisch. In der Arbeitsgemeinschaft ist ihr erster Zorn meist verpufft und im Klub sagen sie dann manchmal gar nichts mehr.“ (S. 86)

Was sagt dazu die Verfassung, konkret das B-VG Artikel 56? „Die Mitglieder des Nationalrates und die Mitglieder des Bundesrates sind bei der Ausübung dieses Berufes an keinen Auftrag gebunden.

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