Hilfe, die „Jetzt-erst-recht-Jahre“ kommen!

Je näher die Bundestagswahl rückte, desto schlechter wurde meine Laune. Zwar war zu erwarten, dass es einige Überraschungen geben wird, doch durch das Ergebnis wird sich am bestehenden Status Quo leider nichts ändern: Deutschland wird weiterhin von Angela Merkel regiert werden, was die nächsten vier zähen Jahre unter der Begleitmusik der Trillerpfeife geschehen wird. Als Begründung und Rechtfertigung für die zu erwartende gesellschaftliche Kakophonie bietet sich die AfD geradezu an und sie wird diese Rolle als zahlenmäßig starke Oppositionspartei spielen. Nicht bereitwillig, aber das wird sie. Dünnhäutig, reizbar, mit berechenbarem Explosionsradius und verbaler Subkultur – ein willkommenes Fressen für die „saubere“ Seite der Politik und ihre medialen Stichwortgeber und Lippenleser. Schon allein aufgrund der Tatsache, dass deren Abgeordnete im Gegensatz zu denen vieler anderer Parteien oft nicht durch jahrzehntelanges Schleifen im Politikfluss glatt und rund geworden sind, sondern unschöne, verletzende Kanten haben, sich deshalb häufiger als andere in Wortwahl und Tonfall vergreifen, beschuldigen, statt zu beweisen und zuschlagen, statt zu sticheln. Das ist nichts feines, zivilisiertes und der deutsche Michel wird denken „was sollen die Nachbarn denken“. Doch denen ist so etwas längst schnurzpiepegal, bei ihnen geht es oft noch deftiger zu, und der Vorwurf, im Grund nicht mal mit Messer und Gabel essen zu können und deshalb fehl bei Tische zu sein, ist bekanntlich auch nicht zum ersten Mal erhoben worden.

Es tut sich nun eine Tür auf zum Hinterhof des Parlaments und der Gestank des echten Alltags wabert hinein in den sterilen blaubemöbelten Saal. Über diese Seite der Realität hat man sich im Plenum sonst lieber in abstrakter Sachdebatte sittsam gestritten. Doch der Gestank ist sehr beredt und sagt: Es ist etwas faul, im Staate Deutschland und ihr alle habt keine Ahnung, warum ihr das Problem einfach nicht in den Griff bekommt.

Entgegen aller Unkenrufe ist es jedoch nicht die Demokratie, die in Gefahr geraten ist, unter die Räder zu kommen – und die Menschen merken das. Die Demokratie ist eine flexible Sache, die in sehr vielfältiger Form existieren kann. Die griechische Polis von Athen wird ja gerade in Berlin und Brüssel gern als deren Wiege gelobt. Dabei wird gern vergessen, dass die Staatsführung in Athen letztlich in der Hand einiger wichtiger Adelsgeschlechter lag und die Möglichkeit des Ämterzugangs abhängig war von der Höhe der gezahlten Steuern, Athen somit eher eine Timokratie als eine Demokratie war. Andererseits waren die Ämter im alten Athen zwar ehrenvoll, aber zeitlich begrenzt und finanziell nicht attraktiv, was zumindest tendenziell dafür sorgte, dass ihre Inhaber, die nur auf Zeit mit Macht ausgestattet wurden, durch Fehlentscheidungen selbst am meisten zu verlieren hatten.

Heute gibt es diese Verantwortlichkeit nicht mehr, denn unsere Spitzenpolitiker schaffen es stets, sich in ähnlicher Weise aus der Verantwortung zu stehlen, wie so mancher vielgescholtene Spitzenmanager eines geplünderten Unternehmens, der selbst dann noch Boni und Abfindungen einstreicht, wenn er selbst durch Fehlentscheidungen und Inkompetenz den Laden an die Wand gefahren hat. Ja, den Middelhoff ließ man schlussendlich nicht so einfach davonkommen, das ist jedoch eher die Ausnahme. Doch wieviele Politiker wurden in letzter Zeit für das zur Rechenschaft gezogen, was sie verzapft haben? Kurt Beck etwa für das finanzielle Debakel am Nürburgring? Nein. Warum sitzt Herr Wowereit nicht wenigstens bis zur Fertigstellung des Flughafens Berlin in Haft? Und wie kann es sein, dass Frau Merkel und einige ihrer Minister durch ihre einsamen Fehlentscheidungen in der Flüchtlingskrise ungestraft für eine zig-Milliarden-Belastung gesorgt haben, die sie argumentativ auch noch dreist mit einer kurzfristigen, schuldenbasierten Konjunktur zukleistern?

Der Paradigmenwechsel ist in der Politik unserer modernen Demokratie (außer in Teilen der Kommunalpolitik) längst vollzogen und jedem TV-affinen Politiker, der glaubt, unter dem Lorbeerkranz vom Erbe Griechenlands und der Wiege der Demokratie sprechen zu dürfen, halte ich entgegen, dass in Athen die Politiker Ehrenämter hatten und die Sprachlehrer bezahlt wurden. In Deutschland ist es heute eher andersherum.

Die Demokratie wird heute besonders von denen auf marmorne Sockel gestellt, die vom Polieren des Marmors leben. Demokratie garantiert jedoch nichts weiter als einen friedlichen, einvernehmlichen Machtwechsel zwischen konkurrierenden, sich aber nicht gänzlich ausschließenden Interessengruppen. Wie man in einem solchen demokratisch verfassten Land leben kann und warum man das überhaupt tun sollte, darüber sagt die Demokratie gar nichts aus. Der Begriff taugt also nicht als Monstranz, die man ehrfurchtsvoll vor sich her tragen kann. Eine Partei mehr oder weniger bringt die Demokratie schon gleich gar nicht ins Wanken! Streng genommen bräuchten sie die Parteien nicht einmal! In Artikel 21 GG steht „Die Parteien wirken bei der politischen Willensbildung des Volkes mit.“ – da steht nicht, dass sie Ausdruck dieser Willensbildung sein müssen, denn wozu sollte man dann noch wählen? Wir könnten genauso gut entscheiden, alle vier Jahre die Hälfte der Abgeordneten des Bundestages per Los unter allen passiv Wahlberechtigten Bürgern dieses Landes zu bestimmen, wir hätten auch dann noch eine Demokratie. Ebenso könnte man den Machtwechsel nach amerikanischem Vorbild organisieren, indem man alle vier Jahre das höchste Amt in den Ring wirft und ruft: „Möge der Cleverste gewinnen“. Dann stünden sich im Kanzlerduell bei ARD und ZDF am Ende eben nicht Merkel und Schulz gegenüber, sondern vielleicht Friede Springer und Susanne Klatten. Das war natürlich ein Spaß! In einem derartigen demokratischen System gäbe es sicher weder ARD noch ZDF!

In den nächsten Tagen werden sich also die Abgeordneten einer weiteren Partei auf den Weg in die politischen Labyrinthe von Berlin machen um ihre Fäden durch die Gänge zu ziehen und das zu tun, was Politikers Lieblingsvokabel ausdrückt: gestalten. Mir ist nicht mulmig bei dem Gedanken, da könnte jetzt eine Art von Politikern in das „hohe Haus“ einziehen, die es nach 1945 noch nie erblickt hat. Der Begriff „Nazi“ wurde in den letzten Jahren durch heftigen Missbrauch so rundgelutscht, dass sich kaum noch jemand daran stoßen kann – zumal JEDE andere Partei in dieser Sache selbst reichlich Leichen im Keller hat. Unredlichkeit oder Unehrlichkeit ist auch eine Kategorie, bei deren hitziger Verwendung schnell eigene alte Spendenaffären, Ehrenworte, Waffendeals und Schmiergeldaffären wie lästige Fettaugen an die Oberfläche gelangen könnten. Auch keine gute Idee. Mein Unwohlsein speist sich vielmehr aus der Ahnung, dass uns auch durch das Auftauchen von zehn weiteren politischen Parteien nicht geholfen wäre. Parteien kommen und gehen, das ist nichts Besonderes. Selbst 150 Jahre alte Exemplare genießen keinen Artenschutz. Der Politikbetrieb in Berlin ist jedoch das Ergebnis einer langen Entwicklung und Ausdruck eines ganz bestimmten Politikstils, welcher völlig unabhängig von den jeweiligen Regierungsfarben geworden ist.

Dieser Stil ist prägend in allem, was beschlossen und in Gesetze gegossen wird. Das äußert sich nicht zuletzt im Sprachgebrauch, wo es vor Aktionismen nur so wimmelt. Da wird beschleunigt, durchdrungen, reguliert, gerettet und gefördert, was das Papier tragen kann. Laden, zielen, schießen, hoffentlich treffen. In diesem Land wird längst keine Kugel mehr abgefeuert, wenn sie nicht durch die Läufe der Politik gerollt ist. Die Frage nach dem Primat zwischen Politik, Wirtschaft und Privatheit der Bürger wird nicht mehr gestellt, weil sie längst entschieden ist: Die Politik bestimmt alles. Keine Wahl hat bislang daran etwas geändert oder dies auch nur in Frage gestellt. Im Gegenteil. Stattdessen verzetteln sich unsere Bundesregierungen von Legislatur zu Legislatur immer mehr in Details, die sie nicht überblicken, geschweige denn beherrschen können und deren Auswirkungen sich diametral gegenüberstehen. Wenn man dem Dorfbewohner frische Luft und gleichzeitig dem Bauern das Ausbringen von Gülle zusichert, treffen sich am Ende beide mit Trillerpfeifen vor dem Kanzleramt.

Die Partikularinteressen, an denen die Politik erfolgreich zu schrauben glaubt, sind mittlerweile so unfassbar kleinteilig, dass deren Beherrschung zwangsläufig scheitern muss. Es ist, als führe Deutschland in einer 80-spännigen Kutsche – von außen prächtig anzusehen, aber der Kutscher kann die Zügel längst nicht mehr in der Hand halten, weil es einfach zu viele sind, also fährt er stur geradeaus und hofft auf gute Wege. Dazu kommt in einer ziemlich fiesen aber zutiefst menschlichen Feedbackschleife die Neigung der Bürger, auf jede Ansage „Ich regle das für dich“ achselzuckend mit „Na dann mach mal“ zu reagieren. Die Anzahl der Bürger, die aufgrund solcher Versprechen berechtigte Forderungen gegen den Staat erheben, welcher ihrer Meinung nach seine Pflichten nicht erfüllt, wird immer größer. Und damit zwangsläufig auch die Enttäuschung, weil die Politik einfach nicht liefern kann.

Und diese Enttäuschung wird wachsen in den nächsten vier Jahren, weil es „Jetzt-erst-recht-Jahre“ sein werden und die Bundespolitik noch schönere Luftschlösser bauen wird und weiter den großen Taktstock schwingt, nur um zu beweisen, dass die Musik noch nicht aufgehört hat, zu spielen. Doch im Orchester sitzen Sie und ich und ich denke, es ist an der Zeit, der nächsten Bundesregierung klar zu machen, dass sie nicht so tun muss, als sei sie musikalisch und könne uns den Takt vorgeben. Es würde schon genügen, wenn sie im Foyer die Garderobe besetzt, die Karten abreißt, für Sicherheit sorgt und uns ansonsten in Ruhe Musik machen lässt. Denn nicht die Demokratie ist in Gefahr, sondern unsere persönliche Freiheit, genau jene Musik zu spielen, die uns gefällt. Ohne Gleichstellungsbeauftragte für unterprivilegierte Triangeln, ohne „Black keys matters“ für Pianos und ohne Quote für musikalische Analphabeten an Oboe und Bratsche.

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