SERIE: ÄNGSTE, ZWÄNGE, DEPRESSIONEN, SÜCHTE, AUS PSYCHOANALYTISCHER SICHT FOLGE 2 | UNBESTIMMTE ÄNGSTE

Solche Angstzustände entstehen scheinbar völlig unabhängig von realen Auslösersituationen. Sie haben keine bestimmten Inhalte, werden vielmehr als diffuse, nicht näher bestimmte Angstzustände wahrgenommen und machen sich oft über einen längeren Zeitraum hin bemerkbar. Oft gehen sie mit Ein- oder Durchschlafstörungen einher, führen zu Muskelverspannungen und Ruhelosigkeit und beeinträchtigen die Aufmerksamkeitsfähigkeit. Ängstliche Menschen wirken oft fahrig und unkonzentriert. Üblicherweise treten diese Ängste als Reaktion auf belastende Lebensumstände auf oder sind ein Hinweis auf ungelöste, verdrängte psychische Konflikte. Das Ausmaß der Angst kann aber auch ein Gradmesser für den Schweregrad einer psychischen Störung sein. So beginnen Psychosen oft mit schweren Angstzuständen, Verfolgungs- oder Weltuntergangsängsten.

Beatrix wird von unbestimmten Ängsten geplagt. Sie hat sich trotz einer schweren Kindheit vom Leben nicht unterkriegen lassen. Ihre Mutter war eine psychisch kranke Frau, ihr Vater Alkoholiker. Seit dem 17. Lebensjahr steht sie mehr oder weniger auf eigenen Beinen. Die Matura absolvierte sie mit Auszeichnung, danach wandte sie sich mit Elan dem Medizinstudium zu. Alles in allem war sie eine junge, lebenslustige Studentin. Zu Beginn des zweiten Studienabschnittes lernte sie Paul kennen, der gerade mit dem Turnus begonnen hatte. Schon nach kurzer Zeit heirateten sie und bald darauf stellte sich Nachwuchs ein. Neben der Kinderbetreuung fand Beatrix genug Zeit, um ihr Studium fortzusetzen. Als ihre Tochter fünf Jahre alt war, schloss sie es erfolgreich ab.

Obwohl ihre Ehe harmonisch verlief – Beatrix stellte ihrem Mann ein hervorragendes Zeugnis aus, er sei ihr Mutter und Vater in einer Person gewesen –, traten bei ihr knapp vor Studienende zum ersten Mal unerklärliche Angstsymptome auf. Die Angstzustände hatten keinen bestimmten Inhalt, waren eher diffus und fühlten sich dumpf an. Es dauerte nicht lange und Beatrix zog sich immer mehr zurück. Am liebsten war es ihr, wenn sie sich zu Hause mit einem Buch in ihrem Ohrenfauteuil vergraben und die Welt rund um sich vergessen konnte. Es fiel ihr immer schwerer, die Wohnung zu verlassen. Bald ging sie nur mehr außer Haus, um ihre Tochter vom Kindergarten abzuholen und notwendige Einkäufe zu erledigen.

Beatrix fiel auf, dass ihre Ängste immer dann nachließen, wenn ihr Mann anwesend war. In seiner Begleitung konnte sie auch problemlos das Haus verlassen. Gleichzeitig hatte sie Träume, die sie beunruhigten. Sie träumte von einem nächtlichen Friedhofsbesuch mit ihrem Mann. Andächtig verweilten sie eine Zeit lang vor einem unbekannten Grab. Dann entfernte sie sich ein paar Schritte und stand plötzlich vor einem verwilderten Kindergrab. Auf dem verwitterten Holzkreuz war ein Name eingraviert, der sie an einen Kosenamen ihrer Tochter erinnerte, als diese noch ein Kleinkind war. Sie schreckte hoch. Im Aufwachen verspürte sie, wie ihr Herz heftig klopfte. In einem anderen Traum befand sie sich wieder im Sezierkurs. Sie musste einen Unterschenkel sezieren. Dabei fiel ihr eine große Narbe auf, so wie auch ihr Mann als Folge eines Motorradunfalls eine hatte.

Im Laufe der Analyse, die Beatrix wegen ihrer Angstzustände begann, wurde klar, dass sie sich mit ihrem Mann zwar von jeher gut verstanden, ihn aber nie wirklich geliebt hatte. Ihr Sexualleben bezeichnete sie als durchschnittlich. Zum Orgasmus wäre sie bei ihrem Mann noch nie gekommen, doch sei ihr Sexualität nicht so wichtig. Viel wichtiger sei ihr das Kuscheln und das könne sie mit ihm nach Herzenslust. Tatsächlich unterhielt sie zu ihrem Mann mehr eine freundschaftliche als eine Liebesbeziehung. Ihre sexuellen Zusammenkünfte empfand sie als Pflichterfüllung. Noch bevor sich die Angstzustände bei Beatrix bemerkbar machten, hatte sie eine Zeit lang das Gefühl, dass ihr nach Beendigung des Studiums die Welt offen stünde. Umso bewusster nahm sie die Einschränkungen wahr, die ihr aus Ehe und Familie erwuchsen. Doch maß sie diesem Umstand keine besondere Bedeutung bei. Im Gegenteil, so schnell es ging verscheuchte sie diese Gedanken aus ihrem Kopf.

Es dauerte lange, bis sich Beatrix die Bedeutung ihrer Träume eingestehen konnte. Nach und nach fiel ihr ein, dass sie schon bald nach der Geburt ihrer Tochter immer wieder daran denken musste, wie traurig es wäre, wenn ihr etwas zustoßen würde. Aus der Kinderheilkunde wusste sie, an welch gefährlichen Krankheiten Kinder erkranken konnten. Immer wieder vermeinte sie an ihrer Tochter bedrohliche Symptome wahrzunehmen, die sich bald danach zum Glück als haltlos herausstellten.Nach und nach wurde Beatrix bewusst, dass es in ihr einen Teil gab, der sich von der familiären Verpflichtung, die sie sich schon früh aufgebürdet hatte, erdrückt und überfordert fühlte. Beatrix liebte ihren Partner und ihre Tochter, aber gleichzeitig sehnte sie sich auch danach, frei zu sein und für niemanden mehr Verantwortung übernehmen zu müssen.

Ohne dass es ihr bewusst war, wuchsen gleichzeitig mit ihrem Freiheitsdrang die Aggressionen gegen ihre Familie. In ihren Träumen löste Beatrix diesen Ambivalenzkonflikt auf sehr direkte Art, indem sie Mann und Tochter sterben ließ. Allerdings hätte Beatrix die Traumlösung im Wachen niemals akzeptiert und schon gar nicht herbeigesehnt. Trotzdem wies ihr das Traumverständnis den richtigen Weg, indem es sie an ihre unterdrückten Aggressionen heranführte. Sobald Beatrix die widersprüchlichen Wünsche hinter ihren Angstzuständen erkennen konnte, war es ihr auch möglich, reale Änderungen in der Beziehung durchzuführen, die zu einer Entspannung ihrer Lebenssituation beitrugen.

Dort wo Menschen bereit sind, sich ihren Ängsten und Befürchtungen zu stellen, sind ihre Inhalte ein ausgezeichneter Wegweiser zu den verdrängten Wünschen. Natürlich ist es nicht leicht anzuerkennen, dass Sorgen um das Wohl eines Menschen Ausdruck einer Reaktionsbildung auf unbewusste Todeswünsche sein können, die diesem gelten. Da der Hintergrund der Angstzustände meist im Verborgenen liegt, ist die Aufdeckung der am Konflikt beteiligten Kräfte der erste und wichtigste Schritt bei der Behandlung von unbestimmten Angststörungen. Immer wieder machen sich Angstkranke die angstreduzierende, spannungslösende Wirkung von Alkohol oder anderen Substanzen zunutze. Solche Selbstheilungsversuche bergen allerdings ein hohes Suchtrisiko. Nicht selten ist die Angstneurose Ursache für Alkoholismus, Medikamenten- oder Drogenabhängigkeit.

Bei Fragen erreichen Sie mich telefonisch unter +699 1717 0264 und via E-Mail unter w.hoffmann@ifat.at

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Watzlawick

Watzlawick bewertete diesen Eintrag 13.08.2019 11:32:09

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