Der letzte Zug Richtung Transzendenz

Ich schreibe am liebsten so, wie ich reise: in einem Zug. Weil ich gerade in einem solchen von Salzburg nach Wien fahre, habe ich Zeit für die Kontemplation. Unter Ausschaltung allen Wollens versinke ich im gut gepolsterten Sitzplatz, blicke auf die vorbeigleitende Landschaft und höre mir beim Denken zu. Das Gute am Denken ist ja, dass es keinen Lärm macht. Und so lausche ich meinem Gehirn, wie es lautlos interessante Gedanken formuliert: Sei gebannt, du öde Kurtisanin Aktualität, schimpft es. Mach Dich aus dem Staub, außenpolitischen Tristesse! Weichet ihr langweiligen Büromenschen-Themen! Ich pfeife auf Euch und schreibe lieber über irgendwas. Etwa übers Zugfahren. Also greife ich in meine Reisetasche, ziehe meinen elektronischen Schreibbehelf heraus, klappe ihn auf und beginne zu tippen.

Die königlichste Art der Fortbewegung ist immer noch mit der Bahn. Man steigt ein, nimmt Platz, lehnt sich zurück und lässt sich wie von Zauberhand von einem Ort zum andern befördern. Wenn man dabei die Augen schließt und sich die Versiegelung dazu denkt, dann fühlt man sich wie einst Wladimir Iljitsch Lenin im plombierten Sonderzug von Zürich nach St. Petersburg. Wem aus weltanschaulichen Gründen die Vorstellung zuwider ist, sich wie ein exilierter Revolutionär fortzubewegen, der noch dazu im Begriff ist, in Bälde ein Zarenreich zu stürzen und ein Unrechtsregime aus dem Boden zu stampfen, der möge auf politisch weniger problematische Zugfantasien zurückgreifen. Man kann sich in Hercule Poirot hineinversetzen, wie er im Orient Express einen Mord aufklärt. Oder Lee Marvin und Keith Carradine in Personalunion sein, die im Film „Ein Zug für zwei Halunken" von 1973 zwei blinde Passagier spielen und sich mit dem sadistischen Zugführer Ernest Borgnine ein ausgefuchstes Katz-und-Maus-Spiel liefern.

Leider wird die Ruhe im Abteil immer wieder jäh gestört. Und damit wären wir schon beim einzigen Nachteil des Bahnverkehrs: die Lautsprecher-Durchsagen. Diese sicherlich gut gemeinten Informationsaufdrängungen reißen den zugfahrenden Tagträumer jedes Mal verlässlich aus dem Zen. Schlimm, sicher, aber auf der anderen Seite sind diese Durchsagen streckenweise auch ziemlich lehrreich. So weiß ich dank der mehrsprachigen Zugansagen der Österreichischen Bundesbahnen, dass es mit Leoben tatsächlich eine Stadt gibt, die englisch-steirisch ausgesprochen alle Vokale hintereinander und in der richtigen Reihenfolge enthält: „Next stop Laeiouben."

Die oberste Pflicht des Zuggastes ist die Weiterbildung aber nicht. Man kann auch ganz andere Dinge tun. Wie zum Beispiel nichts. Oder schlafen. Oder mit dem Schaffner plaudern. Oder zügig durch die Gänge gehen, um Mitreisende zu beobachten. Oder heimlich am Klo rauchen. Oder im Speisewagen überteuertes Aufgewärmtes bestellen. Man kann während einer Bahnfahrt aber auch vortrefflich schreiben. Währen die Lokomotive mit den Wagons über die Schiene rattert und Zug- wie Menschenkörper sanft in Schwingungen versetzt, gleiten die Fingerkuppen behände über die Tastatur und füllen die elektronischen Seiten des Textverarbeitungs-Programms fast wie von Zauberhand. Und sollte der verdrießliche Fall eintreten, dass zwischendurch der Stoff ausgeht, dann schreibt man schnell einen Zugaphorismus hin. Zum Beispiel diesen von Jean Cocteau: „Ein Dichter ist ein Wesen, das imstande ist, eine Pfeife zu verschlucken und dafür eine Dampflokomotive auszuspucken." Okay, weder weiß ich, warum sich ausgerechnet ein Regisseur als Zugexperte aufspielt, noch was der Filmemacher uns hiermit sagen will, ja streng genommen bin ich mir nicht einmal sicher, ob es sich in diesem Fall um einen Zugaphorismus im engeren Sinn handelt, aber ich trotzdem finde ich, dass sich das merkwürdige Bonmot an dieser Stelle im Text nicht schlecht macht.

Apropos schlecht: Ein weiterer Vorteil von Zugreisen ist, dass einem im Unterschied zur Autobusfahrt nicht schlecht wird. Und weil wir gerade beim Thema sind: Nicht schlecht gestaunt habe ich vor wenigen Stunden am Salzburger Hauptbahnhof. Dort erblickte ich etwas, was ich eigentlich für ausgestorben hielt. Nein, keinen Säbelzahntiger, aber immerhin fast: Einen Menschen mit einem Koffer ohne Räder. Ich war nicht der einzige Zeuge dieses seltenen Spektakels. Auch andere Bahnhofspassanten beobachteten den unauffällig aussehenden Mann fasziniert dabei, wie er die wunderliche Gerätschaft umständlich und mühevoll mit der rechten Hand quer durch die Halle schleppte. Ein Koffer zum Tragen? Ältere Semester erinnern sich vielleicht. Bis in die frühen 90er-Jahre des vergangenen Jahrhunderts gab es nichts anderes. Was eigentlich bemerkenswert ist. Denn weitläufige Trolley-Verwandte wie der Handwagen oder die Sackkarre waren zu diesem Zeitpunkt bereits seit vielen Jahrhunderten in Gebrauch. Und direkte Trolley-Vorfahren, wie das Ding, in dem Golfspieler ihre Schläger übers Green befördern, gibt es sicher auch schon seit 100 Jahren. Dass bis circa 1990 niemand in der kofferproduzierenden Zunft auf die Idee gekommen ist, unten am Reisebehälter Räder dranzuschrauben, ist eines der größten ungelösten Rätsel überhaupt. Ich meine: Wie kann es sein, dass eine so simple Konstruktion wie ein Koffer mit Rollen erst viele Jahre nach dem Heimcomputer, der Antibabypille, dem Wolkenkratzer und dem Überschallflug in Serienfertigung gegangen ist. Im Pantheon der menschlichen Mysterien nimmt der Trolley damit zu Recht einen Ehrenplatz ein – gleich neben den Großen Pyramiden von Gizeh, dem Entstehen des menschlichen Bewusstseins, den Steinköpfen auf den Osterinseln und dem globalen Siegeszug des Musicals. Mehr noch: Die Tatsache, dass sogar die bemannte Raumfahrt viele Jahrzehnte vor dem Trolley erfunden wurde, erzählt zweifelsohne etwas ganz Essentielles über das Wesen des Menschen. Was genau, weiß ich leider im Moment auch nicht.

Ich weiß aber was anderes: Dieser Text biegt in die Zielgerade und ich habe ihn tatsächlich in einem Zug geschrieben. Dass mir das so manche Neider nicht glauben mögrn, wirft mich jetzt auch nicht aus der Bahn. Wäre auch überflüssig. Denn in wenigen Minuten erreicht der Zug die Endstation und dann muss ich ohnehin aussteigen. So, damit hätte ich die letzte Pointe auch noch fahrplanmäßig auf Schiene gebracht.

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Silvia Jelincic

Silvia Jelincic bewertete diesen Eintrag 14.12.2015 23:17:03

Miki

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Gudrun Krinzinger

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fischundfleisch

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