Anmerkungen zur Postmoderne (2): Von Archetypen und Stereotypen

Über die neueste Hysterie der sog. „kulturellen Aneignung“ und dem „canceln“ der Winnetou Geschichten und Filme gibt es eigentlich wenig zu sagen, was nicht schon gesagt wurde. In etwas anderer Hinsicht aber zeigt es in sehr anschaulicher Weise auf, wie die postmoderne Auffassung bezüglich des Kulturphänomens der Geschichtenerzählung agiert.

Bücher, Filme, Theaterstücke, usw. sind Ausdrucksformen die allesamt der Tradition des Geschichtenerzählens folgen, und das Erzählen von Geschichten ist mindestens so alt wie die Sprache selbst. Geschichten dienen seit jeher um Ideen, Wissen, Geschehnisse, Traditionen, Erkenntnisse und andere Gedanken weiterzugeben, auf eine Art in der der menschliche Geist besonders empfänglich darauf wirkt. Bis heute haben Geschichten diese Wirkung, und so kennen viele Leute historische Ereignisse eher aus Verfilmungen oder anderen Fiktionalisierungen, statt aus dem nüchternen Studium von Geschichtsschreibung. Geschichten sind niemals objektiv, sie definieren sich im Grunde dadurch, dass sie subjektive Erzählungen sind, sei es eines wahrhaftigen Ereignisses oder einer erdachten Fiktion, und auch wenn die Geschichte sich innerhalb einer gewissen Realität abspielt, so ist der Kern einer Geschichte nicht die oberflächliche Darstellung solcher Realität, sondern das innewohnende Archetyp. Es ist dieses Archetyp welches einer Geschichte Sinnhaftigkeit verleiht. Wenn man von der „Moral von der Geschichte“ spricht, so ist dies nichts weiter als das Archetyp, welches die Geschichte übermittelt. Dies muss natürlich nicht unbedingt im einfachen Sinne eine solche Moral sein, sondern kann auch komplexe Phänomene unseres Lebens und unserer Realität aufzeigen. Das ist es, was der Geschichte einen Wert gibt, und weshalb Geschichten in der Entwicklung der Menschheit in allen Kulturen immerzu als Leitfaden der kulturellen Beschaffenheit präsent gewesen sind.

Die ganze Polemik um die Winnetou-Geschichten setzt den Fokus aber fundamental anders, nicht auf die Archetypen, sondern die Stereotypen. Nicht die Intention der Geschichte zählt, sondern die Identitäten. Dies ist eine markant postmoderne Ansicht, worin auf das Abbild bzw. die Fassade ein grösserer Wert gelegt wird, als auf den Inhalt, ein Verhalten das immer allgegenwärtiger wird, in allen Bereichen des Lebens. Nur das Sichtbare zählt, nicht das Wesentliche; Form geht über Funktion; Schein über Sein. Bei neuen Film- und Fernsehproduktionen wird, ebenso, der identitäre Aspekt in den Vordergrund gerückt, während der archetypische Aspekt nicht von Relevanz scheint. Der Tatort, der in der Neonazi-Szene spielt, hiess es dann; oder kürzlich in einem schweizer online-Medium gesehen, ein gesponserter Beitrag betitelt „Absurde Komödie legt sich mit Verschwörungstheoretikern an“; und beim neuen Game of Thrones Spinoff wurde zum Teil direkt mit der „diversen“ Besetzung geworben. Worum es aber in den jeweiligen Geschichten geht, was daran eben unterhaltsam sein soll, scheint weniger wichtig.

Betrachten wir zum Vergleich den Trailer vom Film „The Maltese Falcon“ (dt. „Die Spur des Falken“), einem Film von 1941: Er beginnt mit Sydney Greenstreet, der sich an das Publikum wendet, und von einem Falken, der das Geheimnis von unglaublichem Reichtum unter seinen „grotesken“ Flügeln hat, und der viele Geschichten mit sich führt, von Leuten die diesen Falken gejagt haben, welche alle mit Mord enden. Er weist uns hin, die nachfolgenden Personen zu betrachten, die alle von der Gier verzehrt wurden. In wenig mehr als einer halben Minute hat uns Herr Greenstreet bereits Archetypen von archaischen Mysterien, Gier und Mord vorgeführt. In der darauf folgenden Szene fragt Humphrey Bogart verärgert Mary Astor, was sie ihm jemals gegeben hätte, ausser Geld, ob sie ihm jemals Vertrauen gegeben hätte oder die Wahrheit, ob sie denn seine Loyalität nur mit Geld hätte kaufen wollen und nichts anderem. Verzweifelt antwortet sie, was es denn sonst gäbe, womit sie ihn kaufen könnte. Daraufhin greift Bogart sie an den Wangen und gibt ihr einen Kuss. Fünfzig Sekunden Trailer, und wir haben nichts über irgendwelche Identitäten oder Stereotypen mitbekommen, aber wohl über ein halbes Dutzend narrativer Archetypen: Geheimnisse, Gier, Mord, Lügen, Opportunismus, Begierde.

Indem die Bedeutung von Archetypen in den Hintergrund rückt, und stattdessen die Identitäten zum Hauptaugenmerk werden, verlieren die Geschichten im Grunde ihre raison d'être, da sie keinen wirklich substanziellen Inhalt mehr besitzen, sondern zu einer Reihe von identitären Vignetten reduziert werden, welche somit auch nichts anderes als ideologische Kolportage sind: Anstatt einer Lektion über das Leben und die Realität, soll der Zuschauer lediglich identifizieren, welche Identitäten, Ideologien und Überzeugungen gut sind, und welche schlecht. Wenig mehr also, als in Unterhaltung gewickelte Indoktrination.

Solche Geschichten werden im Grunde nicht mehr organisch Wahrgenommen, sofern die Aufmerksamkeitsspanne des Zuschauers überhaupt noch eine Wahrnehmung des Gesamtwerkes erlaubt, statt einfach nur von unzusammenhängenden erzählerischen Skizzen. Denn, obgleich es keine Regel und kein Gesetz gibt, welche besagen, wie eine Geschichte gesponnen sein muss, aus hunderten, tausenden von Jahren der menschlichen Entwicklung schliesslich die Erkenntnis hervor ging, was dem Geist bekömmlich ist und was nicht, ebenso wie wir erkennen, welche Nahrung unserem Körper bekömmlich ist und welche nicht.

Diese Entwicklung ist Zeugnis des zeitgeistlichen Wandels in der Postmoderne, worin die Realität nicht mehr rational erkannt werden soll, sondern die Form zuvor definierter Schablonen annehmen soll. Ebenso spiegeln die Geschichten nicht mehr Elemente der Realität wieder, sondern geben Elemente einer vermeintlichen Realität vor, welche aber gar nicht als solche existiert. Das „canceln“ von Winnetou, obgleich schäbig, ist schlussendlich nur ein Symptom eines geistigen Zerfalls, vom Verlust des Sinnes für Geschichten, für Archetypen, und schlussendlich, des Sinnes für die Realität selbst.

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