Psychische Erkrankungen nehmen rasant zu und gelten mittlerweile als häufigster Grund für Krankenstände, Arbeitsunfähigkeit, Suizid und Kostenanstieg im Gesundheitssystem. Betroffenen wird geraten, möglichst frühzeitig Hilfe zu suchen und sich an Psychiater, Psychologinnen oder psychiatrische Kliniken zu wenden. Das wäre richtig und sinnvoll, wären damit nicht unabschätzbare Risiken verbunden, vor denen zu warnen leider verabsäumt wird. Wie die Dinge derzeit liegen, kann man Menschen mit seelischen Problemen nur unter Vorbehalt dazu raten, sich zu outen und Ärzten anzuvertauen, denn hat man einmal den Stempel mit der Aufschrift “psychisch krank” in der Akte, riskiert man nicht nur Stigmatisierung und Ausgrenzung, sondern noch viel mehr, seine Menschenrechte und seine Freiheit nämlich.

Ich las gerade eine Storyin der Nordwest Zeitung. In der deutschen Stadt Cloppenburg begeht ein junger Mann eine Serie von Diebstählen. Er knackt Umkleidekabinen auf und entwendet Handys. Eigentlich ein klarer Fall für das Gericht. Mehrere Einbruchsdiebstähle ergeben mehrere Monate Haft. Falls der Täter unbescholten ist, bedingt auszusprechen. Der Handydieb in Cloppenburg leidet aber an Schizophrenie, was ihm zum Verhängnis wird. Ein Psychiater wird hinzugezogen und unterstellt, dass “weitere schwerwiegende Taten” zu erwarten seien. Das Gericht sieht eine “Gefährdung der Allgemeinheit” und verhängt eine zeitlich unbegrenzte Unterbringung des jungen Mannes in der forensischen Psychiatrie. Für das Klauen einiger Mobiltelefone verliert der bedauernswerte Mensch nun vielleicht für immer, sicher aber für viele Jahre seine Freiheit. Korrektur: Nicht wegen der Diebstähle wird er eingesperrt, sondern für Taten, die er nie begangen hat, aber laut Gutachtermeinung vielleicht begehen könnte.

Es ist Standard geworden, Menschen mit psychiatrischen Vorgeschichten aus dem allgemeinen Rechtsstaat auszusperren. Was einst gut gemeint war, nämlich psychologische und psychiatrische Aspekte bei der Schuldfindung und der Urteilsbemessung zu berücksichtigen, ist zu einem reinen Wegsperrsystem verkommen, zu einem, man muss es so hart ausdrücken, Terror-Instrument, das immer öfter dazu benutzt wird, die Gesellschaft von “Störenfrieden” zu säubern. Und keiner soll meinen, das beträfe “nur” schwere Formen psychischer Erkrankungen. Den Gerichten und den Gerichtspsychiatern ist es reichlich egal, ob in der Akte “paranoide Schizophrenie mit halluzinatorischem Wirklichkeitsverlust” oder “Depression” steht. Vorgegangen wird nach dem Maßstab “irre ist irre”. Wer in psychiatrischer Behandlung war oder ist, egal weswegen, muss damit rechnen, wegen Bagatelldelikten bestraft zu werden wie ein Schwerverbrecher. Sogar schlimmer als ein Schwerverbrecher, denn der kann sich in etwa ausrechnen, wann er wieder frei sein wird. Wer aber im “Maßnahmenvollzug” landet, also in der Irrenanstalt für “geistig abnorme Rechtsbrecher”, wird jeder Rechtsssicherheit beraubt und kann, wenn die Ärzte das wollen, dort für immer festgehalten werden. Etwas Schlimmeres und Inhumaneres ist kaum vorstellbar.

Neben dieser akuten Gefahr riskieren Menschen, die sich wegen psychischer Probleme behandeln lassen, auch die Entmündigung. Die heißt zwar nicht mehr so, wird aber umso häufiger verhängt. Immer öfter verlieren Menschen große Teile ihrer Rechte, weil sie zB im Streit um´s Sorgerecht für Kinder, im Zuge von Erbschaftskonflikten oder einfach nur aus Bosheit als “verrückt” denunziert werden und willfährige Gerichte diese Leute unter Sachwalterschaft stellen. Zehntausende leben inzwischen als besachwaltete Menschen zweiter Klasse, die bei Anwälten oder Notaren, die ihre Bankonten ebenso unter Kontrolle haben wie die Entscheidung über Wohnsitz und Arbeitsplatz, um Taschengeld betteln müssen. Mit der Ausrede, helfen zu wollen, infantilisiert ein Apparat aus Sozialarbeitern, Richtern und Psychiatern immer mehr Leute aus immer geringfügigeren Anlässen. Oft reicht es bereits, alt und dadurch ein wenig langsamer als ein 20-Jähriger zu sein, um Teilen seiner bürgerlichen Freiheiten verlustig zu gehen.

Einerseits ratifizieren die Regierungen Behindertenkonventionen der UNO und setzen langsam das Konzept der Inklusion durch, andererseits haben sie alle Fortschritte, die zB durch die Psychiatriereformen erreicht wurden, mittels der Psychiatriesierung des Strafrechts wieder rückgängig gemacht. Einerseits predigen sie frühzeitige Behandlung und Enttabuisierung psychischer Krankheiten, andererseits haben sie ein System aufgebaut, das Angst und Schrecken verbreitet und psychisch auffällige Menschen mit Entmündigung und sogar Einkerkerung bedroht. Einerseits reden sie alle davon, der immer weiter steigenden Zahl seelischer Erkrankungen durch Vorsorge und Behandlung zu begegnen, andererseits lassen sie die psychiatrischen Kliniken sträflich unterfinanziert, was dann zu skandalösen Vorgängen wie der Fesselung von Patientinnen und zur Unterbringung in Schlafsälen führt. Das passt alles nicht zusammen.  Immerhin scheint es sich nach etlichen aufgedeckten Skandalen bis in die Politik herumgesprochen zu haben, dass die bisherige Praxis des "Maßnahmenvollzugs" nur schwer mit den Menschenrechten vereinbar ist. Reformen wurden angekündigt. Man darf gespannt sein, ob auch wirklich welche kommen werden.

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Silvia Jelincic

Silvia Jelincic bewertete diesen Eintrag 14.12.2015 23:16:59

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