Ingrid Brodnig will Schutz, wird aber keinen kriegen

Vorige Woche, am Freitag, hat Ingrid Brodnig ihren Lieblingsvortrag wiederholt -- dieses Mal unter dem Titel "Kommentarkultur und Hate Speech im Netz". Es ging um Beleidigungen und Verschwörungstheorien. Gelernt hat Ingrid Brodnig seit den letzten Darbietungen nichts. Für sie ist das Internet immer noch so eine Art Leitmedium, das die Autorin und Journalistin moderiert und zivilisiert haben will. Ihr Blickwinkel auf das Internet ist auf die Kommentarfunktion unter den Artikeln der Tageszeitungen und auf Facebook-Beiträge beschränkt.

Hier die Liste der Internet-Probleme in Ingrid Brodnigs Anklage:

  • "Zersplitterung der Öffentlichkeit" in "Echokammern" von Gleichgesinnten
  • niederschwelliger Zugang zu Verschwörungstheorien
  • die Verheißung des Internet als "egalitärer Raum" ist geplatzt
  • Belohnung der aggressiven Rüpel -- mehr Glaubwürdigkeit und mehr Likes durch Beleidigungen
  • wer mehr und öfter Kommentare schreibt wird mehr gelesen
  • fehlende Sanktionen bei Beleidigungen oder Verschwörungstheorien

Wichtige wörtliche Zitate

  • "Es ist eben ein Irrtum, das im Internet jede Stimme und jeder User gleich schützenswert ist"
  • "Eine Diskussionskultur, in der Verschwörungstheorien gleichrangig mit wissenschaftliche [sic] Fakten behandelt werden, ist nicht schützenswert
  • "Das bedeutet, dass Webseitenbetreiber und Onlinemedien mehr Verantwortung für Tonalität übernehmen müssen"
  • "Eine Diskussionskultur, in der Verschwörungstheorien gleichrangig mit wissenschaftliche [sic] Fakten behandelt werden, ist nicht schützenswert"
  • "Diese schimpfwortfreien Räume sind nicht nur eine Frage des Geschmacks"

In der Freitag-Ausgabe des Vortrags wies eine Dame im Publikum Ingrid Brodnig darauf hin, dass diese Internet-Probleme in China bereits gelöst seien. Dort würden erhebliche Mittel an Software und Personal für Sonnenschein und Niveau am Internet sorgen. Die Seele dieser Polemik ignorierte Ingrid Brodnig in einer längeren Schilderung von Cybermobbing an einer chinesischen Tierquälerin.

TJSMIT10 https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Pamphleteer.jpg

Erhebung der Bassena

Nun, kein gebildeter, aufgeklärter Mensch wird Ingrid Brodnigs Auffassung entgegentreten, dass intellektuelle Redlichkeit, Sittlichkeit und Wahrheitsliebe in Online-Foren auf der Strecke bleiben, aber gebildete und aufgeklärte Menschen waren immer sehr selten. Für den Rest der Menschheit waren Debatte und Hetze nie mehr als Zeitvertreib, Zerstreuung, Trost -- einst an Bassena und Stammtisch, heute online.

Neu ist bloß, dass im Internet die kleinen Leute die Reichweite von Leitmedien haben und lieber einander zuhören als den Ausführungen von erlauchten Redakteuren und Redactricen. Das ist tatsächlich unfair, wie eine nähere Betrachtung zeigt.

Das Ende einer Abmachung unter Gentlemen -- und der Gentlemen

Zur Erinnerung: seit dem 18. Jahrhundert gibt es einen stillschweigenden Gesellschaftsvertrag zwischen Presse und Republik, zwischen Bürger(in) und Journalist(in). Das Privileg der Massenkommunikation per "Leitmedium" war und ist an hohes Berufsethos und Verantwortung geknüpft, ähnlich wie bei medizinischen Berufen. Leitmedien dürfen nicht in die Irre leiten. Mit dem Internet hat sich die Verknüpfung zwischen Massenmanipulation und Verantwortung in Luft aufgelöst. Unfairerweise sind Hinz und Kunz völlig frei von Presserat oder Berufseiden auf das amtlich Legitimierte. Die unsichtbaren Massen an Massenmenschen können z.B. im Standard-Forum durch pointierte Hetze eine Stampede gegen ehrenwerte Verfasser und gewählte Vertreterinnen auslösen. Das tun Hinz und Kunz auch gerne. Jeden Tag. Die Leitmedien gestatten ihnen das aus einem simplen Grund. Derlei Äußerungen sind inzwischen die Hauptattraktion jeder Tageszeitung am Web. Strengere Moderation würde den letzten Rest an LeserInnen vertreiben, denn dann wären die Foren unter den Artikeln genauso brav wie die redaktionell ausgewogene, objektive Berichterstattung. Dafür gibt es keinen Markt, auch bei Facebook nicht. Wie sich gezeigt hat, ist gepflegter Diskurs ungefähr so breitenwirksam wie Opernbesuche.

Meinung ohne Balken

Diese Erscheinung der modernen Wissensgesellschaft macht Ingrid Brodnig sichtlich nervös. Vielleicht wiederholt sie ihre Vorträge zu therapeutischen Zwecken. Dabei hat die Web-Fachfrau die wirklich launigen und stürmerischen Räume des Internet offenbar noch gar nicht erblickt. Das wird auch besser sein, denn empfindsame Menschen können in den mutwillig geschmacksfreien Räumen, den Kloaken der Ausgrenzung und Vorurteile, den reaktionären Echokammern des Hasses und der Verleumdung, glatt vom Schlag getroffen werden. Kleine Leute suchen diese Bereiche am Internet zur Unterhaltung und zur eigenen Belehrung auf, und sie üben immer mehr Einfluss aus. Den Betreibern und Besuchern von Websites ist egal, was Politiker oder Ingrid Brodnig davon halten. Diese Plattformen sind keine Leitmedien, folgen keinem Presserat und fühlen sich alleine ihrem Publikum und ihrer jeweiligen Agenda verpflichtet, z.B. Hitler, Tarot oder Echsenmenschen. Ingrid Brodnig ist im Irrtum, wenn sie meint, der ekelhafte Reigen entstünde unter den Artikeln der JournalistInnen oder auf Facebook. Dieser Niederschlag reflektiert bloß, was anderswo am Internet gelehrt, gelernt und erörtert wird.

Neu sind Hetze und Irrlehren natürlich nicht. Aberglaube und spinnerte Autoren und zynische Verleger sind mindestens so alt wie der Buchdruck mit beweglichen Lettern. Allerdings kann sich das Publikum aus verirrten Schäfchen heute jederzeit selbst davon überzeugen, wie gewaltig sie sind. Zur Zeit der billig kopierten Pamphlete auf der Gasse fühlten sich verrückte ExzentrikerInnen noch einsam am Rande der Gesellschaft, auch wenn jede(r) einzelne von ihnen einen zweifelhaften Eso-Bestseller las. Diese Zeit der Einsamkeit ist vorbei.

Ich bin sofort bereit zu glauben, dass Ingrid Brodnig in ihrer schrumpfenden Komfort-Zone beim profil ein Problem hat, denn Leitmedien werden nach und nach ganz verschwinden, weil sie trotz aller Qualität nie mehr waren als Unterhaltung für U-Bahn, WC und Nachtmahl. Unterhaltung ist den kleinen Leuten das wichtigste, aber Unterhaltung gibt es abseits der Leitmedien heute billig, bekömmlich und in jedem gewünschten Härtegrad. Überraschung ist diese Verdrängung keine, denn so wurde es schon in den 90ern prophezeit, als sich z.B. Wired Magazine oder Mondo 2000 auf den Untergang der Fernsehsaurier, Radiosaurier, Plattensaurier und Zeitungssaurier freuten. Darauf, dass die kleinen Leute den Ton und die "Tonalität" (Brodnig) angeben würden.

Diese Zukunft ist jetzt hier, und so widerlich sieht es nun mal aus, wenn sich die WutgreißlerInnen, MeinungsextremistInnen und EsoterikerInnen der Instrumente der Massenmanipulation bemächtigen, sei es mit Schimpfwörtern oder ohne. Heute sind die JournalistInnen mit ihren hehren Traditionen die exzentrische Minderheit. "Lügenpresse" geht ins Leere, denn lügen tut außerhalb der eigenen Filterblase jeder und jede. "Betulichkeitspresse" oder "Allürenpresse" wäre treffender.

Der olympische Gedanke

Wir müssen uns darauf einrichten, in der Meinungsbildung ohne Schiedsrichter, ohne Berufung auf gesalbte Publikationen, ohne Übereinkunft bei Benehmen oder Rechtschreibung auszukommen. Wer in seiner Echokammer mehr Publikum anzieht hat die Deutungshoheit in der größeren Filterblase und damit mehr Autorität, Glaubwürdigkeit und Gewicht. Noch mag es nervenzerfetzend klingen, aber lange wird es nicht mehr gelingen, aufrechte Chem-TrailerInnen oder begeisterte Stanniolmützen von der erhabenen Kanzel eines Leitmediums auf den rechten Weg zu weisen. Überspitzt ausgedrückt: das Argument "... aber Ingrid Brodnig vom profil hat gesagt..." wird gegen Ufologen oder Hitleristen keine Wirkung mehr zeigen. Deren jeweilige Youtube-Swamis werden mehr gelten als profil oder Ingrid Brodnig. (Man vergleiche die Zugriffszahlen zu Ingrid Brodnigs Vortragsvideos mit denen von "Jasinna". Oder die Zahl der Kommentare auf profil mit denen auf kreuz.net.) So betrachtet FÜRCHTET sich Ingrid Brodnig vor einem WIRKLICH egalitären Internet: Vertreterinnen von "Leitmedien", die keinerlei Privilegien mehr genießen und sich für ihre jeweilige Agenda genauso anstrengen müssen wie z.B. Ken Jebsen oder David Icke. Das sind tatsächlich schlechte Nachrichten für Menschen, die sich moralisch oder intellektuell am höheren Boden wähnen und Blödiane sozusagen durch höheren Dienstgrad erledigen wollen. Moral und Intellekt interessieren kleine Leute nicht und haben es nie. Das ist es, was Ingrid Brodnig meint damit, "dass Menschen für uns nicht mehr erreichbar sind".

Menschen haben den Blick nicht mehr auf die Kanzel, sondern auf einander gerichtet, und jeder von ihnen kann schon morgen zu einem brennenden Busch für ein riesiges Gefolge werden. Der Ruf nach Autoritäten, nach der Rückkehr von starken, verantwortungsbewussten Leitmedien für das Internet, nach einem besonderen Schutz für die wenigen Edlen, Sanftmütigen, Weisen und Gerechten, wird ungehört verhallen -- egal, wie oft Ingrid Brodnig ihren Vortrag wiederholt.

... und das ist der günstige Fall

An dieser Stelle kommt noch einmal die kecke Dame aus Ingrid Brodnigs Publikum ins Spiel, denn man muss hinzufügen: "in funktionierenden Demokratien". Im weniger günstigen Fall blüht uns eine chinesische Mauer rund ums österreichische Internet, eine geschmackvolle Einheitsfilterblasse voll der Weisheit und des zentral gelenkten Sonnenscheins -- oder was die Kaiserin von China dafür hält.

Hyperlinks

Ingrid Brodnigs Vortrag vom Freitag (15. Jänner) gibt es auf Youtube, ab 30:00:

(Der Hinweis auf die chinesische Regierung und ihre Verbreitung "positiver Energie" im Internet kommt kurz nach 54:00.)

Die anderen Vorträge lassen sich auf Youtube mit "Ingrid Brodnig" finden: https://www.youtube.com/results?search_query=ingrid+brodnig

Die Zugriffszahlen sind bei Ingrid Brodnigs Oeuvre vergleichsweise gering, wie man und frau z.B. bei der amtlich abgestempelten Putin-Trollin Jasinna mit der süßen Stimme sehen können: https://youtube.com/user/Jasinna

Jasinna ist präzise das, wovor sich Ingrid Brodnig, Lehrer und Politiker noch mehr fürchten als vor David Icke oder dem seligen Axel Stoll, welcher sogar vertont wurde (fast 30.000 Views):

Für die einst eminent populäre Website kreuz.net interessierten sich unter anderem Staatsanwälte und ORF. Die katholische Kirche distanzierte sich und stritt jede Beteiligung ab; heute ist die Website verschwunden, aber sie wurde von http://archive.org archiviert. Wer sich die Mühe macht, kann sich davon überzeugen, dass z.B. die Schmähung sexueller Randgruppen für viel Echo und Zustimmung sorgte -- viel mehr als z.B. bei profil üblich ist. Statt Trigger Warning und Link ins Archiv hier der Wikipedia-Artikel: https://de.wikipedia.org/wiki/Kreuz.net

Jurisdiktion hatten österreichische Staatsanwälte über kreuz.net übrigens nie, weil die Server in den USA standen, wo Hate Speech und sogar Wiederbetätigung durch den ersten Absatz im Bill of Rights geschützt sind. Mit dem gleichen Recht auf Abdrehung könnten sonst Staatsanwälte in Saudi Arabien verlangen, dass Pornowebsites in Österreich vom Netz genommen werden müssen, weil sie gegen saudische Paragraphen verstoßen. Willkommen in der Zukunft der Meinungsbildung, Ingrid Brodnig.

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