Die Europäische Zentralbank „enteigne“ die BürgerInnen, geistert es durch die Medien, und so mancher heischende Buchtitel springt auf. Wenn die Leitzinsen niedrig sind und die Sparzinsen mitsinken, kommt es faktisch zur Situation, dass die Inflation höher ist als die Sparzinsen. Ist das Enteignung? Enteignung ist die Aberkennung eines Eigentumstitels, die nach den Verfassungen nur im öffentlichen Interesse und gegen Entschädigung stattfinden darf.

Die EZB hat kein Enteignungsmandat, sie dürfte das gar nicht – und sie tut es auch nicht. Sie nimmt niemandem das Sparbuch oder Aktien aus dem Schrank und schon gar nicht das Häuschen weg. Worüber die künstliche Empörung inszeniert wird, ist die für manche unangenehme Tatsache, dass liebgewonnene Gewohnheiten – Zinsen aufs Sparbuch, Rendite aufs Kapital – geringer werden oder gar gegen null tendieren. So sehr sich dieser Anspruch eingebürgert hat, es gibt kein Grundrecht auf Kapitalvermehrung, und die Nichterfüllung dieses Anspruchs in einer Niedrigzinsphase hat mit „Enteignung“ nicht das Geringste zu tun.

Inhaltlich müssten 90 Prozent der Bevölkerung heilfroh sein über sinkende, am besten über Null-, ja selbst über negative Sparzinsen! Denn sie zählen systemisch zu den „NettozinsverliererInnen“. Das ist so zu verstehen: Wir betrachten für gewöhnlich nur die Sparzinsen, die wir erhalten. Nicht berücksichtigen wir in der Regel die Kreditzinsen, die wir aber auch selbst bezahlen: entweder direkt über Konsum- und Hypothekenkredite oder indirekt die Zinsen für Unternehmenskredite über den täglichen Einkauf: die Unternehmen verrechnen die Kapitalkosten zur Gänze in den Produkt- und Dienstleistungspreisen. Das Spiel aus Spar- und Kreditzinsen wäre ein verteilungsneutraler Kreisverkehr, wenn alle Menschen gleich hohe Konsumquoten und gleich hohe Sparvermögen hätten. Da aber nur eine Minderheit eine geringe Konsumquote (sie zahlen relativ wenig Kreditzinsen) und eine hohe Sparquote und Vermögen (sie erhalten viele Sparzinsen) hat, während die große Mehrheit eine hohe Konsumquote und ein sehr bescheidenes Sparvermögen hat, ist das Zinssystem ein Verteilungssystem von 90 Prozent zu zehn Prozent. Laut einer Studie der Wirtschaftsuniversität Wien beziehen 90 Prozent der Bevölkerung keine nennenswerten Kapitaleinkommen (11% aller Vermögenseinkommen), diese konzentrieren sich so gut wie vollständig bei zehn Prozent (89%), und das oberste Prozent sahnt kräftig ab (52%). Je höher die Sparzinsen, desto mehr wird von der Masse zur Spitze umverteit. Nicht niedrige Leitzinsen „enteignen“ die breite Masse, sondern Sparzinsen!

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Herbert Erregger

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sgjosef

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Silvia Jelincic

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fischundfleisch

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