Weil in den verschiedenen Beiträgen hier immer wieder von Diskussionen um Vorurteile und den damit verbundenen Missverständnissen die Rede ist, möchte ich heute einen etwas längeren Beitrag einstellen.

Es ist für mich eine sehr schöne und wichtige Metapher:

Urteilen zeugt von einem erstarrten Bewusstseinszustand. Und der Kopf möchte immer gern urteilen, denn es ist riskant und unbequem, in Bewegung zu bleiben. Sei sehr, sehr mutig, höre nicht auf zu wachsen, lebe im Augenblick, bleib einfach im Fluss des Lebens.

Die folgende Geschichte trug sich zur Zeit Laotses in Chi­na zu, und Laotse liebte sie sehr.

Ein alter Mann lebte in einem Dorf, sehr arm, aber selbst Könige waren neidisch auf ihn, denn er besaß ein wunder­schönes weißes Pferd... Könige boten phantastische Sum­men für das Pferd, aber der Mann sagte dann: „Dieses Pferd ist für mich kein Pferd, sondern ein Mensch. Und wie könn­te man einen Menschen, einen Freund verkaufen?“ Der Mann war arm. aber sein Pferd verkaufte er nie.

Eines Morgens fand er sein Pferd nicht im Stall. Das ganze Dorf versammelte sich, und die Leute sagten: „Du dum­mer alter Mann! Wir haben immer gewusst, dass das Pferd ei­nes Tages gestohlen würde. Es wäre besser gewesen, es zu verkaufen. Welch ein Unglück!"

Der alte Mann sagte: „Geht nicht so weit, das zu sagen. Sagt einfach: das Pferd ist nicht im Stall. Soviel ist Tatsache; alles andere ist Urteil. Ob es ein Unglück ist oder ein Segen, weiß ich nicht, weil dies ja nur ein Bruchstück ist. Wer weiß, was darauf folgen wird?"

Die Leute lachten den Alten aus. Sie hatten schon immer gewusst, dass er ein bisschen verrückt war. Aber nach fünf­zehn Tagen kehrte eines Abends das Pferd plötzlich zurück. Es war nicht gestohlen worden, sondern in die Wildnis aus­gebrochen. Und nicht nur das, es brachte auch noch ein Dutzend wilder Pferde mit.

Wieder versammelten sich die Leute, und sie sagten: „Al­ter Mann, du hattest recht. Es war kein Unglück, es hat sich tatsächlich als ein Segen erwiesen."

Der Alte entgegnete: „Wieder geht ihr zu weit. Sagt ein­fach: das Pferd ist zurück... wer weiß, ob das ein Segen ist oder nicht? Es ist nur ein Bruchstück. Ihr lest nur ein einzi­ges Wort in einem Satz - wie könnt ihr das ganze Buch beur­teilen?"

Dieses Mal wussten die Leute nicht viel einzuwenden, aber innerlich wussten sie, dass der Alte unrecht hatte. Zwölf herrliche Pferde waren gekommen...

Der alte Mann hatte einen einzigen Sohn, der begann, die Wildpferde zu trainieren. Schon eine Woche später fiel er vom Pferd und brach sich die Beine. Wieder versammelten sich die Leute, und wieder urteilten sie. Sie sagten: „Wieder hattest du recht! Es war ein Unglück. Dein einziger Sohn kann nun seine Beine nicht mehr gebrauchen, und er war die einzige Stütze deines Alters. Jetzt bist du ärmer als je zu­vor."

Der Alte antwortete: „Ihr seid besessen vom Urteilen. Geht nicht so weit. Sagt nur, dass mein Sohn sich die Beine gebrochen hat. Niemand weiß, ob dies ein Unglück oder ein Segen ist. Das Leben kommt in Fragmenten, und mehr bekommt Ihr nie zu sehen."

Es ergab sich, dass das Land nach ein paar Wochen einen Krieg begann. Alle jungen Männer des Ortes wurden zwangsweise zum Militär eingezogen. Nur der Sohn des alten Mannes blieb zurück, weil er verkrüppelt war. Der ganze Ort war von Klagen und Wehgeschrei erfüllt, weil man wusste, dass der Krieg nicht zu gewinnen war, und weil man wusste dass die meisten der jungen Männer nicht zurückkommen würden.

Sie kamen zu dem Alten und sagten: "Du hattest Recht alter Mann – es hat sich als Segen erwiesen. Dein Sohn ist zwar verkrüppelt, aber immerhin ist er noch bei Dir. Unsere Söhne sind für immer fort."

Der alte Mann antwortete wieder: "Ihr hört nicht auf zu urteilen. Niemand weiss, sagt nur dies: dass man Eure Söhne eingezogen hat und dass mein Sohn nicht eingezogen wurde. Doch nur Gott, nur das Ganze weiß, ob dies ein Segen ist oder ein Unglück."

Urteile nicht, sonst wirst Du nie eins mit dem Ganzen. Du wirst von Bruchstücken besessen sein, aus kleinen Dingen wirst Du voreilige Schlüsse ziehen. Wenn Du einmal zu urteilen beginnst, hast Du aufgehört zu wachsen. Urteilen zeugt von einem erstarrten Bewusstseinszustand, denn es ist immer riskant und unbequem, in Bewegung zu bleiben.

Aus "nicht bevor Du stirbst", Osho

Danke, dass Ihr Euch die Zeit zum Lesen geschenkt habt.

6
Ich mag doch keine Fische vergeben
Meine Bewertung zurückziehen
Du hast None Fische vergeben
6 von 6 Fischen

bewertete diesen Eintrag

Charlotte

Charlotte bewertete diesen Eintrag 17.03.2017 20:18:00

Globetrotter

Globetrotter bewertete diesen Eintrag 14.12.2015 23:17:17

julbing

julbing bewertete diesen Eintrag 14.12.2015 23:17:17

irmi

irmi bewertete diesen Eintrag 14.12.2015 23:17:17

Silvia Jelincic

Silvia Jelincic bewertete diesen Eintrag 14.12.2015 23:17:17

fischundfleisch

fischundfleisch bewertete diesen Eintrag 14.12.2015 23:17:17

17 Kommentare

Mehr von Darpan