Alle sinngleich-beleidigenden Postings aller User weltweit löschen

In der Streitsache Glawischnig gegen Facebook erliess der EuGH heute ein Urteil, das in etwa besagt, dass Internetforenbetreiber bzw. Social Media verpflichtet sind, nach einem Gerichtsurteil alle Postings, die Beleidigungen oder Sinngleiches enthalten, weltweit zu löschen.

Auch wenn ich die Absicht dahinter, die Gesprächskultur in Internetforen zu verbessern, befürworte, so halte ich das Urteil in mehrerlei Hinsicht für problematisch:

1.) Es stellt nicht nur auf einen präzisen Wortlaut ab, sondern auch auf alle sinngleichen Formulierungen und Postings. Dabei ergeben sich sowohl juristische als auch technische Probleme:

2.) Juristisch: man kann also vermuten, dass sich entweder in Zukunft eine Flut von Prozessen ergeben werden, bei denen es um die Frage geht, ob eine Formulierung sinngleich ist oder nur sinnähnlich. Angenommen, jemand verwendet den Begriff "Du Horizontale": meint er dann eigentlich "Du Hure" oder "Du Liegende"? D.h. wenn ein Urteil nur die Verwendung des Begriffs "Hure" in bezug auf eine Person verbietet, dann wäre der Begriff "Du Horizontale" zu löschen, wenn er "Hure" bedeuten soll, was unter Umständen auch eine Analyse des Kontexts des Postings, der vorangehenden und nachfolgenden Postings desselben Users oder derselben Userin erfordert. Mit anderen Worten: derartige Prüfungen können extrem kompliziert werden, wenn es darum geht, festzustellen, ob Sinngleichheit besteht oder Sinnungleichheit. Gerade in Sachen Justiziabilität/Anwendbarkeit des Rechts ist dieses Urteil sehr problematisch.

Um zu beurteilen, ob Begriffe wie "Klimaleugner" oder "Klimahysteriker" beleidigend sind oder nicht, müsste man zukünftige Forschungsergebnisse der Klimaforschung heute schon vorhersehen, um die Frage zu beurteilen, ob man eine der beiden Formulierungen löschen muss, und welche der beiden.

3.) Technisch: das EuGH-Urteil erinnert mich irgendwie an eine Aussage des früheren VfGH-Präsidenten Adamovich in einer Biographie, er sei ein mathematischer Idiot oder so. Mag der Begriff der "Künstlichen Intelligenz" auch wunderbar klingen, mag der Computer auch in weiten Teilen des Gesellschaft eine Art Unfehlbarkeitsstatus haben, insbesondere seit Schachcomputer wie Deep Blue menschliche Schachweltmeister wie Kasparow besiegt haben, so ist dennoch künstliche Intelligenz keineswegs perfekt, allwissend und geeignet, alle Probleme zu lösen.

Ich kann mir nicht vorstellen, dass Algorithmen es schaffen, Sinngleichheit zufriedenstellend eineindeutig festzustellen (Eineindeutigkeit bedeutet in diesem Sinne: alle Sinngleichen als sinngleich erkennen, alle Nicht-Sinngleichen als nicht-sinngleich erkennen)

4.) Overblocking: eben weil niemand für Alle zufriedenstellend Sinngleichheit feststellen kann, werden Internetbetreiber dazu übergehen, mehr zu löschen als nur das Sinngleiche, einfach um sich Prozesse und Kosten und negative PR zu ersparen; und die meisten AGBs von Internetplattformen erlauben das, mehr oder weniger beliebig zu löschen. Man kann davon ausgehen, dass als Reaktion auf dieses Urteil die AGBs von Internetforen verschärft werden, um Löschung von vielleicht-sinngleichen Formulierungen zu erleichtern, damit Forenbetreiber sich Prozesse und Kosten und negative Schlagzeilen ersparen. Dadurch, dass dieses Urteil die Verantwortung für die Herstellung dessen, was als "gute Diskussionskultur" betrachtet wird, auf die Forenbetreiber verschiebt, stattet dieses Urteil die Forenbetrieber auch mit extrem viel Macht aus und mit extrem viel Möglichkeiten zum Machtmissbrauch, dazu, unter dem Vorwand der Bekämpfung der angeblichen "Hasspostings" nach eigenen Gutdünken und willkürlich zu definieren, was gesagt werden darf und was nicht. Mit anderen Worten: Facebook bekommt dadurch die Macht, weitgehend selbst zu bestimmen, was erlaubte Meinungsäußerung ist und was nicht. Es stellt sich die Frage, inwieweit sich der EuGH damit selbst die Möglichkeit verbaut hat, in Richtung Zerschlagung von Facebook oder ähnlicher anderer IT-Konzerne mit marktbeherrschender Stellung zu judizieren. Ich bin nach wie vor der Meinung, dass eine Schnittstellenvorschrift, die es anderen Social Media-Betreibern erleichtert, Facebook Kunden abzunehmen, die bessere Alternative gewesen wäre als dieses Urteil.

5.) Präzedenzwirkungen für Diktaturen: was der EuGH in diesem Urteil offensichtlich nicht bedacht hat, sind die Präzedenzwirkungen auf totalitäre Staaten: die EU kann nun nicht mehr Diktaturen dafür kritisieren, dass sie die Meinungsfreiheit unterdrücken. Mit anderen Worten: durch dieses Urteil wird die EU potenziell zum Komplizen der Hitlers und Stalins dieser Welt. Es ist sogar umgekehrt: dieses Urteil ist ein potenzieller Hebel für alle Diktaturen dieser Welt, ihre Zensurgesetze und Zensururteile auch auf die EU auszuweiten oder es zumindest zu versuchen. Die EU beraubt sich damit wahrscheinlich der Möglichkeit, Fluchtort für Meinungen zu sein, die in Diktaturen nicht vertreten werden dürfen.

Oder umgekehrt: falls die EU sich weigern wollte, ähnliche globale Gültigkeit von Zensurgesetzen oder Zensururteilen von z.B. China und Iran zu akzeptieren, aber auf der Gültigkeit der eigenen Urteile in Bezug auf globale Löschung besteht, handelt sie sich potenziell den Vorwurf der Doppelmoral und des Eurozentrismus und des Euro-Kolonialismus ein.

6.) Metaphorik: die normale Reaktion auf jede Art der Zensur war immer und könnte auch diesmal wieder sein die Verwendung von Metaphern, die sehr sinnähnlich sind, aber eben nicht hundertprozentig sinngleich. Jetzt kann man sagen, die Entwicklung sinnähnlicher Metaphorik, die nicht mehr eindeutig beleidigend ist, sondern zum Beispiel nur mehr potenziell-beleidigend, sei ein Fortschritt in Richtung Diskussionskultur. Aber was von den manchen als "stilistisch höherwertig" eingestuft wird, wird von anderen überhaupt nicht verstanden: "Hure" zum Beispiel ist allgemein verständlich, hingegen "Kurtisane" oder "Hetäre" weniger verbreitet und verständlich und wohl auch weniger beleidigend: Oder um die verfahrensgegenständliche Formulierung "Volksverräterin" zu thematisieren: statt Volksverräterin "Raffl" zu sagen, dürfte eher in Tirol verstanden werden, außerhalb Tirols eher nicht, wegen des Bezuges zum "Verrat" von Raffl an Andreas Hofer; statt Verräterin" "Judas" zu sagen, hat zwar den Hintergrund des Verrats an Jesus Christus, wird aber sehr wahrscheinlich als antisemitisch mißverstanden, insbesondere bei Leuten, die die Bibel nicht oder nicht so gut kennen, genauso wie Leute, die heute leben und Raffl heissen, die Erwähnung des historischen Raffl aus dem 19. Jahrhundert als beleidigend empfinden könnten und dagegen klagen könnten. Mit anderen Worten: diese Zensurgesetze oder Zensururteile verursachen immer eine Begriffszersplitterung im Versuch, die Zensurgesetze zu umgehen, und damit eine Vervielfachung des Aufwands; man kann gespannt sein, ob die Begriffszersplitterung, die diesem Urteil folgt, nicht eine Überlastung der Gerichte mit Prozessen verursachen wird.

Dadurch, dass Zensurgesetze oder Zensururteile oft unverständliche oder schwer verständliche Metaphern erzeugen, berauben sie die Kommunikation ihres eigentlichen Sinns: nämlich zu kommunizieren. Die allgemeine Öffentlichkeit zersplittert dann in Teilöffentlichkeiten und statt der eindeutigen, beleidigenden Formulierung tritt die mißverständliche, metaphorische Formulierung.

Beim heutigen Durchlesen von FUF-Postings stolperte ich über die Formulierung "Deine Zerebralflati", was lateinisch ist für "Deine Hirnschase" in etwa. Wer kein Latein kann, kommt gar nicht auf die Idee, dass das eine Beleidigung ist oder sein könnte. Und eine künstliche Intelligenz, die nicht auch alle Übersetzungen in alle Sprachen mitbedenkt, kann so eine sinngleiche Beleidigung leicht übersehen.

7.) Angenommen, eine Aussage, die von 95% der Bevölkerung als eindeutig beleidigend empfunden wird, während nur 5% der Bevölkerung eine weitere, nicht-beleidigende Interpretation wissen, und diese Aussage wird dann präventiv gelöscht und eben deswegen den wissenden 5% überhaupt nie bekannt, dann wird sie fälschlicherweise als beleidigend gelöscht. Ich meine dabei zum Beispiel potenziell so Formulierungen wie "Schwanzessen" im Falle von Sigi Maurer, das man als beleidigend empfinden kann, oder als Kastrationsängste zum Ausdruck bringend oder sonstwie.

8.) Internetforen sind sehr wesentlich auch psychotherapeutische Selbsthilfegruppen, in denen man seinen Frust rauslassen kann, oft auch in beleidigender Form. Aber durch Zensurgesetze oder Zensururteile verschwindet der Frust und die Ursache für die Beleidigung nicht; daher besteht die Gefahr, dass durch dieses Urteil zwar das Diskussionsniveau in Internetforen steigt, dafür aber auch die Anzahl der Körperverletzungen.

9.) Wiederbelebung toten Rechts: zahlreiche Bestandteile des Rechts (wie z.B. die "Herabwürdigung religiöser Lehren", §188 StGB) sind weitgehend totes Recht. Dieses Urteil könnte aber diese Rechtsbestände wiederaufleben lassen und zu Löschungen auf Grundlage toten Rechts führen.

10.) Die Frageform: eine Frage, die das Urteil nicht abdeckt, ist ob dasselbe Posting beleidigend und zu löschend gewesen wäre, wenn statt "Sie Volksverräterin!" die Frage "Sind Sie eine Volksverräterin ?" verwendet worden wäre. Auf jeden Fall kann dieses Urteil dazu führen, dass in Zukunft nicht mehr die Formulierung in Behauptungsform verwendet wird, sondern nur mehr die Frageform, wodurch dann auch im Laufe der Zeit die jetzt wohl unverfängliche Frageform einen beleidigenden Unterton und eine beleidigende Konnotation erhalten kann.

11.) Es stellt sich auch die Frage der Klassenjustiz. Als Modernisierungsgewinner ist es natürlich leicht, zufrieden und höflich und nicht-beleidigend zu sein, aber als Unterschichtangehöriger mit einem gewissen Zorn fällt dasselbe viel schwieriger. Es besteht die Gefahr, dass diesen Urteil die Unterschicht dem System entfremdet.

12.) Eine weitere potenzielle Umgehungsmöglichkeit ist die Sicherheitseinstufung jedes Postings als Satire. Bzgl. Satire und Freiheit der Kunst gelten oft andere Standards für Beleidigung. Daher ist es ratsam, bei jeder absichtlichen Beleidigung ein Smiley oder eine andere Satire-Kennzeichnung hinzufügen, damit man auf jeden Fall sagen kann, dass man es nicht als Beleidigung gemeint hat, sondern z.B. als Satire auf die "Hassposter", oder so.

13.) es entsteht auch ein Widerspruch zur parlamentarischen Immunität: Parlamentarier dürfen beschützt durch die parlamentarische Immunität praktisch jede Beleidigung von sich geben und handeln sich damit maximal einen Ordnungsruf ein, aber im Internet müssen ihre oft beleidigenden Reden gelöscht werden. Ein zusätzlicher Aspekt in diesem Zusammenhang ist die Ungleichbehandlung von Parlamentsparteien und Nicht-Parlamentsparteien. Die Parlamentsparteien haben bereits die parlamentarische Immunität und dürfen beleidigen, und über ihre Beleidigungen darf berichtet werden, weil das ja nur ein Bericht über Beleidigungen ist, aber nicht selbst eine Beleidigung. Hingegen noch-außerparlamentarische Parteien dürfen nicht so polemisch und beleidigend argumentieren, wie manche Wähler und -innen das wünschen. Man kann das als Verstoss gegen den Gleichheitsgrundsatz der Verfassung sehen. Die Grünen als etablierte Partei sichern sich damit einen verfassungswidrigen Wettbewerbsvorteil (Glawischnig war früher Grünensprecherin, und der heutige Grünensprecher Kogler begrüßte das Ergebnis und bezeichnete es als großen Erfolg). Die Grünen sind auch die Partei mit dem höchsten Frauenanteil; und es stellt sich auch in Zusammenhang mit dem "Huren"-Begriff die Frage einer sexistischen Justiz. Die Frage, ob eine Situation entsteht, in der Frauen einen kommunikativen Vorteil haben, weil ihre Äußerungen weniger wahrscheinlich als Beleidigung eingestuft werden, hingegen die Äußerungen von Männern als wahrscheinlicher beleidigend.

Und diese Ungleichbehandlung ist möglicherweise auch eine Ungleichbehandlung von Medien: klassische Medien dürfen unter Berufung auf ihre Berichtspflicht Äußerungen, die Parlamentarier unter dem Schutz der parlamentarischen Immunität abgeben, wiedergeben, hingegen Internet-Social-Media dürfen derartige Äußerungen nicht wiedergeben, sondern müssen sie löschen.

14.) ein weiterer Aspekt sind unterschiedliche Reaktionen ein und desselben Forenbetriebers auf Reklamationen unterschiedlicher User. Man kann davon ausgehen, dass Forenbetrieber und Social Media auf Reklamationen von Rechtsanwälten schneller und härter reagieren als auf Reklamationen von Nicht-Rechtsanwälten und Leuten, die noch nie einen Medienprozess führten, insbesondere von Leuten, die kein Geld haben oder zu haben scheinen, um Medienprozesse zu führen. (Reklamationen sind in diesem Sinne Beschwerden von Lesern, die Posting als sie beleidigend einstufen)

15.) Das Internet verliert dadurch graduell seine Funktion als Kommunikationsmittel. Es ergibt sich ein neuer Chilling Effect: aus Angst, gestraft zu werden oder wegen der Aussicht gelöscht zu werden, werden viele Leute aufhören, per Internet zu kommunizieren. Man könnte sagen, das Urteil erzeugt auf diese Weise "lonely wolfs", einsame Wölfe, die zu Attentätern werden. Man verhindert zwar so manche Hassrede, aber macht Hasstaten wahrscheinlicher.

https://www.derstandard.at/story/2000109402279/eugh-facebook-muss-hasspostings-weltweit-loeschen

Pixabay License / Cocoparisienne https://pixabay.com/photos/violent-crime-burglary-faust-bat-1166556/

Mehr physische Gewalt durch EuGH-Urteil in der Absicht, die Diskussionskultur in Internetforen zu verbessern ? Möglicherweise ein klarer Fall für Johann Wolfgangs von Goethes "Gut gemeint ist oft das Gegenteil von Gut getan".

Siehe auch:

https://www.fischundfleisch.com/dieter-knoflach/hexenverbrennung-inquisition-und-religionenkrieg-46142

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