Über Clubzwang in Österreich und Freiheit in Großbritannien

Kanzler Kurz tut es, Präsident Van der Bellen tut es: Großbritannien shitstormen wegen des angeblichen "Brexit-Chaos" (Kurz), wegen der "Implosion einer politischen Klasse" (Van der Bellen).

Das passt zwar zum Shitstorm-Mainstream im medial-politischen Kontinentaleuropa.

https://www.tagesspiegel.de/politik/tragische-figur-beim-brexit-may-hat-grossbritannien-zur-parodie-gemacht/24159252.html

Entspricht aber der Wahrheit überhaupt nicht.

Im österreichischen Parlament müsste rein theoretisch und rein verfassungsrechtlich das "Freie Mandat" gelten, das aber in der politischen Wirklichkeit nicht gilt, weil die meisten Parlamentarier Angst haben, für die nächste Wahl nicht mehr von den Parteimächtigen auf die Liste gesetzt zu werden, und daher vom rein theoretischen freien Mandat gar nicht oder kaum Gebrauch machen.

Bundes-Verfassungsgesetz "Artikel 56. (1) Die Mitglieder des Nationalrates und die Mitglieder des Bundesrates sind bei der Ausübung dieses Berufes an keinen Auftrag gebunden."

https://www.ris.bka.gv.at/GeltendeFassung.wxe?Abfrage=Bundesnormen&Gesetzesnummer=10000138

Und eben weil das freie Mandat reine Verfassungstheorie ist, die mit der Wirklichkeit nichts zu tun hat, stimmen in Österreich 99.9% der Abgeordneten so, wie die Parteilinie es vorschreibt, während es in den USA 80% und in Großbritannien 85% sind.

Der Grund dafür ist das Wahlsystem: Österreich hat ein Listenwahlrecht, USA und Großbritannien ein SMDS, ein Single-Member-per-District-System.

SMDS bedeutet Einerwahlkreise, die jede/r einzelne Abgeordnete selbst erobern muss, mit einem eigenen Wahlkampf und einer eigenen Wahlkampffinanzierung, was ihm oder ihr dann aber auch den Rückhalt gibt, gegen die eigene Premierministerin oder gegen die eigene Parteilinie oder gegen den eigenen Präsidenten zu stimmen.

Es ist eben diese Lebendigkeit des britischen Parlamentarismus, die auf der anderen Seite das Brexit-Gewürx zur Folge hat, weil Freiheit der Abgeordneten eben auch die Freiheit der Abgeordneten bedeutet, den Brexit-Vertrag, den Premierministerin May aushandelte, abzulehnen.

Aber generell ist mir das britische Parlament weit lieber als das österreichische: während in Österreich die Abgeordneten einer Partei - überspitzt gesagt - als Klone wirken und jede Individualität fehlt, hat im britischen Parlament jeder und jede seinen eigenen Stil, seine eigenen Argumente, seine eigenes und einzigartiges Abstimmungsverhalten.

So gesehen ist es eher die österreichische polit-mediale Klasse samt Kurz und Van der Bellen, die implodiert.

Der tschechische Präsident Zeman sagte beim Wien-Besuch, alle britischen Premiers von Churchill bis Blair hätten ein derartiges Chaos nicht zugelassen.

Das ist ziemlich zweifelhaft.

Das Wahlsystem war damals dasselbe wie heute.

http://news.bbc.co.uk/2/hi/uk_news/politics/4422086.stm

"Blair defeated over terror laws

Prime Minister Tony Blair at the door of 10 Downing Street

Tony Blair reaction

Tony Blair says his authority is intact despite suffering his first House of Commons defeat as prime minister.

He said he hoped MPs "do not rue the day" they rejected his call to allow police to detain terror suspects for up to 90 days without charging them.

MPs voted against by 322 votes to 291, with 49 Labour MPs rebelling, but later backed a proposal to extend the detention time limit to 28 days."

Immerhin: Blair hatte seine erste Niederlage im Parlament nach 8 Jahren als Premierminister, während das "Brexit-Chaos" im dritten Amts-Jahr von Theresa May auftritt.

CC / Wolr Affairs Council https://de.wikipedia.org/wiki/Tony_Blair#/media/File:Tony_Blair_crop.jpg

Der frühere britische Premierminister Tony Blair (Labour Party); er amtierte von 1997 bis 2007. Anders, als der tschechische Präsident Zeman behauptete, erlitt auch Blair Niederlagen im Parlament, speziell nach dem Irakkrieg.

Am Brexit-Chaos ist viel eher der EU-Verhandler Barnier schuld, der offensichtlich rein intergouvernmental dachte und mit Theresa May verhandelte, ohne mitzubedenken, dass eine Verhandlung mit der Premierministerin nichts bringt, wenn das Parlament das Ergebnis ablehnt.

Wenn Barnier als EU-Chefverhandler eine andere Politik betrieben hätte, die das politische System Großbritanniens mitbedenkt, dann wäre das Brexit-Chaos nicht aufgetreten oder zumindest nicht so oder so lang.

Foto-AG Gymnasium Melle https://de.wikipedia.org/wiki/Michel_Barnier

EU-Chefverhandler Michel Barnier: seine Mitschuld am Brexit-Chaos durch Nichtberücksichtigen des britischen politischen Systems wird in der EU nach dem Motto "Schuld sind immer die Anderen" vertuscht.

Anstatt die EU-27-Schuld am Brexit-Chaos zu thematisieren, insbesondere in der Person Barniers, schieben die Politiker und Medien der EU die alleinige Schuld am "Brexit-Chaos" dem britischen Parlament zu.

CC / Banksy https://www.oe24.at/welt/Bansky-zu-Brexit-Parlament-der-Affen/374108762

Angebliches Brexit-Chaos-Bild, das in Kontinentaleuropa die Medien dominiert, auch https://www.oe24.at/welt/Bansky-zu-Brexit-Parlament-der-Affen/374108762, das aber überhaupt nicht stimmt.

Der Phrase "Lügen wie gedruckt" und dem Vorwurf der "Lügenpresse" wird durch solche FakeNews Vorschub geleistet.

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