Da in Internetforen mit rechtsextremer Unterströmung immer wieder die Behauptung auftaucht, die USA hätten aus egoistischen Gründen die Entwicklung in der "westlichen" Hemisphäre so beeinflusst, wie sie es beeinflusst haben, sollte man diese Behauptung einmal einem Faktencheck unterziehen.

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Dabei geht es um verschiedene Dimensionen:

1.) die militärisch-strategische

2.) die wirtschaftliche

3.) die humanitäre

4.) die historische

5.) die gegenwärtige

Ad 1.) Militärstrategie: aus Sicht der USA war es in der Tat wichtig, dass ein möglichst großer westlicher Block entsteht, und dass diejenigen Staaten, die durch den zweiten Weltkrieg besonders in Mitleidenschaft gezogen wurden (großteils aus eigener Schuld), durch großzügige Wirtschaftshilfe stabilisiert werden sollten. Die Verquickung von Militärischem, Wirtschaftlichen und Humanitären kann man auch daran erkennen, dass einer der wesentlichen Aspekte dieser US-geführten westlichen Hemisphärenordnung, der wirtschaftliche Marshallplan, das European Recovery Project, nach einem Militär, nämlich General Marshall benannt ist.

Auf jeden Fall war es langfristig auch militärstrategisch wichtig aus Sicht der USA ebenso wie aus Sicht aller Demokratien, dass sich die Staaten von Mittel- und Westeuropa zu stabilen Demokratien entwickeln, und nicht Opfer von kommunistischen Putschen werden, so wie die Tschechoslowakei durch den KP-Putsch 1948. Auch deswegen, weil große, wirtschaftlich prosperierende Blöcke eher verteidigungsfähig sind als armutsgefährdete, vereinzelte, bündnislose Kleinstaaten, die oft Opfer von Aggressionskriegen werden, wie die neutralen Staaten Belgien und Niederlande im ersten Weltkrieg oder die bündnislose Ukraine heute. Oder die sich oft mehr oder weniger freiwillig/gezwungenermaßen dem militärisch Stärkeren unterwerfen, und aus Angst vor einem Überfall dem Aggressor Konzessionen machen, die man normalerweise nie machen würde.

Ad 2.) kurz angesprochen wurde oben schon die wirtschaftliche Dimension. Der Marshall-Plan (ein massiver Abfluss von geschenktem Kapital und geschenkten Gütern von den USA nach Europa) war für die USA eine ziemliche Belastung, aber die USA waren eine starke Volkswirtschaft, die durch die intensiven Aspekte (z.B. Bombardements) im Weltkrieg weitgehend verschont geblieben war.

Wirtschaftlich dürfte die massive Wirtschaftshilfe der USA an Europa rein finanziell betrachtet ein Verlustgeschäft gewesen sein, insbesondere wenn man bedenkt, dass die USA die Verteidigung Westeuropas 1945 - 2020 weitgehend übernommen hatten, und deswegen Staaten wie Deutschland und Österreich sehr niedrige Verteidigungsausgaben haben konnten, ohne dass ihre Sicherheit gefährdet gewesen wäre.

Auch auf Ebene der Zölle hatte Westeuropa in den meisten Phasen der Nachkriegszeit höhere Zölle gegenüber US-Produkten als umgekehrt die US-Zölle gegenüber Europa ausmachten.

Die Wirtschaftshilfe der USA für Europa war auch für die USA selbst eine große Belastung, so hatten die USA in den späten 1940er und 1950er Jahren einen Spitzensteuersatz von 90%, um die Wirtschaftshilfe für Europa finanzieren zu können (gleichartiges scheint heute wegen der rechtspopulistischen Parteien unmöglich zu sein, um mit EU-Wirtschaftshilfe der Ukraine wieder auf die Beine helfen zu können).

Das Argument von Rechtsextremisten und Neonazis, die USA führten den Weltkrieg angeblich, um Absatzmärkte zu sichern, ist falsch, weil erstens nicht die USA den Krieg begonnen haben, sondern Japan bzw. Nazideutschland, und weil zweitens alles zusammengerechnet die Beziehungen zwischen USA und Europa zwischen 1945 und 2020 für die USA ein Verlustgeschäft gewesen sein dürften. Diese Absatzmärktesicherung dürfte nur eine Schadensbegrenzung gewesen sein, aber kein Gewinngeschäft für die USA. Eine Schadensbegrenzung, die aus einem großen Verlustgeschäft ein etwas kleineres Verlustgeschäft machte.

Ad 3.) bereits im Krieg und in der Besatzungszeit danach hatten sich die US-Soldaten als die großzügigsten aller Alliierten Truppen erwiesen. Zahlreiche Kinder in der US-Besatzungszone lernten damals sehr schnell Englisch (American English), um die US-Soldaten besser anbetteln zu können. Die US-Soldaten waren vergleichsweise gut versorgt (ins Besondere im Vergleich zu den russischen/sowjetischen Truppen), und sie konnten daher auch was abgeben, und sie taten das auch vielfach gerne, weil sie die Not großer Teile der europäischen Bevölkerung ja mit eigenen Augen sahen und vor Ort waren.

Und hier kommt auch das Motivebündel ins Spiel: oft ist es ja so, dass verschiedene Argumente für eine Entscheidung sprechen, darunter sowohl altruistische als auch nicht-altruistische.

Und für die USA spielten sowohl humanitäre Elemente als auch strategische Argumente eine Rolle bei der Entscheidung zur Wirtschaftshilfe und zum Wiederaufbau in Westeuropa. (wobei man natürlich auch die Langfriststrategie als langfristig altruistisch betrachten kann)

Rechtsextremisten und Neonazis unterschlagen allerdings dieses Motivebündel bei der Entscheidung zum Marshall-Plan und der Politik der Wirtschaftshilfe: sie tun so, als würde das Motiv zur Gewinnung von Absatzmärkten bedeuten, dass nicht auch gleichzeitig humanitäre Argumente für Wirtschaftshilfe für Westeuropa eine Rolle gespielt haben.

4.) der historische Vergleich: im Vergleich zu den allermeisten Friedensschlüssen und Nachkriegsordnungen der Geschichte war die "pax americana", der amerikanische Frieden nach dem Zweiten Weltkrieg ein äußerst großzügiger Friedensschluss. Er sah keinerlei Reparationsforderungen gegenüber den kriegsauslösenden Staaten (Japan, Nazideutschland, das faschistische Italien) vor, sondern großzügige Wirtschaftshilfe und Wiederaufbauhilfe.

Damit unterschied sich der Friede nach dem zweiten Weltkrieg krass von dem britisch-französischen Diktatfrieden von Versailles (Deutschland betreffend), Saint-Germain (Österreich betreffend) und Trianon (Ungarn betreffend) nach dem ersten Weltkrieg, die alle extrem hohe Reparationsforderungen und Aspekte wie die Saarlandbesatzung und die Ruhrgebietbesatzung oder sonstige Gebietsabtretungen vorsahen.

Eben wegen der Brutalität der britisch-französischen Vororteverträge hat der US-Kongress eben diese Verträge nicht ratifiziert, was bedeutete, dass die USA gemeinsam mit Deutschland, Österreich, Italien und Sowjetunion außerhalb des britisch-französischen Völkerbunds waren, der mit dem zweiten Weltkrieg zusammenbrach. Bei dieser historisch-kontinuierlichen Deutschfreundlichkeit der USA mag auch der große deutschstämmige US-Bevölkerungsanteil mitspielen (zahlreiche US-Präsidenten waren deutschstämmig: z.B. Trump/Trumpf oder Eisenhower/Eisenhauer)

5.) Des weiteren könnte man noch eine Gegenwartskomponente erwähnen: die Rechtsextremisten und/oder Rechtspopulisten skandalisieren faktenfrei die US-Hilfe nach dem Zweiten Weltkrieg vielleicht deswegen, weil auf die EU heute eine ähnliche Verpflichtung in Zusammenhang mit dem Wiederaufbau der Ukraine zukommen könnte, die allerdings von Putin-Russland zerstört wurde. Das Vielparteiensystem mit seinem Verhältniswahlrecht bringt oft Parteien mit extremistischen Forderungen hervor, zum Beispiel "Kein Geld für die Ukraine!". Diese Parteien kommen dann nur in Regierungen, wenn sie diese überzogenen und realitätsfremden Forderungen auch wieder aufgeben.

Hingegen in dem Zweiparteiensystem der USA mit seinem Mehrheitswahlrecht gibt es meistens Alleinregierungen einer einzigen Partei, sodass Parteien nicht völlig unrealistische Forderungen aufstellen können, die sie dann im Zuge von Koalitionsverhandlungen wieder aufgeben und/oder aufgeben müssen.

Und in den USA nach dem Zweiten Weltkrieg war es so, dass beide Parteien , also Demokraten und Republikaner, die Wirtschaftshilfe für Europa voll unterstützten.

Man kann so gesehen sagen, dass das Verhältniswahlrecht, das wir haben, oft einen Trend zum Extremismus hat, und dazu, dass diejenigen Parteien die Wahlen gewinnen, die völlig realitätsfremde und extremistische Forderungen stellen.

Und man kann vermuten, dass das Hauptmotiv heutiger rechtspopulistischer Parteien, den USA die Großzügigkeit und Uneigennützigkeit wider alle historische Fakten nach dem Zweiten Weltkrieg abzusprechen, die Weigerung heutiger rechtspopulistischer Parteien, Wirtschaftshilfe für die Ukraine zuzustimmen, ist.

Und man kann weiters vermuten, dass diejenigen rechtspopulistischen (oder auch linkspopulistischen) Parteien diese Forderung sehr schnell kübeln und vergessen werden, wenn es darum geht, einen Koalitionspartner zu finden. Man muss das verstehen: die Verlogenheit und der Extremismus liegt gewissermaßen in unserem Vielparteiensystem begründet, darin, dass extremistische/populistische Parteien im Wahlkampf völlig verrückte Forderungen aufstellen, die sie dann bei den Koalitionsverhandlungen unter Ausrede auf den Koalitionspartner wieder aufgeben.

Ein weiterer Aspekt ist derjenige, dass Neonazis den USA immer noch nicht "verziehen" haben, dass die USA den Weltkrieg gegen Nazideutschland gewannen, und daher die Geschichte zuungunsten der USA verfälschen.

unbekannt / Autor/-in unbekannt - http://www.dodmedia.osd.mil/Assets/2005/Army/DA-SD-05-00593.JPEG https://de.wikipedia.org/wiki/George_C._Marshall#/media/Datei:General_George_C._Marshall,_official_military_photo,_1946.JPEG

George Catlett Marshall: US-General im Zweiten Weltkrieg und Namensgeber des Marshallplans, der Wirtschaftshilfe der USA nach dem Zweiten Weltkrieg, die einen wesentlichen Beitrag zu Wirtschaftswunder und Wiederaufbau in Deutschland und Österreich leistete.

Ein wichtiger Aspekt in der ganzen Debatte ist der, dass für die USA-Eliten Hilfe für Europa innenpolitisch nur schwer vermittelbar war, weshalb sie für den Hausgebrauch ("home consumption" ) das Nutzen-Kalkül einer Wiederaufbauhilfe für Europa hervorhoben.

Allerdings wurden diese Faktenverbiegungen wegen der innenpolitischen Wahlen in Europa oft dazu mißbraucht, gegen die USA Stimmung zu machen, oft mit einem rechtsextremen oder linksextremen oder europäisch-nationalistischem Hintergrund.

Übrigens sind diese Schwierigkeiten oder ähnliche öfters zu finden: auch französische Eliten hatten Schwierigkeiten, wegen des Krieges zuvor und wegen des Nationalsozialismus zuvor, ihre Vorstellung von einer Verflechung mit Deutschland den eigenen Wählern und Wählerinnen schmackhaft zu machen.

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Matt Elger

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