Da Hofer und Van der Bellen in die politische Mitte strebende nichtssagende, postdemokratische Nur-ja-keinen-Wähler-Verschreck-Politik zu betreiben scheinen, scheint sich die politische Auseinandersetzung dieser sogenannten Präsidentschaftswahl zu verlagern, z.B. hin zu anderen Personen.

Eine der interessanten Diskussionen, die sich als Alternative zu den mehr oder weniger faden und nichtssagenden Präsidentenwahlen ergeben haben, ist die Auseinandersetzung zwischen Stenzel und Van der Bellen rund um Van der Bellens Eltern.

Ursula Stenzel ist unabhängige Politikerin auf der FPÖ-Wien-Liste und bekleidet den Posten des FPÖ-Stadtrats; ob das legal ist, dass die Mischliste aus FPÖ und Stenzel die Wiener Parteienförderung bekommt, ist rechtlich umstritten, weil die Wiener Parteienförderung vielleicht nur einheitlichen Parteien zusteht, nicht Mischlisten; das SPÖ-dominierte Magistrat, das im Falle der Wien-Anders-Wahlkampfständer so hart geurteilt hatte, hat im Fall der umstrittenen FPÖ-Parteienförderung im Vergleich extrem weich geurteilt; ein versteckter, wie-auch-immer gearteter Rot-Blau-Deal dahinter kann nicht ausgeschlossen werden.

Stenzel hatte in Bezug auf die Eltern Van der Bellens gemeint, es gäbe Vermutungen, wonach die Eltern Van der Bellens mit den Nazis sympathisiert ("geliebäugelt" ) hätten.

Darauf brach ein wahrer Medienshitstorm aus, zahlreiche Journalisten und Journalistinnen (hauptsächlich Rot- oder Grün-Sympathisanten oder -innen) sahen einen Skandal.

Zahlreiche Artikel erschienen, auch in "bürgerlichen" Zeitungen, die die Eltern Van der Bellens, bzw. seinen Vater zum Liberalen, z.B. pro-britischen erklärten.

Aber was ist wirklich passiert ?

1941 bzw. Anfang 1942 flüchteten bzw. übersiedelten (auch darüber, welches von den beiden Worten angebrachter sei, gab es eine Debatte) die Eltern Van der Bellen von Russland nach Tirol, das damals ein Teil Nazideutschlands war.

Dazu muß man folgendes anmerken:

1.) Der historische Kontext: 1941 bzw. Anfang 1942 (also genau zu der gegenständlichen Zeit) konnte man noch glauben, dass die Nazis den Zweiten Weltkrieg gewinnen würden, bzw. es zu einem wie auch immer gearteten Waffenstillstand kommen könnte.

Die Niederlage der Wehrmacht bei der Schlacht um Stalingrad war danach, Ende 1942, bzw. Anfang 1943. Diese Schlacht wird allgemein als Wendepunkt des deutsch-russischen bzw. Wehrmacht-RoteArmee-Krieges betrachtet.

Die Casablanca-Konferenz, bei der die Alliierten sich auf bedingungslose Kapitulation der Achsenmächte (Deutschland, Italien, Japan) festlegten, war auch später, nämlich Jänner 1943. Mit der Casablanca-Konferenz von 1943 war auch die Hoffnung auf einen Kompromissfrieden ausgeträumt.

Wenn man diesen historischen Kontext betrachtet, dann erscheint es mir plausibel, dass die von Ursula Stenzel geäußerte Vermutung, Van der Bellens Eltern hätten Nazi-Sympathien gehabt, richtig sein könnte. Was auch wahrscheinlich nichts besonders Verwerfliches sein dürfte: in der Zeit zwischen 1925 und 1942 dürften ca. 90% der Österreicher und Deutschen zumindest punktuell Sympathien für die Nazis gehabt haben. Auch wenn Van der Bellens Eltern eine seltsame Optik dadurch lieferten, Adolf Hitlers "Heim ins Reich!"-Parole optisch zu folgen, so gab es offensichtlich keine Mitgliedschaften bei NS-Organisationen. Sie sind auch nicht früher geflüchtet, bzw. übersiedelt, obwohl sie wahrscheinlich hätten können, bzw. es hätten versuchen können. Es geht also hier um - falls überhaupt - geringfügige Sympathien.

2.) Eine sehr wesentliche Frage blieb in der Debatte unerwähnt: warum übersiedelten / flüchteten die Eltern van der Bellens nicht nach Großbritannien, in die USA, nach Argentinien (wo es auch deutschsprachige Minderheiten gab) oder in sonst ein Land ? Diese hochinteressante Frage wurde weder von einem Journalisten bzw. einer Journalistin gestellt, noch von Van der Bellen beantwortet. Gerade Großbritannien wäre in Anbetracht der Nahelegung mancher Medienberichte, Van der Bellens Vater hätte auch wegen seiner Tätigkeit für eine britische Bank Sympathien zum britischen Liberalismus gehabt, plausibel gewesen.

http://derstandard.at/2000047981015/Van-der-Bellen-Ich-sehe-das-mit-einem-gewissen-Galgenhumor

Ich möchte betonen, dass Handlungen und Entscheidungen von Eltern von Van der Bellen in keiner Weise ihn in einen schlechten Ruf bringen, und dass die Zeitläufte ganz besondere und spezielle waren. Im Übrigen würde ich für den heutigen Shitstorm eher "die Gnade der späten Geburt" gelten lassen, die der frühere CDU-Bundeskanzler Helmut Kohl erwähnte. Man spürt, dass die Debatte und der Rummel im Publikum und in den Medien von Nicht-Historikern getragen wird. Der Nationalsozialismus ist nach wie vor ein Thema, das zahlreiche Menschen bis in die Unvernunft emotionalisiert.

Auch sonstige Aussagen von Van der Bellen in diesem Zusammenhang bzw. Interview erscheinen problematisch:

Warum hat Van der Bellen die Möglichkeit des Weisswählens, des Ungültigwählens als Alternative zur KPÖ-Wahl (weil sie die einzige Oppositionspartei gewesen sei) nicht erkannt ?

Ursula Stenzel, von der mich übrigens milieu- und lebensstilmässig sehr vieles trennt, hat in der Fernsehdiskussion Positionen bezogen, die mMn nicht als Kritik an Van der Bellen betrachtet werden können, wenn man von der Glaubwürdigkeitsfrage absieht. Stenzel entschuldigt die "Jugendsünde" KPÖ-Wahl in gewissen Sinne sogar, ohne auf die Möglichkeit des Ungültigwählens, bzw. Weisswählens hinzuweisen.

Ich verstehe die Kritik von Van der Bellen an Ursula Stenzel nicht ganz. Er sollte doch wissen, dass gerade in der FPÖ es Frauen ohnehin schwer genug haben, und für Frauen die "gläserne Decke" in der FPÖ tiefer hängt als in anderen Parteien. Der Funktionärinnenanteil in der FPÖ ist besonders gering, auch geringer als der Wählerinnenanteil.

Und es erscheinen mir zahlreiche FPÖ-Männer bzw. einzelne ihrer Positionen kritikwürdiger als die Positionen der unabhängigen, aber FPÖ-Stadtratsposten bekleidenden Ursula Stenzel.

Ursula Stenzel war Medienberichten nach als FPÖ-Bundespräsidentschaftskandidatin im Gespräch, konnte sich aber offensichtlich nicht durchsetzen, vielleicht, weil sie eine Frau war, was Aufstieg in der FPÖ zu erschweren scheint, vielleicht weil sie als Newcomerin zuwenig "FPÖ-Stallgeruch" mitbrachte.

Ich halte das Amt des Bundespräsidenten nach wie vor für entbehrlich, die Schweizer Konstruktion des Kollektivorgans Staatsoberhaupt mit Rotationsprinzip für besser, aber auch das österreichische Nationalratspräsidium als Ersatz für besser (es heisst ja, am dauerhaftesten wären in Österreich Provisorien, also Dinge, die als kurzfristiger Ersatz gedacht waren). Auch andere Konstruktionen (ein Wahlgang mit Kollektivorgan der drei bis sechs stimmenstärksten; Reihungswahlrecht a la Schulze oder Borda; Verfassungsreform) halte ich für besser. Ich rufe in diesem Zusammenhang wie oft im letzten Jahr zum Ungültigwählen bzw. Weisswählen bei der kommenden Präsidentschaftswahl auf.

Im Übrigen hoffe ich, dass die verlierende Seite, welche auch immer das sein mag, die Bundespräsidentenwahl wie üblich anfechten wird, z.B. wegen des Wahlbeisitzermangels; die Wahlbeisitzer könnten wegen des Verfolgungsdrucks und wegen der geringen Bezahlung ausbleiben, was ein Anfechtungsgrund mit Erfolgschancen sein könnte.

Dieser postdemokratische Wahlkampf, der noch dazu in hohem Maße gemäß §263 Strafgesetzbuch "Täuschung bei einer Wahl" problematisch zu sein scheint, kann nicht der Weisheit letzter Schluss sein.

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