Bk.Kern:..."sie wollen die Eliten auf den Knien sehen" (ZEIT)

Die Kernaussage Kerns: Die FPÖ-Wähler wollen das System und die Eliten auf den Knien sehen, weil sie sich deklassiert, ausgeschlossen und nicht ernst genommen fühlen.

In einem Page-one Interview mit dem Chefredakteur der ZEIT Lorenzo warnt Bundeskanzler Kern eindringlich vor dem Rechtspopulismus und Kern befürchtet, dass die Regierungsparteien noch viel mehr Wähler verlieren könnten. Im von mir gekürzten Kern - Interview ging es um die Frage, was macht die Populisten so stark und warum sind sie eine solche Bedrohung für die Demokratie?

http://www.zeit.de/2016/44/christian-kern-waehler-populisten-bedrohung-demokratie/komplettansicht

Z: Herr Bundeskanzler, bei Ihrem Amtsantritt wurden Sie als Österreichs Messias bezeichnet, ein Blatt nannte Sie gar Alpen-Obama.

K: Das war der Zeitpunkt, an dem ich wirklich Angst bekommen habe!

.....................

Z: Sie haben in der FAZ einen langen Aufsatz geschrieben als Teil einer Serie mit dem Titel Zerfällt Europa? Ihre Erklärung für das Erstarken populistischer Bewegungen in nahezu allen Ländern war, dass es vor allem die Abstiegsangst sei, welche die Menschen bewegt.

https://www.fischundfleisch.com/ebgraz/kern-in-der-faz-europa-muss-wieder-gerecht-werden-25729

Wäre eine Karriere, wie Sie sie gemacht haben, heute noch möglich? Sie stammen ja aus relativ kleinen, also normalen Verhältnissen.

K: ....Aber man muss schon aufpassen: Wir führen hier einen Elitendialog. Die Lebenswirklichkeit für viele Menschen schaut nicht so aus, dass sie ein Unternehmen gründen, Investoren finden oder eine tolle Karriere in einem Konzern machen können. Trump-Unterstützer, Präsidentschaftswahlen in Österreich, Aufstieg AfD, den Brexit oder Phänomen Le Pen, dann finden Sie ein und dasselbe demografische Muster.

Z: Nämlich?

K: Viele Menschen fühlen sich deklassiert.Wir wissen, dass die Globalisierung das größte Wohlstandsprojekt der Menschheitsgeschichte gewesen ist, sie hat unglaublich viele Menschen aus der Armut befreit.

Aber der Mechanismus, dass wir die Früchte der gemeinsamen Arbeit verteilen, hat in unseren Breiten, in den entwickelten Gesellschaften, zuletzt nicht mehr gut funktioniert. Damit ist dem Gefühl der Sicherheit der Boden entzogen worden......das europäische Projekt erodieren lassen kann. Insofern ist der Titel Zerfällt Europa? nicht ganz falsch. Wir haben uns jetzt mit dem Brexit auseinanderzusetzen. Aber wenn im kommenden Frühjahr Marine Le Pen im Elysée-Palast sitzt, dann wird das eine Herausforderung, die das europäische Projekt an seine Grenzen bringen wird.

Z: .....könnte Herr Hofer die Präsidentschaftswahl gewinnen und Matteo Renzi sein Verfassungsreferendum in Italien verlieren. Was wäre das für ein Signal an Europa?

K: Kein gutes. Dahinter steckt eine Politik der Obstruktion jener politischen (demokratischen) Strukturen, die wir nach dem Zweiten Weltkrieg in Europa aufgebaut haben. Aber die Menschen, die FPÖ, Trump oder Le Pen wählen, haben gar nicht die Erwartungshaltung, dass sich durch diese Wahlentscheidung ihre Lebensverhältnisse verbessern.

Z: Sondern?

K: Ich habe mit vielen gesprochen, die FPÖ wählen, und gefragt, ob sie wirklich glauben, dass dadurch etwas besser wird.

Die Antwort dieser Leute war immer wieder: Eh nicht, aber darum geht’s mir gar nicht. Sie wollen das System und die Eliten auf den Knien sehen. Weil sie sich deklassiert, ausgeschlossen und nicht ernst genommen fühlen.

Z: "Wie lange wird es die Regierung noch geben?"

K: Ich habe keine Patentantwort, außer zu versuchen, die Dinge in die richtige Richtung zu bewegen. Mehr Inklusion, mehr Menschen mitnehmen, das Gefühl der Gerechtigkeit stärken.....

K: Weiteres dominantes Motiv die kulturelle Irritation, die durch die Migration entstand......

Z: Man würde meinen, jeweils elf Prozent für beide Parteien beim ersten Wahlgang zur Bundespräsidentschaft ist schon schlimm. Sie meinen, es könnte noch schlimmer kommen?

K: Die Bindungen nehmen ab. Für die einstigen Großparteien gibt es kein Limit nach unten. Nach oben ist aber genauso viel möglich.

Z: Ist das Wort des Postfaktischen in Österreich angekommen, dass also die Aufklärung von Sachverhalten bei der Meinungsbildung keine große Rolle mehr spielt?

K: Ja, für viele Leute hat es nicht die geringste Relevanz, was wir ihnen erklären. Die folgen und hören uns nicht, die lesen nicht mehr die klassische Presse. Die sind in eine Gegenwelt gekippt, aus der man sie fast nicht mehr rausholen kann.

Z: Sie wollen das System und die Eliten auf den Knien sehen, ist das eine antidemokratische Kraft?

K: Mit Sicherheit. Es ist eine obstruktive Kraft..... Am Ende ...die "Dritte Republik"...

Z: Kann es nicht sein, dass das Establishment einfach das Sensorium dafür verloren hat, was viele beschäftigt?

K: Das ist so. An Tagen, die ich in den Bundesländern verbringe, erlebe ich ein Potpourri an Dingen, das die Menschen beschäftigt: Sorge um Einkommen, um Gesundheitsversorgung, um den Arbeitsplatz, um Wohnungen. Es ist einfach, das zu erkennen. Dann kommt man nach Wien zurück und erlebt die Auseinandersetzungen, die wir hinter den Mauern des Regierungsviertels führen..... eine Nabelschau....öftestes Frage... Wie lange gibt es die Regierung noch?

K:..... natürlich geht es der FPÖ um den Umbau unseres Staates.

Z: Hat die Regierung, als die Grenzen geöffnet wurden, unterschätzt, welche Angst der Kontrollverlust auslöst?

K: Ja, das hat man unterschätzt. Nur muss man die Entscheidungen aus dieser Zeit heraus sehen, und da war das nicht im Mittelpunkt. Sondern: Wie geht man damit um, dass Menschen nach wochen- oder monatelanger Odyssee in Europa gestrandet sind und Sorge um ihre Unversehrtheit und physische Integrität haben müssen? In der Situation war es richtig, diesen Menschen zu helfen. Die Frage, wie es weitergeht, wurde nicht gestellt. Wiewohl sie natürlich höchst relevant ist.

Z:...die Ängste kleingespielt ?

K: Möglicherweise wurde die Dimension falsch eingeschätzt..... Es ist ja mittlerweile Konsens, die Zuwanderung auf ein Maß zu begrenzen, das wir integrieren können. Diese Wir-schaffen-das-Politik von Angela Merkel, die für viele zum Feindbild geworden ist, gibt es meiner Meinung nach nicht mehr......

Als Sozialdemokraten können wir mit dem Migrationsthema nie eine Wahl gewinnen. Aber schnell verlieren, wenn wir uns nicht um diese Motive kümmern....Mit einer Rhetorik der Härte betreiben wir das Geschäft der FPÖ

Z: Angela Merkel hat erklärt, dass das Abkommen mit der Türkei entscheidend dafür war, die Zahl der Flüchtlinge zu senken. Die Schließung der Balkanroute hält sie nach wie vor für falsch.

K: Man muss die Kombination der Maßnahmen sehen. Natürlich hatte Deutschland einen Nutzen vom restriktiveren Vorgehen auf der Balkanroute. Wären aber nur diese Maßnahmen getroffen worden, dann wäre die Situation in Griechenland bald nicht mehr lösbar gewesen. Das hört sich fern an, aber die Probleme in Griechenland oder in Italien werden im Handumdrehen zu unseren, wenn wir sie nicht europäisch lösen.

....Durchwinken ... am Ende war es eine Strategie, die in Europa alle betrieben haben...............Mittlerweile wissen wir, das wird eine Generationenherausforderung sein. Die Wanderungswilligen in Afrika werden nicht weniger werden. Deshalb ist es richtig, eine aktivere Afrikapolitik zu entwickeln. Die wird auch Geld kosten. Aber das ist die einzige Chance, mit dem Phänomen umzugehen.

Z:.....Rolle von Herrn Orbán gefragt....

K: Der hat, wenn man so will, eine ganz eigene Position. Mit Ungarn verbindet uns viel, trotzdem sind wir nicht der Meinung, dass der Zweck alle Mittel heiligt.

Z: Die Politiker der Altparteien in Deutschland erleben aktuell eine derartige Welle von Anfeindungen, dass einige sagen, es sei nicht mehr zum Aushalten. Gibt es ein Level von Anfeindungen, bei dem Sie sagen würden, das tue ich mir nicht an?

K: Man muss sich bewusst sein, dass das so kommen wird und sich eine dicke Haut zulegen..."Wir erleben eine Verrohung der Sprache".....die Kunst besteht darin, nicht zynisch zu werden.

Wir wissen aus der Geschichte, dass der Gewalt der Worte irgendwann die Gewalt der Taten folgt. Das macht mich besorgt.

Wir müssen versuchen, möglichst alle in ein Boot zu bekommen und zu verstehen, dass es ein gemeinsames Ziel geben muss, das uns verbindet und vereint.

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Claudia Tabachnik

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Gerhard Novak

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