Zum Irrealen und nicht Wirkenden.

Die gegenwärtige Realpolitik ist in mehrfacher Weise eine Politik des Irrealen. Wenn wir unter Politik die Gestaltung des öffentlichen Raumes und des Gemeinwesens verstehen, so hat sie sich in überwiegendem Maß von ihrem Subjekt, von den Bürger_innen verabschiedet. Sie orientiert sich nicht an deren Interessen. Daher kann Realpolitik von den Menschen nicht als reale, als eine im positiven Sinn auf sie wirkende Politik begriffen werden. Sie ist nicht fassbar, bleibt abstrakt und bezieht sich auf die Lebenswelten der Menschen nur in einem relativ geringen Maß. Die Lebensbedingungen werden nicht besser, sondern tendenziell schlechter. Sie erodieren bis hin zur Mitte der Mittelschicht. Die Löhne steigen nicht, die Wohnungen werden teurer, immer mehr Menschen sind von Arbeitslosigkeit und Armut betroffen. Das Ergebnis ist eine Postdemokratie, an der die Menschen das Interesse verlieren, da sie von der Teilhabe ausgeschlossen werden und nicht jede Stimme gleich viel wert ist. Die Reichen und vernetzten Eliten, ausgestattet mit finanziellem, kulturellem und sozialem Kapital haben Einfluss, finanziell Benachteiligte nicht. Sie machen daher immer weniger von ihrem Wahlrecht Gebrauch. Die Ökonomie regiert die Politik und nicht umgekehrt. Die Realpolitik folgt daher nicht den Interessen der Polis, sondern der Profiteure der politischen Ökonomie. Sie kann als eine Politik des Nicht-Handelns apostrophiert werden. Sie handelt nicht selbstständig, sie wird - einem Puppentheater gleich - fremdbestimmt. Die Eliten der Ökonomie bewegen ihre Marionetten der Politik nach Belieben und zu ihrem Vorteil. Eine kapitalistische Ökonomie benötigt keine Demokratie, um fortzubestehen. Realpolitik ist eine Politik, die nur für die Finanzeliten und die herrschende Ökonomie real ist und in ihrem Sinne wirkt. Wollen wir freie Menschen, die in Würde leben können, so muss die existierende Ökonomie durch eine Politik für die Menschen überwunden werden.

Zur Verengung und Verriegelung der Zukunft. Realpolitiker_innen betonen, ihr Wert läge in der Orientierung am Machbaren. Sie orientieren sich ausschließlich am Bestehenden. Als Machbarkeit kann eine Verdoppelung der Vergangenheit verstanden werden, die dauernde Fortschreibung des Bestehenden. Realpolitik hat jegliche Bewegung verloren und steht in sich selbst still. Eine Politik, die sich nur am Machbaren orientiert, ist im Freudschen Sinne lustfeindlich und neurotisch. Sie unterdrückt und tötet in den handelnden Politiker_innen wie auch in der Bevölkerung jede Form der Lust und erstickt das Mögliche im Keim. Sie hat sich, den Erkenntnissen des Philosophen Ernst Bloch zu Folge, vom Prinzip des Möglichen, vom Prinzip der Hoffnung gelöst.

Die Realpolitik der Gegenwart ist nach rückwärts orientiert, sie sucht ihren einzigen Anhaltspunkt im bereits Erlebten und Erfahrenen. Sie konstruiert sich letztlich – in Ableitung von Sigmund Freud - nur aus dem Bewussten und Unbewussten. Eine Politik der Angst, die sich auf Verwalten und nicht auf Gestalten, nicht auf das noch nicht Erfahrene, zukünftig Mögliche bezieht. Dagegen baut eine Politik, die sich an der Zukunft orientiert, am Vorbewussten und nicht am unterbewussten Vergangenen auf. Vorbewusstsein nach Ernst Bloch ist jenes Bewusstsein, das sich im Schnittpunkt mit der Zukunft trifft. Die gegenwärtige Realpolitik knüpft, als wären sie ihr Vorbild, an die von Nestroy erschaffenen Figuren an, die einen kleinbürgerlichen Geist verkörpern, und produziert aus deren Haltung ein kollektives, gesellschaftliches Über-Ich. "Was können wir schon ändern - nichts." Nestroy charakterisiert einen Menschentyp, der sich ganz und gar dem Seienden ausliefert. Das entspricht dem Interesse der herrschenden, neoliberalen, kapitalistischen Ordnung. Die Hüter dieser Ordnung wollen alles andere als eine Politik, die als Ziel verbesserte Lebensbedingungen aller Menschen definiert und sich am noch nicht Erfahrenen orientiert. Realpolitik ist ein visionsloses Dahinwurschteln. Im Sinne der Menschen, die sie vertritt, sollte Politik jedoch nach vorne blicken und neue Möglichkeiten schaffen. Sie hat sich einer entfesselten und Ungerechtigkeit erzeugenden Ökonomie zu widersetzen.

Noch ist nichts ausgemacht.

Die Zukunft ist nach der kritischen Philosophie der Aufklärung eine noch nicht Ausgemachte. Die Gegenwart weist immer eine Latenz auf. Die Zukunft kann ins Verderben oder zur Verbesserung der Lebenslage aller Menschen führen.

Realpolitik ist eine Politik der Verengung. Sie macht den zukünftigen Lebensraum nicht auf, sondern zu und verriegelt ihn. Getrieben durch ihren Realitätssinn verhindert sie jegliche Möglichkeit auf Veränderung. Angst kommt von Verengung. Angst beherrscht die Politik und die Bevölkerung. Eine Realpolitik der Verengung produziert in den Menschen Ängste. Sie verändert die realen Verhältnisse nicht und macht damit ihre zukünftigen Totengräber mehrheitsfähig. Wenn die Realpolitik die Erwartungen der Bürger_innen nicht mehr erfüllt, wenden sie sich von ihr ab. Die Zukunft ist offen, eine angstmachende, neurotische Politik produziert in ihrem Stillstand jedoch nur einen Gewinner. Wenn wir nicht zu einer anderen Politik finden, wird Europa daher schon bald mehrheitlich von Rechtspopulist_innen regiert werden. Angst blockiert Individuen und die Gesellschaft als Ganzes. Rechtspopulist_innen machen eine Politik der Gefühle und konstruieren Vorurteile. Sigmund Freud bezeichnet Verdrängung als die infantile Vorstufe der Verurteilung. Sie verführt dazu, die Schuld an den eigenen schlechten Lebensbedingungen im Anderen, Fremden zu verorten. Ihre Grundlage ist rassistisch und nationalistisch. Sie löst keine Probleme, sie erfindet nur Schuldige. Der neoliberalen Ökonomie kann das egal sein. Sie braucht weder eine Demokratie noch Menschenrechte. Ihr Interesse liegt darin, den Profit für Wenige sicherzustellen. Vererbung von Superreichtum und Diktat des Kapitals anstatt Gestaltung der Ökonomie im Sinne der Menschen. Die wirtschaftliche Produktion sollte uns frei und nicht unfrei machen. Unsere Wertschöpfung sollte uns gehören und ein gutes Leben für alle ermöglichen.

Von der Überwindung der Realpolitik zu einer Politik der Ermöglichung.

Die Alternative ist eine Politik der Möglichkeiten, die sich am Vorbewussten, an einer Vision, an dem noch nicht real gewordenen, einem gelingenden Leben aller Menschen orientiert. Die Verwirklichung von sozialer Freiheit bedeutet nicht die Freiheit vom Anderen, sondern die Freiheit mit dem Anderen.

Die Zivilgesellschaft birgt die Möglichkeit in sich, eine irrationale Realpolitik zu überwinden und zu beseitigen, indem sie sich zu einer starken, außerparlamentarischen, sozialen Bewegung entwickelt. Träumen wir uns nach vorne. Die Philosophie, die unserem politischen Handeln zu Grunde liegt, ist offen für das Werdende und Heraufkommende. Sie kennt die Vergangenheit und die Gegenwart nicht nur in ihren negativen, sondern auch in ihren schöpferischen Möglichkeiten. Sie erkennt die Latenz der Gegenwart und hat sich durch ihre politische und gesellschaftliche Praxis tendenzgebend zu verhalten. Im Sinn von Immanuel Kant hat sie sich aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit und Passivität zu befreien und die Lebensbedingungen der Menschen real zu verbessern. Wir ersehnen den politischen Mut, das gedachte Zukünftige real werden zu lassen. Die Kraft und Energie liegen im Vorbewussten, dort wo die Sehnsucht den Wunsch entwickelt. Das darauf basierende Handeln und das Tun produzieren die Wirklichkeit neu. Die Latenz der Gegenwart ist der Schlüssel zu einer besseren Zukunft und die dafür notwendigen Wege sind in der Gegenwart zu suchen und zu beschreiten. Das noch nicht Bewusste ist die psychische Repräsentanz des noch nicht Gewordenen. Ernst Bloch verortet das Momentum der Veränderung unter anderem in einer Zeitenwende. Die blockierende Realpolitik versperrt die Zukunft, bis der Druck so groß geworden ist, dass der Damm bricht. Insofern stehen wir am Beginn einer Zeitenwende. Die Zukunft ist offen und doch antizipierbar. Entweder obsiegt die Politik der Angst, die im Anderen das Übel verortet oder wir sind stark genug, einer gemeinsamen sozialen Freiheit zum Durchbruch zu verhelfen. Die Weichen dafür sind im Hier und Jetzt zu stellen. Die Zukunft hat begonnen.

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Schreinler Touni

Schreinler Touni bewertete diesen Eintrag 07.01.2016 09:42:08

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