Zu der Demonstration auf der A1 durch ca. 200 Armenier möchte ich kurz meine Position darlegen, weil es ja doch ein paar Leute interessiert und ich das auch an mehreren Stellen bei FB getan habe. Zeitgleich gab es auch in anderen Ländern Brücken-, Straßen- und Autobahnbesetzungen.

Bei allem Respekt: Nein! Mit dieser Aktion wurden Sympathien verspielt. So traurig der Anlass für diesen Akt der Verzweiflung auch ist, es war falsch, gefährlich und hat Leute mithineingezogen, die absolut unbeteiligt sind. Es hätte andere Wege gegeben.

Durch diese Art von Aktivismus werden Menschenleben gefährdet. Siehe z.B. die letzte grünextremistische Aktion auf der A3. Zusätzlich auch noch: Leute kamen zu spät oder gar nicht zur Arbeit, zu ihren Terminen usw. Natürlich, alles nicht wirklich schlimm, ja, und auch kein Vergleich zum Leid der Armenier, die in Arzach um ihr Überleben kämpfen müssen. Aber das Eine hat nichts mit dem Anderen zu tun, denn auf der A1 war es den Betroffenen vermutlich vollkommen unbekannt, was da im Südkaukasus los ist und wahrscheinlich auch völlig egal, weil ihr Frust in eigener Sache höher bewertet wird. Was hing noch alles dran? Umwege für Rettungskräfte und Ressourcenumlagerung bei Firmen, Bürgern usw., die absolut gar nichts damit zu tun haben. Bei einem Verkehrsunfall oder Naturkatastrophen oder sonstigem sind Verspätungen unvermeidbar und daher logischerweise akzeptabel.

Was bleibt nun in Erinnerung bei den Leuten, die von dieser Blockade betroffen waren und bei den Lesern über diese Aktion? Man denkt beim Begriff "Autobahnbesetzung" nunmehr nicht nur an türkische und arabische Hochzeiten von Großfamilien, linksradikale Studentenproteste (2000er), Öcalanisten (1990er) oder Öko-Fundamentalisten, nein, jetzt womöglich auch noch an das eben aufgeführte. Dabei wurde die armenische Trikolore geschwenkt, im Gastland, und der Ottonormalverbraucher fragt sich natürlich: "Warum zum Geier demonstrieren die in meinem Land und was habe ich damit zu tun?!"

Seit Jahren arbeiten viele Armenier bewusst oder unbewusst daran, - jeder auf seine Art und Weise und in seinem Mikrokosmos - "armenische Interessen" verständlich und zivilisiert zu erklären. Auf der Arbeit, mit Freunden oder so wie ich in Blogs usw. Ich bin davon überzeugt, dass "wir" mit solchen Aktionen zurückgeworfen und stigmatisiert werden. Nun werde ich und auch andere armenischstämmige in eine Position gezwungen, in der man sich permanent erklären muss, für solch eine Aktion. Für die Fans von AKP, MHP usw. ist das gerade eine perfekte Vorlage zum Draufhauen. Und für Rechtsaußen ist das eine willkommene Bestätigung, dass Ausländer mit ihren Problemen gefälligst nicht in Deutschland, Österreich etc. ihren Zwist ausleben sollen.

Leider können oder wollen viele Armenier meine Perspektive nicht verstehen, weil sie natürlich ausschließlich das Leid des eigenen Volkes sehen. Mir ist vollkommen klar, dass es die nackte Verzweiflung war, die die Protestierenden dazu bewogen hat. Da kommt dann einer wie ich und stoße ihnen auch noch vor den Kopf, indem ich sage, dass es ein absolutes "No-Go" ist, im Gastland, mit fremden Fahnen, die Einheimischen in eine schon brenzlich ausgegange Aktion mit hineinzuziehen und quasi damit zu bedrängen. Tut mir Leid, aber das geht nicht. Es ist der absolut falscheste Weg des Protestes! Vermutlich bin ich nicht repräsentativ für einen Armenier, aber immerhin ein Armenier. Nur, wie sollen die Deutschen bitteschön für "unsere" Sache sensibilisiert werden, wenn selbst ich diese Aktion für vollkommen falsch halte?!

"Wir" Armenier sollten und müssen alles tun, was nötig ist, aber kein gefährlicher Eingriff in den Straßenverkehr nach § 315b (und/oder c) StGB! Demos, Aktionen und Briefe an Promis, Presse, Firmen, MdBs, MdLs, Bürgermeister, Facebook usw., ja! Solche Aktionen wie die auf der A1 unterminieren jede legitime Forderung und jede (Öffentlichkeits-)Arbeit, egal auf welcher Ebene. Man könnte fast schon Sabotage dahinter vermuten, schrieb ich in einem Kommentar und fragte ohne Sarkasmus: "Was kommt denn als nächstes, Selbstverbrennung?"

Erst war ich schockiert und fast schon wütend darüber, dann peinlich berührt und nun irgendwie voller Mitleid. Ich verstehe den Grund, aber ich bleibe dabei: Es war kontraproduktiv! "Warum keine Aktion wie bei den Identitären?", las ich erst kürzlich. Genau, spektakuläre Aktionen wie sie die Identitären veranstalten, das hätte ich vermutlich sogar gutgeheißen.

Denken die Einheimischen nun, dass die Armenier sich wie Türken, Kurden, Araber und Moslems aufführen? "Die sollen gefälligst ihren Konflikt daheim austragen!", "Sollen die Männer doch in den Krieg ziehen und sich nicht feige in Deutschland verkriechen!" und ähnliches habe ich lesen müssen. Teilweise verständliche Aussagen, die man in ihrer Naivität und Aufgebrachtheit bezüglich des Einwanderungszwangs seit 2015 nachvollziehen kann. Die Komplexität dieses speziellen Konfliktes würde aber den Rahmen einer jeden Kommentarspalte sprengen. Daher sollte man sich mit solchen halbdämlichen Sprüchen eigentlich zurückhalten.

Wir Bürger im Allgemeinen werden diese und andere Konflikte eh nicht lösen können. Dafür sind tausende inkompetente Ar*chlöcher in den Hauptstädten zuständig, die wir zwangsweise finanzieren müssen. Die müssten (besser gestern schon) ausgewechselt werden und die Anzahl auf ein Minimum beschränkt werden. Aber das ist ein anderes Thema, worauf ich mehrmals schon einging. Wir können und müssen aber auf Missstände aufmerksam machen, egal wo wir poliltisch und "hierarchisch in der Pyramide" stehen.

https://www.abendblatt.de/hamburg/article230683836/Demonstration-auf-der-A1-loest-Verkehrschaos-aus.html https://img.abendblatt.de/img/incoming/crop230692632/4052607613-w820-cv16_9-q85/Demonstration-A1-Hamburg-Autos-Krieg-um-Bergkarabach.jpg

Letzte Woche schrieb ich auf FB: Grundsätzlich finde Demonstrationen, wie diese für Artsakh / Arzach nicht verkehrt , auch wenn ich sie für relativ nutzlos erachte, weil sie es nun einmal fast immer waren und sind. Ebenso Petitionen. Bis auf sehr wenige Ausnahmen, die dann in die Geschichte eingingen.

Natürlich werden Leute durch Demos erreicht und sie werden sich sicherlich nun wie in diesem Fall, mit diesem Krieg befassen, auch ein paar Politiker. Für viele wird das aber mit Sicherheit auch befremdlich gewirkt haben, all diese fremden Fahnen von Menschen, die doch eigentlich Amerikaner, Franzosen etc. sind. Ich bin auch kein Fan davon, dass im Gastland mit ausländischen Fahnen geschwungen wird.

Die türkische und aserbaidschanische Propaganda läuft dermaßen gut, dass offenbar auch immer mehr Tayyip-Gegner darauf reinfallen. Auf manchen Bildern hier und auf anderen Seiten sieht man auch Kurden mit ihren Fahnen mitdemonstrieren, was zwar positiv ist, aber ein gefundenes Fressen für die tayyip'sche Propaganda darstellt. Speziell in Deutschland krakelen gewisse Subjekte, dass man nun Sympathien mit bestimmten verbotenen Organisationen hätte. Sehen Sie sich sämtliche Kommentarspalten und dann die Profile dieser Leute an.

Ich bin selten so berunruhigt und traurig wie in diesen Tagen. Wegen der Opfer und der noch folgenden, die auch durch Streubomben und Dronentechnik aus gewissen Ländern sterben werden. Diese gewissen Länder sorgen sogar jetzt noch für Nachschub. Auch wegen der "extrem lauten Stille" im Idiotenrat der UNO, der EU-Kommission sowie der Minsk-Gruppe usw. Es sterben auf beiden Seiten Menschen, die selbst in der nächsten Generation wohl niemals Frieden schließen werden können. Das erinnert mich sehr an die abscheulichen Jugoslawienkriege, deren Wunden jetzt erst teilweise beginnen zu heilen.

Dieser Bergkarabach-Konflikt war immer sehr weit weg und mich als Nachkomme von Westarmeniern tangierte es kaum. Die Probleme der Sowjet- und Orientarmenier waren allein schon geographisch so weit entfernt von mir. Eine Spende an Ostern oder Weihnachten beruhigte bisher mein Gewissen, das gebe ich auch ohne Reue zu. Die Probleme mit dem Merkel-Regime, mit allen Themen, die daran hängen, belasten einen ja schon zu Genüge. Da ich Jahrgang 1980 bin, sind mir die Ereignisse Ende der 1980er/Anfang der 1990er nicht sehr präsent.

Geopolitisch relevant schien es nie zu sein, weshalb man auch kaum in der Presse davon las oder hörte und persönlich interessant war es für mich auch nicht. Bisher! Es betrifft nicht nur die Menschen dort, sondern auch hier, also überall wo Armenier und Türken leben, sowie alle anderen Bevölkerungsgruppen der Akteure dort in der gesamten Region.

Wohin das alles führt, kann ich nur erahnen, aber jede Spekulation oder Prognose macht einen leider unglaubwürdig, weil man halt "kein Gewicht hat" und somit nur die eigene Betrachtungsweise in den politischen Diskurs auf einer gewissen Ebene einbringen kann.

Hätte ich keine Verwandtschaft in "Konstantinopel" würde ich vermutlich auch ohne Pseudonym und direkter publizieren.

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