Abschied in Raten - Hoffen und Bangen

Irgendwie kommen wir nach Hause. Ich halte die Hand meiner Mutter immer noch. Sekundenlang, minutenlang, oder auch ein paar Stunden. Eigentlich ist das unwichtig. Ich kann nur nicht loslassen. Im Hinterkopf schwappt eine Erinnerung hoch und die Erinnerung sagt laut und deutlich, dass es der Wunsch meiner Mutter war, nicht alleine den Weg ins Jenseits anzutreten. Und so sitze ich da und halte die kalte, faltige Hand in meiner und denke nichts. Da sind nur meine Mutter und ich und die in Wellen auftauchende Erinnerung, die mich beständig die Hand meiner Mutter festhalten lässt.

Ich bin auf einmal so müde. Im Inneren wird es mir so kalt, dennoch kann ich nicht aufstehen und mir eine Decke holen. Stattdessen betrachte ich das runzelige Gesicht meiner Mutter und weiss nicht, was ich fühlen soll.

Irgendwann lege ich meinen Kopf aufs Bett und gleite in einen sehr ruhigen friedlichen Zustand hinüber....

aus dem mich Josef etwas unsanft weckt. Ich bin verwirrt und frage mich, warum ich nichts von dem was ich höre, verstehen kann. Josef steht da und nichts in seinem Gesicht rührt sich, aber dennoch höre ich Töne.

Es dauert schier unendlich, bis ich realisiere, dass meine Mutter diese Töne verursacht.

Ich weiss nicht, ob ich erschrocken bin, oder erleichtert, oder verunsichert - wahrscheinlich ist es eine Mischung aus all den Gefühlen, die sich überlappen, verdrängen, zum Vorschein kommen und wieder verschwinden.

Was bleibt, sind die Töne, die meine Mutter produziert. Sie klingen nicht nach Schmerz, nicht nach Angst und auch nicht nach Verzweiflung - eher nach sowas wie leichte Verärgerung über einen Zustand, der lediglich Töne erlaubt - aber sonst nichts.

Impulsiv drücke ich die Hand meiner Mutter, die sich inzwischen warm anfühlt, aber es ist ein einseitiger Händedruck. Es kommt nichts zurück.

Ich sehe meiner Mutter ins Gesicht. Sie strengt sich unheimlich an, die Augen offen zu halten, aber überwältigt vom Geschehen der letzten Stunden ist sie wohl sehr müde und die Augenlider fallen im Zeitlupentempo immer wieder zu.

Ich muss weinen, Mitleid übermannt mich und ich fühle mich so richtig hilflos. Ich möchte ihr so gerne was Gutes tun, stoße aber hier an meine Grenzen, weil ich einfach gar nicht weiss, was ich tun kann. Josef stellt sich wortlos hinter mich und ich lehne mich an seinen Bauch.

Meine Mutter kämpft gegen die Müdigkeit oder ums Überleben. Wer kann das schon sagen. Es ist nahezu unerträglich, meine Mutter so zu sehen.

Die Zeit verrinnt und der Kampf meiner Mutter, die Augen offen zu halten, ist unheimlich schwer zu ertragen. Vor allem, da ihr keiner helfen kann.

Ich ertappe mich dabei, immer wieder auf den Brustkorb zu achten. Sie atmet so flach und so leise und nicht nur einmal durchzuckt es mich eiskalt, weil ich denke, dass die Atmung ausgesetzt hat.

Josef beugt sich zu meiner Mutter und spricht sie so unbeholfen an, dass ich nur erahnen kann, wie schwer es ihm fällt, auch nur ein einziges richtiges Wort herauszubringen.

Ein weiteres Mal flackern die Augenlider und für einen kurzen Moment erkennt sie wohl Josef. Dann seufzt sie und schläft ein.

Vor uns liegt eine schlaflose Nacht.....

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