Radikale Jugendliche – gescheitertes Multikulti?

Die Studie von Kenan Güngör schlug jüngst hohe Wellen. Rund ein Viertel bis ein Drittel der befragten muslimischen Jugendlichen stimmte eher oder ganz der Meinung zu, dass sich die islamische Welt mit Gewalt gegen den Westen verteidigen müsse. Und jetzt?

Ruhig Blut, das ist das wichtigste in diesem Moment. Kenan Güngörs Studie bezieht sich nämlich zum ersten einmal auf Jugendzentren. Und Jugendzentren sind – das weiß ich aus eigener beruflicher Erfahrung – keineswegs ein Spiegel der Gesellschaft, sondern ein Teil, der sein eigenes Klientel hat. In Jugendzentren sind viele super Kids, die ihre Freizeit eben dort verbringen. Gerne wird das auf die sozio-ökonomischen Umstände der Elternhäuser zurück geführt, was sicherlich seinen Teil zur Zusammensetzung des Klientels beiträgt. Wer hingegen montags zur Privatnachhilfe geht, Dienstags zu Theaterunterricht, Mittwochs Tennis spielt und Donnerstags zu den Pfadfindern geht, wird eher wenig Zeit für's Jugendzentrum haben. Also ja, Jugendzentren richten sich an die Kids, mit denen eher wenig in der Freizeit unternommen wird.

Wir begegnen also in jeder Studie, die sich mit Jugendzentren beschäftigt, eher Jugendlichen, die durch äußere Umstände nicht so wohlbehütet sein können wie andere. Das sagt nicht notwendigerweise etwas über ihre Eltern aus. Wir sollten auch nicht zu viel darüber reden, dass das Klientel oft aus migrantischen Haushalten kommt. Das greift zu kurz. Migrant*innen sind doppelt so häufig armutsgefährdet wie Nicht-Migrant*innen. Es sind die äußeren Umstände, die zur Zusammensetzung des Klientels führen. Früher hießen die Besucher halt Franz und Andi, heute Cem und Miroslav. Aber nicht der Migrationshintergrund bedingt das, sondern die sozio-ökonomischen Umstände in Wien bzw. Österreich.

Ein weiterer Umstand, warum eine derartige Studie nicht zu plakativen Aussagen taugt, sind die Kids selbst. In der Pubertät ist es ja komplett normal, seine Identität zu suchen, zu finden, sie zu verwerfen und sich neu zu definieren. Da kann jetzt wohl jede Leserin und jeder Leser in sich gehen, welcher Subkultur sie oder er selbst angehörte. In der Jugend kannst du ja alles sein und ausprobieren. Heute Punk, morgen Techno, dann Öko-Freak, Fascho oder Dschihad-Anhänger. Und dass ein Jugendlicher oder eine Jugendliche die komplette Antithese zur Mehrheitsgesellschaft als (temporäres?) Ideal für ihre oder seine Lebensphase erachtet, ist nicht sehr verwunderlich. Gerade wenn mir da ein Fremder ein Mikro unter die Nase hält, dann will ich ja besonders auffallen. Und wer schon einmal Jugendliche gefragt hat, ob sie eh die Hausübung gemacht haben, weiß, wie situationselastisch die Antwort sein kann und dass der Wahrheitsgehalt nicht immer deckungsgleich mit der Realität ist.

Natürlich kann sollte man jetzt nicht sagen, dass die gegenständliche Studie komplett harmlos ist! Dafür ist der Studienautor zu sorgfältig. Doch die zu ziehenden Schlüsse müssen sorgfältiger sein, als „notwendige Maßnahmen gegen Radikalisierung und wesentliche Notwendigkeiten wie etwa das Verbot der Vollverschleierung“ (ÖVP) oder dass Integrationsbemühungen der Stadtregierung „endgültig gescheitert“ (FPÖ) sind. Solche Allgemeinplätze sind Blödsinn, im besten Fall nur populistische Politikeraussagen. Wenn es etwas gibt, dann ist es schließlich ja die Perspektive, dass aus meinem eigenen Leben etwas Sinnvolles entstehen kann. Und nicht einmal das zählt, denkt man an die eigene Jugend zurück. Diese Studie betrachtet letztlich nur einen kleinen Ausschnitt der in Österreich lebenden Jugendlichen. Ein Indikator, dass „Multi-Kulti“ gescheitert ist, ist es aber nicht. Auf solche Ideen kann man nur kommen, wenn man letztlich Hassbotschaften aussenden will oder sich komplett der Realität verweigert.

Und diese Realität heißt nicht, dass wir ein riesiges Problem mit Dschihadistenjungs haben, sondern dass einerseits mit Jugendlichen gesprochen wurde und andererseits die Gesellschaft immer ungleicher wird. Daran ist aber nicht Multikulti Schuld oder der muslimische Glaube, sondern die Politik, die als Regulativ zwischen Wirtschaft und Staatsvolk fungieren sollte. Natürlich braucht es mehr Unterstützungsmaßnahmen - aber eben nicht für muslimische Jugendliche, sondern für Jugendliche, die armutsgefährdet sind. Das kostet Geld. Und haben nicht just die beiden erwähnten Parteien dazu beigetragen, dass Steuergelder verschleudert wurden, die man statt in Abfangjäger und Banken in Schule und Bildung investieren hätte können?

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