Meine Meinung: Was tun, wenn Recht und persönliches Gerechtigkeitsempfinden nicht mehr zusammenpassen?

Eine Begleiterscheinung der modernen Gesellschaft ist ein sehr komplexes Normensystem. In einer wahren Flut an Regeln und Gesetzen werden ursprünglich aus Werten abgeleitete Verhaltensanordnungen in Paragraphen allgemeingültig festgeschrieben und damit der Autonomie der Mitglieder des Verbundsystems Staat entzogen. Was dabei „richtig“ ist wird also in Recht gegossen: dem Handeln der einzelnen Personen, die sich in einem territorial eingeschränkten Gebiet aufhalten, wird einen Rahmen geben, innerhalb dessen das Wirken mit dem Attribut der Legalität versehen wird. Das Recht geht dabei vom Volk aus – so ist der Leitsatz in einer Demokratie. Damit ist der rechtsphilosophische Anspruch daran zum Ausdruck gebracht, dass Recht dem Wertebild einer Gesellschaft zu entsprechen hat. Es werden Schutzzwecke als unverrückbar und unverhandelbar zu Leitprinzipien erhoben. Ein Zuwiderhandeln gegen die Rechtsordnung ist zumeist – Ausnahme stellt die so genannte lex imperfecta dar – mit Sanktionen durch staatliche Einrichtungen versehen, es wird dazu Recht gesprochen. Neben dieser durch Akte der legislativen Gewalt geschaffenen Rechtsordnung kommt auch der Judikative und in gewissem Rahmen der Exekutive eine Rolle in der Ausformung von Recht zu: durch Rechtsprechung und Rechtsanwendung werden nicht nur die generellen Bestimmungen konkretisiert auf die einzelnen Rechtssubjekte, wo sie ihre Wirkung speziell entfalten, sondern erfahren durch Auslegung auch einen Wandel, welcher durch die von der Rechtsordnung selbst definierten Instrumente der Interpretation legitimiert ist.

Innerhalb dieser groben Spange gibt es weitere Systeme, in welchen ebenfalls zunehmend eine Tendenz zur Abgabe der Eigenverantwortung zu Gunsten von uniformierten Normen erkannt werden muss: Unternehmen geben sich eine corporate identity, Parteien verschreiben sich ihren Parteiprogrammen, Vereine geben sich eine Satzung, Religionen vereint in ihren Geboten eine gemeinsame Anschauung, Familien und Freundeskreise geben sich einen meist ungeschriebenen Kodex. Ähnlich der Rechtsordnung werden ebenfalls Regeln geschaffen, die aus supraindividuellen Werten abgeleitet und zur Verhaltensanordnung für den einzelnen erhoben werden. Auch hier ist zumeist ein Sanktionsmechanismus vorgesehen, auch hier wird innerhalb des Systems als Preis für die Zugehörigkeit die Freizügigkeit des Individuums gesehen.

So wertvoll eine Rechtsordnung und das gemeinsame Bekenntnis auf Regeln innerhalb eines Systems auch ist, in zwischenmenschlichen Fragen, welche an die Grundbedürfnisse des Menschen herangehen, kommen die Schwächen einer solchen Übertragung der Verantwortung zu Tage: Bedürfnisse und Interessen des Einzelnen bedürfen eines Spielraumes für die eigenverantwortliche Verwirklichung. Ist dieser Spielraum nicht gewährleistet, so wirken die Regeln eines Systems kontraproduktiv zur Selbstverwirklichung des Individuums. Wo ein Normenverband dies übersieht, wo er nicht einer teleologischen Auslegung in Ableitung der ursprünglich zu Grunde gelegten naturrechtlichen Werte unter Mitberücksichtigung von individuellen Bedürfnissen und Interessen zugänglich bleibt, läuft er Gefahr, eine revolutionäre Abkehr zu provozieren.

Dieses Spannungsverhältnis zwischen Recht im weitesten Sinne auf der einen Seite, welches akzeptiert wird im Sinne von friedenserhaltenden Regeln des Miteinander, und persönlichem Anspruch auf Gerechtigkeit auf der anderen wird an vielen Fragen in unserer Gesellschaft sichtbar: in meist oft gar nicht bewusst gemachten Abwägungen zwischen einem rechtskonformen Verhalten und einer allenfalls dazu erkannten Alternative, zu welcher man sich den eigenen Vorstellungen von Gerechtigkeit folgend ein besseres Ergebnis erwartet. Beispiele gefällig?

Grundsätzlich fühlen sich Menschen einem System zugehörig und damit auch verpflichtet, dessen Normen und Standards, welche für einen Problemfall entwickelt wurden, zu befolgen. Es wird dabei ein eigener Reaktionsimpuls hinter die Beflissenheit in der Rechtschaffenheit zurückgestellt. In einem streng an gesetzliche Bestimmungen der jeweiligen Straßenverkehrsordnung orientierten System wird beispielsweise zwecks Überquerung einer Fahrbahn als Fußgängerin oder Fußgänger der nächste Zebrastreifen aufgesucht werden und das Ampelsignal streng befolgt werden. In einer Weiterentwicklung dieser Normenorientiertheit als Handlungsanleitung kristallisiert sich jedoch eine Reindividualisierung heraus. Es bilden sich Subsysteme und individuelle Reorganisationen des Ordnungssystems, dem man sich verschrieben hat: die so genannten Axiome der Logik werden schlagend. Demnach muss alles, was im Rahmen einer Norm vorgegeben wird, eindeutig sein sowie widerspruchsfrei im Verhältnis zu anderen Normen beziehungsweise in einem klaren Stufenbau ober- und untergeordnet und schließlich das Fortbestehen mit einem zureichenden Grund rechtfertigen. Auf das Beispiel der Fahrbahnüberquerung umgelegt kann das bedeuten, dass ein Subsystem innerhalb der normenorientierten Gruppe der Verkehrsteilnehmerinnen und Verkehrsteilnehmer es als Bestandteil der Verhaltensanordnung betrachtet, dass ein Überqueren der Straße in jenen Fällen, in welchen kein Fahrzeug nah genug ist um ein Hindernis darzustellen, auch bei rotem Ampelsignal zulässig sein muss, da die Norm in diesem konkreten Einzelfall nicht anwendbar erscheint vom Normzweck her. Dies kann eine Erkenntnis der Gruppe sein, wie es etwa im kanonischen Recht als Epikie sogar in das Normensystem selbst Eingang gefunden hat als generelles Prinzip, es kann aber auch eine individuelle Leistung sein, welche allerdings nicht schützt vor Komplikationen mit den Systemzugehörigen etwa in Person des Verkehrspolizisten beziehungsweise der Verkehrspolizistin.

Auch in Fragen von wesentlich schwerwiegenderer Auswirkung stellt sich diese Problematik: der Fall von Marianne Bachmeier etwa, die 1981 im Gerichtssaal während dem laufenden Prozess plötzlich die Waffe zückte und den mutmaßlichen Peiniger und Mörder ihrer Tochter mit mehreren Schüssen hinrichtete. Das Herz zahlreicher Eltern hat damals applaudiert, für richtig und gut geheißen, was diese Mutter gemacht hat – wenngleich die Tötung eindeutig den Strafgesetzen zuwiderläuft aus gutem Grund: wie wesentlich ist doch dieses Verbot für den Frieden wenn man bedenkt, dass ansonsten Tür und Tor geöffnet wäre für unüberlegte Akte der Selbstjustiz als fixer Bestandteil des Alltages.

Die beiden Beispiele verdeutlichen, dass für die Beachtung der Rechtsordnung einen wesentlichen Bestandteil für den Rahmen einer Gesellschaft darstellt: erst dadurch wird die für gemeinsames Wachstum und Zusammenwirken erforderliche Basis geschaffen, nur so können Frieden und Sicherheit bestmöglich gewährleistet werden. Ein intuitives Überqueren der Fußgängerinnen und Fußgänger an den jeweils gewünschten Stellen zu dem individuell für notwendig gehaltenen Zeitpunkten würde so etwa den Verkehr im Stadtgebiet wohl vollkommen zum Erliegen bringen und insgesamt wohl eine bedauerliche Spur in der Statistik der Verkehrsopfer hinterlassen. Und die Zulässigkeit von Selbstjustiz zwecks Erlangung subjektiver Gerechtigkeit würde zwar die Gerichte entlasten und auch die Gefängnisse wahrscheinlich überflüssig machen, man wäre sich aber seines Lebens nicht mehr sicher, wenn vielleicht bei nächster Gelegenheit es jemand für erforderlich da gerecht hält, einen abzumurksen für einen falsch verstandenen Witz.

Was allerdings zulässig und auch ein Zeichen einer hoch entwickelten Demokratie ist, ist das ständige Hinterfragen der Übereinstimmung von gültigen Normen mit den einem ständigen Wandel unterliegenden kollektiven Vorstellungen und Werten. Das Recht geht vom Volk aus – daher liegt es auch in der Verantwortung der Gemeinschaft (demos), für eine ständige Weiterentwicklung der Rechtsordnung zu sorgen im Bestreben, möglichst nahe heranzukommen an die Gerechtigkeitsvorstellungen aller. Dies wird mit Anleitungen zum kollektiven Ungehorsam mehr schlecht als recht funktionieren – besser ist das konstruktive Aufzeigen von Änderungsbedarf im Wege der demokratischen Hilfsmittel von Petitionen über Volksbegehren bis hin zu den Wahlen als Richtungsentscheid.

P.S.: Mit dem gegenständlichen Artikel will der Autor zur gerade laufenden Diskussion über eine mancherorts gesehene moralische Verpflichtung zum zivilen Ungehorsam in einzelnen Fragen unserer Gesellschaft beitragen.

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