Gleich mehrere wissenschaftliche Strömungen beschäftigen sich mit Begebenheiten im menschlichen Miteinander. Es wird dabei beispielsweise versucht zu ergründen, weshalb Menschen einander viel zu oft das Leben schwer machen. Weshalb sie sich förmlich gegenseitig in den Weg stellen – in jenen Weg, von dem man eigentlich für sich erhofft, sein Glück und seine Verwirklichung zu erreichen.

Ein sehr spannender Ansatz stammt aus der Phänomenologie. Edmund Husserl spricht dabei in seinen Ideen von „noesis“ und „noema“. „Noesis“ bedeutet dabei den sinnbildenden Bewusstseinsakt als solchen, der sich auf einen Gegenstand bezieht (glauben, wollen, hassen, lieben) und „noema“, wie der Gegenstand durch diese noetischen Akte erscheint (das jeweils Geglaubte, Gewollte, Gehasste, Geliebte). So ist zum Beispiel das Noema der Wahrnehmung eines auf der Plattform „Fisch und Fleisch“ seine Meinung vertretenden lediglich die selbst geschaffene Wirklichkeit der dahinter steckenden Person. Diese unterscheidet sich sehr wahrscheinlich aber nun fundamental von dem realen Menschen, der aus weit mehr als bloß den wahrgenommenen Aneinanderkettungen von Buchstaben, dem Nicknamen und einem Avatar besteht. Die eigene Wahrnehmung der virtuellen Person besitzt keine realen Eigenschaften – sie ist vielmehr ein selbst geschaffenes Bild aus eigenen Gedanken und Emotionen, welche durch den eigenen Bewusstseinsakt der Interpretation gelesener Beiträge entsteht.

Dass wir etwas als etwas vermeinen, ist der zentrale Gedanke Husserls, die sogenannte Intentionalität. Sehr gut lässt sich das auch an Alltagserlebnissen verdeutlichen wie etwa einer vermeintlichen Schaufensterpuppe, zu welcher man danach feststellt, dass es sich um eine lebende Person handelt und man somit plötzlich auch in den Zustand des Beobachteten versetzt fühlt. Auch Vexierbilder oder Vexiervideos dienen einer guten Veranschaulichung: das Video einer durch eine Station fahrenden U-Bahn, zu welcher man durch Änderung des am Bild mit den Augen fixierten Punktes die wahrgenommene Fahrtrichtung ändern kann, zeigt, wie das intentional vermeinte zwischen zwei oder auch mehr Bedeutungen umschlagen kann. Ohne dass ein Gegenstand oder eine Person einer Veränderung unterzogen wird, kann plötzlich die „noema“ der Wahrnehmung davon zu einer vollkommenen Veränderung der Situation führen.

Geht man in der wissenschaftlichen Betrachtung solcher Begegnungen einen Schritt weiter und nimmt die Perspektive der Erkenntnisse aus dem gestalttheoretischen Ansatz hinzu, so erhält man einige mögliche Begründungen dafür, weshalb ein einmal selbst geschaffenes Bild von seinem Gegenüber so schwer abgelegt werden kann: Im Gedächtnis werden Strukturen aufgrund assoziativer Verknüpfungen ausgebildet und differenziert. Sie folgen einer Tendenz zu optimaler Organisation und werden gegen andere Interpretationsmöglichkeiten des Wahrgenommenen verteidigt. Nicht miteinander vereinbare Kognitionen einer Person führen zu dissonantem Erleben und zu kognitiven Prozessen, die diese Dissonanz zu reduzieren versuchen: es wird einfach alles, was dem einmal geschaffenen Bild von der Person widersprechen könnte, ausgeblendet. Vor allem in der Konflikteskalation begegnet man diesen Prozessen sehr häufig: es wird die eigene „noema“ nur noch gefüttert mit Interpretationen des Wahrgenommenen, die irgendwie – notfalls auch mit einer logischen Brechstange – hingebogen werden können auf eine Bestätigung der selbst geschaffenen Wahrheit. Was dem widersprechen könnte wird ausgeblendet und notfalls auch geleugnet. Es kann doch nicht sein, dass mit dem einmal geschaffenen Bild von einer Person falsch liegt.

Bedauerlicherweise können solche Prozesse auch auf der Plattform „Fisch und Fleisch“ – wobei diese nur beispielhaft genannt wird, zumal auch auf anderen Plattformen aus der Gruppendynamik des Systems Gleiches zu beobachten ist – mitverfolgt werden. Einzelne Menschen folgen dem Aufruf, Ihre Meinung darzulegen und auch mit anderen zu diskutieren – und werden schneller, als sie schauen können, in eine Schublade gesteckt: ein @Leopold Scharf etwa sieht sich ständig auch bei vollkommen anderen Themen ausgesetzt der Diskussion darüber, ob es nun statthaft sei, „Liebe“ als Allheilrezept zu sehen und die Eigenverantwortlichkeit zu betonen; zahlreiche Bloggerinnen und Blogger finden kaum mehr heraus aus der ihnen zugedachten Schublade des „linken“ oder der „rechten“. Und Menschen wie jener, der hinter einem „Pinkfloyd“ steht, werden für ihre Anfälligkeit, auf Provokationen ungeschickt zu reagieren, auch dann noch verfolgt, wenn sie objektiv betrachtet lediglich eine Meinung vertreten, die sich innerhalb des Rahmens der Rechtsordnung und der Netiquette der Plattform befindet und mit einem anderen Namen verbunden sogar als interessant verbunden würde, als „teilenswert“; weil es nicht sein kann. Weil die selbst geschaffene „noema“ dieses Menschen einem im Weg steht, hier einen konstruktiven Dialog zu starten. Schlimm, dass man damit auch diesem Menschen Unrecht antut – sich auch diesem Menschen mit dem eigenverantwortlich geschaffenen Abbild in den Weg stellt und ihn auf etwas reduziert, das ihm vielleicht nur in einer Momentaufnahme hinsichtlich eines sehr geringen Teiles seiner Persönlichkeitsstruktur gerecht wurde.

Menschen neigen damit zu Vorurteilen, welche sich manifestieren. Und der Dynamik zu destruktiver Energie verhelfen. Ist das hilfreich, wenn tatsächlich einem friedlichen Miteinander ein hoher Stellenwert in den Werten eingeräumt wird, zu welchen man sich öffentlich gerne bekennt?

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tantejo

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