Vorschrift ist Vorschrift - und wo bleibt die Menschlichkeit?

Alle kennen wir das Problem an der Kassa eines Supermarktes: mühsam verstaut man den Einkauf und wieder einmal hat man sich verschätzt in der Größe der Einkaufstasche. Also doch noch ein Sackerl kaufen und dabei die genervten Blicke der anstehenden Kundinnen und Kunden sowie des Personals an der Kassa riskieren.

Um rechtzeitig erkennen zu können, ob sich alle Waren, die ihren Weg aus den Regalen in das Einkaufswagerl gefunden haben, auch wirklich in der mitgenommenen Einkaufstasche ausgehen werden, haben viele vorausschauende und erfahrene Menschen eine eigene Strategie entwickelt: sie haben es sich zur Angewohnheit gemacht, bereits vor der Kassa die gewünschten Waren in die Tasche zu legen. Kommt ja schließlich auf dasselbe hinaus, ob man die Waren aus der Tasche oder aus dem Einkaufswagen auf das Förderband bei der Kassa legt. Und man ist sich sicher, dass sich danach alles verstauen lässt oder eben doch bereits beim ersten Zahlvorgang ein weiteres Sackerl gekauft werden muss.

Was aber, wenn in der Tasche, welche man in der Gewissheit, dass sich eh nichts mehr drin befindet, freimütig auf Aufforderung dem kontrollierenden Blick des Kassapersonals aussetzt, noch etwas befindet. Ein Stück Butter um Euro 1,99 etwa. Einen Kuchen fürs Urenkerl wollte man damit backen. Und hat - leicht zerstreut und dem Getümmel und Stress, welcher von den hinter einem wartenden Menschen ausgeht, nicht mehr so ganz gewachsen - einfach übersehen, dass die Butter in eine Falte der Tasche gerutscht ist. Übersehen. Auch wenn die Pension knapp ist und 2 Euro für ein Stück Butter ein solzer Preis sind: auf die Idee, etwas zu stehlen, käme man nie.

Eine große Tageszeitung berichtete dieser Tage von einem solchen Vorfall. Eine 85jährige Dame - da gleichzeitig dieser Tage des Umstandes gedacht wird, dass vor 70 Jahren Auschwitz befreit wurde, kann man sich ohne viel Nachrechnen zu müssen leicht ausmalen, was diese Frau in ihrem Leben schon alles mitgemacht haben muss - hat ein Stück Butter übersehen und daher bei der Kassa nicht aufs Förderband gelegt. Und wurde - Vorschrift ist Vorschrift lautet die zitierte Stellungnahme der Presseabteilung der Lebensmittelkette - hochnotpeinlich angezeigt. Womit dann das auch für den Diebstahl einer Brilliantenkette vorgesehene Prozedere bis hin zu Gericht in Gang gesetzt wurde. Beschämend für die Frau, die wohl nie wieder in den Supermarkt gehen wird können trotz ihrer Rüstigkeit auch im hohen Alter, ohne dabei diesen schlimmen Moment wieder und wieder in Gedanken erleben zu müssen: wie sie alle angeschaut haben, wie ihr gedroht wurde ...

Fehlt uns heute echt schon soviel Empathie, dass wir nicht mehr erkennen können, dass es Situationen gibt, welche nicht die Bedeutung haben, die der erste Anschein glauben lassen kann? Haben wir wirklich schon so wenig Mitgefühl mit unseren Mitmenschen, dass wir streng nach einer Checkliste vorgehen und dabei den Blick auf den Menschen scheuen? Ladendienstahl ist kein Kavaliersdelikt. Nein - er ist zu verurteilen. Von uns allen, denn immerhin sind wir alle es auch, welche den dadurch entstehenden Schwund in den Regalen mit einem kalkulatorischen Aufschlag auf die Preise bezahlen. Doch sollte der ehrlich betroffene und erschrockene Blick einer 85jährigen Frau, welche doch nichts anderes wollte, als die benötigten Waren samthaft zu bezahlen um dann rasch in ihre Küche zu kommen, um ihrem Urenkerl den versprochenen Kuchen backen zu können, dabei helfen, sie von einem hartgesottenen Dieb zu unterscheiden, welcher sich tatsächlich bereichern will.

Vielleicht kommen ja auch die Supermarktketten in Österreich zum Schluss, dass dieses Ergebnis unerfreulich ist. Vielleicht werden sie dies zum Anlass nehmen, ihre internen Vorschriften zu überarbeiten: ein Schuss Menschlichkeit hinein, ein Funken Vertrauen in die menschlichen Kompetenzen ihrer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in den Märkten. Dann muss es keine Wiederholung davon geben und zugleich kann die Öffentlichkeit darauf sensibilisiert werden, dass Ladendiebstahl kein Kavaliersdelikt ist. Und zum konkreten Fall wird von den Beteiligten - das Bundesministerium für Justiz soll da ja schon den Beginn gemacht haben - hoffentlich auch noch erkannt, dass da Wiedergutmachung angezeigt wäre: um die Welt einer Frau, die schon viel mitmachen musste in ihrem Leben, wieder in Ordnung zu bringen.

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Silvia Jelincic

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