Wiens ÖVP-Chef ist dieser Tage mit einer bemerkenswerten Einladung an die Öffentlichkeit getreten. Manfred Juraczka hat Juden, die sich in europäischen Hotspots wie Paris und Budapest antisemitischer Anfeindungen gegenüber sehen, das Angebot gemacht, nach Wien auszuwandern. Hat das der oberste Wiener Stadtschwarze, der bisher nicht als politische Lichtgestalt und kreativer Ideengeber aufgefallen ist, tatsächlich ernst gemeint?

Vieleicht wollte Juraczka nur dem israelischen Premierminister nacheifern, der Juden aufgefordert hat, wegen der immer unsicher werdenden Lebensbedingungen in verschiedenen europäischen Großstädten nach Israel auszuwandern. Ob Wien aber da eine richtige Alternative zu Israel ist?

Zu den Fakten: Wien hat mit 12.000 bis 15.000 hier lebenden Juden, vergleichsweise in Europa, nur noch eine kleine jüdische Community. Die weitaus meisten jüdischen Mitbürger innerhalb der EU leben in Frankreich (rund 600.000), in Großbritannien (300.000) und in Deutschland (120.000).

Das subjektive Unsicherheitsgefühl hat aber ohnehin nichts mit den absoluten Zahlen zu tun. Mir ist nicht bekannt, dass sich jüdische Mitbürger in Wien sicherer fühlten als es in Paris, London oder Berlin der Fall ist. Das bestätigen nicht nur mir bekannte Juden der Wiener Community. Diese Einschätzung teilt auch die Israelitische Kultusgemeinde, auch wenn manche Medien dies nicht in dieser Form publizieren (wollen).

Natürlich hängen antisemitische Attacken (auch wenn sie derweil in Wien fast nur in verbaler Form stattfinden) stark vom äußeren Erscheinungsbild der Juden ab, soll heißen: Wenn sich jemand mit Schläfenlocken und entsprechender Kleidung klar als orthodoxer Jude zu erkennen gibt, selbst wenn er gar nur eine Kippa trägt, stehen seine Chancen auf Anfeindungen im Wiener Straßenbild gut. Das ist ein wirkliches Alarmsignal und dem war nicht immer so.

Ich selbst bin in einem von Juden sehr geprägten Stadtteil Wiens aufgewachsen - dem Viertel rund um den Salzgries in der Wiener Innenstadt. Das heutige Bermudadreieck war damals alles andere als ein Vergnügungsviertel. Es beherbergte fast ausschließlich jüdische Textilgeschäfte, bei denen man zu einem guten Preis Jeans erstehen konnte. Heute hat sich die noch verbliebene jüdische Gemeinde in Wien mehr oder weniger ganz in Teile der Leopoldstadt zurückgezogen. Anfeindungen gab es damals - ich spreche von den Sechziger und Siebziger Jahren - nicht,  heute leider schon.

Jüdische Einrichtungen wie Synagogen oder Schulen müssen auch in Wien rund um die Uhr schwer bewacht werden. Das lässt das Gefährdungspotenzial jüdischer Mitbürger erahnen. Das alles klingt wenig von Optimismus geprägt, ist aber Realität, weil Antisemitismus auch in Wien gefährlich zugenommen hat. Wie da der Wiener ÖVP-Chef Juden guten Gewissens zur Einwanderung nach Wien einladen kann, bleibt mir daher ein Rätsel.

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crinan

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