Ich bin am Wiener Stadtrand aufgewachsen. Im Liebhartstal. Gärtnereien, Heurigenwirte, kleine Weinberge und der Friedhof prägten die Gegend. Man hatte sich noch nicht entschieden: Will man Stadt oder doch lieber Land sein. Und hier kommt eine wichtige Figur meiner Kindheit und frühen Jugend ins Spiel: Der Herr Kraus. In den 50ern kam er aus Siebenbürgen – er sagte „Siebenbirgen“ – nach Österreich. Seine Familie musste er zurück lassen. Er lebte mit dem Franz zusammen. Der war ein lustiger Geselle, der meinem Bruder und mir gerne zeigte, wie Hasen Solettis fressen. Dazu mussten wir welche mitbringen, er steckte sich eines in den Mund und mümmelte sich blitzschnell bis zum Ende durch. Die beiden betrieben eine Landwirtschaft zwischen Friedhof und Weingarten. Im Wesentlichen hielten sie in einem kleinen Stall Rindvieh und ein Pferd. Später stellte ein Freund, der Fleischhauer Ernstl, seine zwei Haflinger dazu. Die Liane und den Hansl. Gehalten wurden die Tiere in Anbindehaltung. Damals fand man noch nichts dabei. Im Hof stand allerlei Gerätschaft. Ein riesiger, manuell drehbarer Schleifstein, ein Pferdewagen und Kessel, in denen Obst gelagert, aus dem später Schnaps gebrannt wurde. Dazwischen lief der Geißbock „Mecki“ herum. Das alles sah ich von unserem Wohnzimmerfenster aus. Wir brüllten über die Straße einen guten Morgen Gruß: „Morgen Gaus, Banz“. Seltsam, ich kann mich erinnern, dass uns zunächst die Namen Kraus und Franz wohl zu schwierig waren.

Ich verbrachte oft meine Nachmittage dort. Entweder kraxelte ich über das Eisentor oder ich ging den längeren Weg und nahm die Einfahrt auf der anderen Seite des Grundstücks. Sie befand sich hinter einem schweren Holztor mit viel zu hoch angebrachter Türschnalle. Meist war es aber ohnehin offen. Dahinter verbarg sich ein Gang, wie man ihn in alten Häusern oft findet. Er war dunkel und meine Schritte halten. An seinem Ende konnte man geradeaus in den Hof, an dessen linker Seite der Stall lag, weitergehen oder links zur Wohnung des Herrn Kraus abbiegen. Seine lag links des Ganges und an der Stirnseite befand sich die der Hexe. Ich hatte jedes Mal große Angst wenn ich ihn besuchte. Die Hexe war die ursprüngliche Alleineigentümerin des Grundstückes. Sie hatte einen Teil verkauft und wohl nicht damit gerechnet, dass dort Tiere gehalten werden und ein rechtes Chaos entstehen würde. Ich weiß es nicht genau. Mir wurde jedenfalls gesagt, es handle sich um die Hexe, und da sie einen Klumpfuß hatte, schien mir die Behauptung unzweifelhaft zu sein. Sie war auch immer sehr unfreundlich. Andererseits wusste sie womöglich, dass sie als Hexe bezeichnet wurde. Das könnte ihre harsche Art erklären. Wenn ich es geschafft hatte und der Hex entwischt war, schlüpfte ich bei der Wohnungstür hinein. Die war immer offen. Glocke gab es keine und klopfen wäre mir nicht eingefallen. Ich werde den Geruch dort nie vergessen. Es roch alt, holzig, modrig und organisch. Ich kann mir mit Gerüchen Situationen zurückholen, die vor 40 Jahren aufgeploppt und in der Unendlichkeit verschwunden sind. Diese spezielle Mischung habe ich aber nachher nie wieder gerochen. An seinen Stiefeln klebte immer Kuhdreck. Die Wohnung war komplett zugestellt. Er sammelte alles Mögliche. Besonders schwere, alte Möbel. Man kam durch einen engen Küchenschlauch in sein Wohnzimmer. In der Mitte ein schwerer Holztisch. Eigentlich erahnte ihn der Eingeweihte mehr als dass er in sah. Er war immer vollgestellt. Flaschen, Gläser ein alter Kassettenrecorder und geheimnisvolles Zeug. Rechts davon stand eine Nähmaschine. So eine alte mit Fußbetrieb. Daneben war die Tür zum Schlafzimmer. Ein riesiges, unglaublich hohes Bett stand rechts an der Wand. Links ein schwerer alter Safe. Alle sagten, der sei voll mit Geld. Weil der alte Kraus ein Sammler sei und damit viel verdient hätte. Genau neben dem Safe ragte eine riesige Kirchenorgel auf. Ich wütete gerne auf der Tastatur, stampfte auf die Pedale und zog die verschiedenen Knöpfe hinaus. Ich muss einen Heidenspektakel verursacht haben. Kraus und Franz wars wohl egal. Der Hexe wahrscheinlich nicht. Irgendwann setzte ich mich meist als Zwerg an den Riesentisch. Der Herr Kraus begann von der alten Heimat zu erzählen. Er holte den Kassettenrecorder heran und legte die Kassette ein -es gab nur eine. Darauf waren die Kirchenglocken seines Heimatdorfes zu hören. Ich weiß noch genau, dass er eine bestimmte Haltung einnahm: Er legte beide Hände in den Schoß und neigte den Kopf lauschend zur Seite. Als die Glocken erklangen begann er zu weinen. Das war immer der gleiche Ablauf. Ich war nie ergriffen, ich fand das eher ungewöhnlich. Aber als Kind ist die ganze Welt ungewöhnlich. Es beschäftigte mich nicht weiter. Wenn mir das zu langweilig wurde, ging ich in den Stall. Ich klopfte, wie ich es von ihm gesehen hatte, den Rindern auf den Hintern und brummte: „Ruhig Putzi“. Alle seine Stiere hießen „Putzi“. Ich kann mich an keinen anderen Namen erinnern. Die Stiere und die Kühe „Putzi“ und das große Zugpferd „Luzi“.

Ich war zu der Zeit, eigentlich bin ich es noch, ein großer Bewunderer des Apachenhäutlings Winnetou. Und der konnte reiten. Ich fand das immer sehr edel. Wenn er ins Bild ritt und die „da da daaa“ Musik einsetzte. Kurz, ich wollte auch reiten. Ich kletterte also auf die angebundenen Tiere. Besonders die Stiere hatten das nicht so gerne. Ich wurde ziemlich oft unsanft abgeworfen.

Meine Situation verbesserte sich, als die Haflinger dazu kamen. Der Ernstl brachte sie, damit sie etwas Bewegung bekamen, runter in den Garten des Wirtshauses Ecke Johann Staud Straße, Gallitzinstrasse. Das war damals noch ein echter Vorstadtwirt. Heute ist dort die gspritze Mimikry eines bodenständigen Gasthauses. Zu dieser Zeit aber, saß ich stolz auf dem Hansl und wurde durch die Wirtsstube nach hinten in den Garten geführt. Ich war dort meistens einige Stunden allein mit den beiden Pferden. Der Ernstl lupfte einstweilen den einen oder anderen Humpen an der Budl. Ich hatte keinen Sattel. Lediglich ein Zaumzeug. Vom Reiten hatte ich auch keine Ahnung. Ich saß drauf und versuchte den Hansl zum Laufen zu bringen. Wenn dem das zu blöd wurde, lief er zum Apfelbaum und versuchte mich abzuwerfen. Das gelang ihm oft. Als es Zeit war den Heimritt anzutreten, war der Ernstl oft nicht mehr so richtig bei der Sache. Ich erinnere mich, dass ihm der Hansl entwischte und mit mir auf seinem Rücken die Gallitzinstrasse hinauf gallopierte wie vom wilden Schwein gebissen. Da verlor ich Winnetous Coolheit. Ich hielt mich panisch an der Mähne fest, ließ mich runterrutschen, lief einige Schritte mit und lag auf der Nase. Es waren damals zum Glück noch nicht so viele Autos unterwegs. Der Hansl wartete vor seinem Stall auf uns.

Besonders gerne fuhr ich mit dem Herrn Kraus „Trank“ holen. Wir spannten das Pferd vor den Wagen, stellten große Kessel auf die Ladefläche und verließen den Hof. Luzis Hufe brachten dabei den Schlauch der Einfahrt zum Singen. Wir fuhren zum Pensionistenheim und zur Hauptschule. Was dort vom Mittagessen übrig geblieben war lehrten wir in die Kessel und brachten es Heim. Er hatte meist seine schwarze Persianermütze auf und ich saß neben ihm auf dem Bock und fühlte mich großartig. Manchmal, ganz selten, nahmen andere Kinder meinen Platz ein. Die konnten sich meines eifersüchtigen Hasses sicher sein. Was wussten die schon! Das war mein Platz. Sie waren Eindringlinge.

Irgendwann starb der Franz. Der Herr Kraus war sehr traurig. Obwohl, einsam war er nie. Wenn ich ihn besuchte, saßen oft Menschen an seinem Tisch. Straßenarbeiter, Spaziergänger, alle möglichen Leute. Die Türe war ja für jeden offen. Manchmal auch Menschen aus der alten Heimat. Ganz selten besuchte ihn seine Tochter aus Rumänien. Es war immer so, dass der Großteil der Familie im Land bleiben musste, damit einer den Vater besuchen konnte.

Zu Weihnachten brachte mein Vater den Herrn Kraus mit seinem rumänischen Besuch auf die Mariahilferstraße. Er erzählte, dass die fragten ob man die Dinge in den Auslagen auch wirklich kaufen kann. Sie glaubten das nicht. Die Tochter versuchte seine Unordnung in der kurzen Zeit etwas aufzuräumen. Das hasste er. Sie stritten dann oft und er war letztlich froh, wenn sie wieder abreiste. Manchmal kam der Lastwagen des Schlachters um einen der „Putzis“ abzuholen. Der Herr Kraus konnte sich von seinen Tieren kaum trennen und mästete sie viel zu lange. Die Stiere hatten oft 1.000 kg. Wenn die abgeholt wurden weinte er bitterlich. Einmal flüchtete ein Putzi von der Rampe des Lastwagens und rannte zur Grasfläche der Kathrinenruhe. Es war schwierig ihn wieder einzufangen. Schade, dass er nicht entkam und ein neues Leben im Wienerwald begann.

Irgendwann starb auch sein Zugpferd. Er war schon zu alt um sich ein neues zu kaufen. So musste entweder der Ernstl oder mein Papa einspringen. Sie fuhren mit ihm in einer alten VW-Pritsche den Trank abholen. Zur Belohnung gab es Milch von seinen Kühen. Meine Mutter hasste die. Sie miachtelte, es schwamm dick Fett drauf und manchmal auch etwas, das wie feine Kuhscheisse aussah.

Dann kam das 1983er Jahr. Ich war nicht mehr so oft beim Herrn Kraus. Ich spielte begeistert Fußball im Spitzpark. Die Mädels schauten uns zu und in den Spielpausen versuchte ich meist eine zu überreden mit mir hinter das Stromhüttl am Rande des Käfigs zu kommen. Da mir das manchmal gelang und ich 14, 15 Jahre alt war, waren die Parknachmittage eine starke Konkurrenz für Putzi und Luzi im Stall. Ich danke meinen Hormonen, dass ich am Nachmittag des 18.5.1983 nicht beim Herrn Kraus in die Wohnung geplatzt bin. Er wurde nämlich in der Nacht ermordet. Er lag, mit seinem Ledergürtel erwürgt, unter der alten Nähmaschine. Sein Gewohnheit die Türe für alle offen zu halten und das Gerücht, dass der Kraus reich sei haben ihm wohl das Leben gekostet. Mein Vater wurde rüber gerufen. Er sagte der Kopf des Herrn Kraus war wahnsinnig angeschwollen. Ich glaub das war das erste Mal, dass ich das Leben als schwarz und mörderisch wahrgenommen habe. Unter dem Leben gelitten hatte ich schon oft. Eigentlich ab dem ersten Schultag. Aber dieses Gefühl Ameise auf einem Amboss zu sein und den Schmiedehammer in der Hand des erbarmungslosen Lebens über sich schweben zu sehen, das hatte ich glaube ich damals kennen gelernt.

Der Herr Kraus wurde am Ottakringer Friedhof in der Gruppe 5a beigesetzt. Bei seinem Kumpel Franz. Wie das wirklich war mit den beiden? Ich weiß es nicht. Das war damals für mich nicht wichtig.

Mein Vater verkaufte dann das Grundstück im Auftrag der Tochter. Jetzt steht dort ein schiaches Haus in dem gspritzte Leute wohnen. Für mich ist das falsch. Ich empfinde für sie wie für die Kinder auf dem Kutschbock. Sie sollten dort nicht sein. Es ist das zu Hause von den Herrn Kraus und Franz, den vielen Putzis, Luzi, Hansi und Liane und dem Bock Mecki.

Ich habs ganz vergessen. Der hat immer den Spaziergängern in der Gasse aufgelauert. Er hat den Kopf gesenkt und ist auf die Leute zugerannt. Die alten Weiber sind kreischend über den Regenwasserkanal gesprungen, der damals noch überirdisch durch die Gasse geronnen ist. Das war lustig!

Und der Mörder? Der wurde nie gefunden.

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