Diese Woche ist Chris gestorben.

„Nicht Christian, nicht Christoph, einfach Chris“ sagte er mal in einem Interview. Er hat mit Mitte 40 seinen zwei Jahre dauernden Kampf gegen den Krebs verloren.

Wenn ich in der Lage wäre, einen Nachruf zu schreiben, dann würde ich von seiner Kreativität und seiner Liebe berichten. Von seiner einzigartigen Art, die Dinge zu sehen. Von seiner Fürsorge für seine Kinder, oder seiner Freude an kleinen Dingen. Von den Fotos, die er gemacht hat. Aber das hier ist kein Nachruf, denn ich kannte Chris gar nicht.

Wir sind uns in der stofflichen Welt – im Meatspace, wie viele Onliner heute noch sagen – nie begegnet. Wir kannten uns virtuell. Seit Jahren lasen wir auf twitter von einander. Häufig verging keine ganze Woche ohne Foto oder Update auf sein Leben. Als er seine Diagnose bekam, informierte er mich in einer nicht-öffentlichen Nachricht. Er hatte sich noch nicht entschieden, ob er seine Krankheit publik machen sollte. Später tat er das.

Von diesem Zeitpunkt an ließ er uns teilhaben. Er berichtete von schlechten Tagen, von Schmerzen und Chemotherapie, aber er teilte trotz seiner Krankheit so viele schöne und glückliche Momente mit uns. Mit Menschen, die er aus sozialen Netzwerken kannte, und die versuchten, ihn hin und wieder zu begleiten. In einer schweren Phase seiner Krankheit hatte eine (Online-) Freundin von ihm die Idee, ihm Licht zu schicken. Fotos von Licht und Lichtern, als positive Gedanken und als Begleitung in einer schlimmen Phase. Und ich weiß noch, wie beeindruckt ich war, als plötzlich die ersten Bilder auftauchten. Bilder von Wolken und Regenbogen und Sonnenstrahlen, Kerzen und Straßenlaternen. Sie hatte die Aktion #lichtfuerlinsensicht ins Leben gerufen (@linsensicht war sein Name auf twitter und der Titel seines Blogs). Ohne zu wissen, was letzte Woche damit geschehen würde. Und ohne an sich selbst zu denken – denn genau diese Freundin ging ebenfalls durch sehr, sehr schwere Zeiten.

Im Netz kannst du Dinge freisetzen, die plötzlich ein Eigenleben erhalten. Sie lösen sich und sind manchmal am Ende etwas ganz anderes als das, was ursprünglich angedacht war. Wir wollten Chris Liebe, Licht und Hoffnung schenken, und ihn daran erinnern, auf keinen Fall aufzugeben. Und das tat er nicht, er hat immer weiter gekämpft. Viele von uns hatten keinen Zweifel daran, dass Chris es schaffen würde. Auch wenn die Prognosen nicht gut waren.

Am letzten Sonntag ging es ihm plötzlich schlechter. Am Dienstag tauchte der alte hashtag #lichtfuerlinsensicht wieder auf – zur Erklärung: mit hashtags, einem #-Symbol, werden Meldungen zu einem Betreff zusammengefasst. Ich wunderte mich, schaute nach und war fassungslos. Ich bat darum, mir zu schreiben, dass es nicht wahr ist – dass Chris nicht im Sterben liegt, wie die Nachrichten vermuten ließen. Und es war doch wahr.

Unter #einLichtfuerLinsensicht mehrten sich daraufhin die Lichter in meiner Timeline, erschienen immer mehr Gedanken, Gebete und Wünsche. Aus der hoffnungsvollen Aktion von einst wurde eine Sterbebegleitung. Um kurz vor elf las ich, dass Chris losgelassen hatte. Er hinterlässt eine Frau und drei Kinder.

Während seine Familie von ihm Abschied nehmen musste, kam auf twitter eine für mich nicht zu zählende Menge an Menschen zusammen, die zum Zeitpunkt seines Todes gemeinsam an ihn dachten, die wie ich Rotz und Wasser heulend zuhause vor dem Rechner saßen, und die nicht genau wussten, wohin mit sich. Denn wie trauert man bloß um einen Menschen, den man „nur“ online kannte? Ist Trauer nicht etwas sehr Persönliches, sind Kummer und Tränen nicht der Familie und den engen Freunden vorbehalten? Darf man denn als Onliner trauern? Und wenn ja, wie macht man das?

Ein Freund fand darauf die einzig passende Antwort. Auf meine Frage, wie das ginge, das mit dem „Online-Trauern“, schrieb er: „Wie überall sonst auch. Gemeinsam.“

Seit zwei Tagen tun wir nun das. Wir trauern um einen Menschen, der uns alle mit seinem Licht erfreut hat. Es ist schön zu denken, dass unsere Lichter ihn vielleicht ein Stück begleitet haben. Die Tweets zu #einLichtfuerLinsensicht habe ich zusammengestellt. Vielleicht sind sie für seine Frau und seine Kinder eine Art Kondolenzschreiben. Chris’ Netzwerk trauert um ihn und denkt an seine Familie. So, wie wir eben trauern können. Online.

Aktuell gibt es eine Sammlung für die Familie von Chris, die nun nicht nur Beistand, sondern auch finanzielle Hilfe benötigt. Wer helfen möchte, findet alle Informationen unter einer google-Abfrage zu #einLichtfuerLinsensicht.

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