Mary Poppins (oder: Mary - A Nanny on the Roof)

Wenn man einmal Mary Poppins in sein Herz geschlossen hat, lässt sie einen nicht mehr los. Bei mir begann die Marymania vor 40 Jahren. Und das wird sich nach Besuch des gleichnamigen Musicals in Wien auch nicht mehr ändern.

Die Geschichte ist schnell erzählt, die Emotionen dabei schon ungleich schwieriger beschrieben.

Eine Familie benötigt dringend Kindermädchen und erhält, wofür sie bezahlt. Kinder sind zuerst skeptisch dann happy, am Ende sind es alle anderen auch. Zack, Bumm, Ende. Was wie eine durchschnittliche österreichische Alltagsgeschichte klingt, hat jedoch noch viel mehr zu bieten.

Wir versetzen uns nach London in eine, nach Gabalier’scher Diktion, perfekte Familie. George Banks arbeitet in einer Bank (how „catchy“) und Winifred Banks, sein „Dirndl“, kümmert sich um den Haushalt, die gesellschaftlichen Verpflichtungen, und natürlich die Kinder. Im Original ist Frau Banks eine Suffragette und tritt für Frauenrechte ein. But, why bother with facts, wenn die heutige Zeit sie nicht vertragen.

Natürlich liegt es bei der Bank’schen Familie nahe, „wie in guten Kreisen üblich“, ein Kindermädchen zu engagieren. Nachdem alle bisherigen Versuche kläglich in „Burnouts“ der Betreffenden enden, soll jetzt ernst gemacht werden.

Und hier betritt die dauerlächelnde Teflon-Mary die Bühne. Ausgestattet mit einem Selbstbewusstsein („Ich bin perfekt“), das selbst Society Ladies wie Janine Schiller und It-Girls wie Paris Hilton erblassen lassen würde, prallt so ziemlich alles von ihr ab, was sie nicht berühren darf.

Prince, formerly known als „was auch immer“, hätte seine Freude, als Mary Poppins, ganz in Purple Rain gehüllt, alles zum Einsturz bringt, wofür die „bessere Gesellschaft“ so lange hart gearbeitet hat. Männer dürfen endlich Gefühle zeigen, heterosexuelle Eheleute dürfen sich öffentlich liebhaben, und verhaltensauffällige Kinder dürfen in die Schranken gewiesen werden. Endlich. Ich reiche meiner etwas älteren Sitznachbarin zum ersten Mal ein Taschentuch. Sie wird mich noch einige Male nach weiteren fragen.

Man muss weit in die jüdische Vergangenheit Hol(l)ywoods zurückgehen, sehr weit, um zu verstehen, was in George Banks vorgeht. Mit der Verwandlung von Saulus zu Paulus hat uns die Traumfabrik schon vor rund 2.000 Jahren erfreut und kann es heute immer noch. Ganz nach dem Motto „Nur gefallene Helden sind gute Helden“ muss good George einige Herausforderungen meistern, bevor er den Drachen steigen lassen kann (eine Lebensweisheit, die nur Besucher des Musicals verstehen).

Überhaupt werden noch einige andere Anleihen in Hollywoods Traumwelt deutlich sichtbar. Warum auch nicht.

Der epische „Clash“ zwischen Good Nanny („In the red Corner, weighing 110 pounds“) und Bad Nanny („The Bad and the Ugly“) ist emotional aufwühlend und erinnert an die Expendables I,II,II und wahrscheinlich auch IV. Allerdings irritiert mich, dass der Kampf schon in der ersten Runde entschieden wird. „Rocky“ wäre SO nie ein Mythos geworden. Teflon-Mary kennt eben keine Gnade, und kommt damit durch.

Auch überraschende Cameo-Auftritte bietet das Musical„Mary Poppins“.

So ähnelt der Hund von Witwe Black, der wirkliche Bühnenname der Dame ist mir leider entfallen, verblüffend Chewbacca aus Star Wars. Wirklich, Chewbacca, Leute!! Litte Chewie bezaubert durch die gekonnte Imitation seines großen Vorbilds. Chapeau, little Chewie, Chapeau!

Und jetzt ein Wort zu den finanzierenden Hauptsponsoren des Musicals. Strategische Planung ist in der heutigen Biz-world einfach alles. Deshalb wird im Musical auf kreative Art und Weise die Fusion zweier mächtiger Industrien bekannt gegeben. „Wenn ein Löffelchen voll Zucker die Medizin versüßt“ ist einer der kreativsten factdroppings der letzten Jahrhunderte.

Auch das Portrait der Bankenindustrie, die „den guten Menschen“ all den bösen Spekulanten bevorzugt, emotionalisiert die Realität perfekt. Selbst die vegane Lebensmittelindustrie, stark im Kommen derzeit, kann Credits verbuchen, als Mary Poppins ihren Blumentopf in die Ecke knallt. Zugegeben liebe Drehbuchautoren/Brandmanager, an dieser Vermarktungsstrategie könnte man noch ein wenig arbeiten. Im Vorbeigehen wird auch die Frage beantwortet, warum England nicht den Euro einführen möchte. Die alte Bettlerin vor der Kirche bietet Tierfutter für 2 Pennies an. Offensichtlich hat sich der Preis in den letzten 100 Jahren nicht verändert, wovon wir nur träumen können.

Besonders „lovely“ ist natürlich Bert, der „neue Selbständige“ des 19.Jahrhunderts. In jeder Minute auf der Suche nach Belohnung für seine Kunst, erfindet er sich immer wieder neu. „Situationselastische Flexibiliät“ würde man seine Einstellung am heutigen Arbeitsmarkt nennen. Zwar wirkt unser Musical-Bert eher wie die Testosteron-Version des ausgemergelten Dick Van Dyke der 60er Jahre, aber was soll’s. Unser Bert kann tanzen, singen und verkaufen. Alles was Neue Selbständige heute eben können müssen.

Überhaupt ist tänzerisch einiges los auf der Bühne. Die versammelte Gewerkschaft der Kaminkehrer vermarktet sich gut, und gibt alles, um uns zu zeigen, warum Ruß im Gesicht cool ist („Step in time“). Musikalisch etwas adaptiert, geht die Post auf Londons Rooftops ab. „Fred Astaire meets 50Cent“ würde man heute auf Twitter oder WhatsApp formulieren. Auch Mary Poppins bewegt sich in ihrer Viktorianischen Kleidung erschreckend modern und zerstört langsam meine Erinnerungen an Julie Andrews.

Die Stimmung steuert ihrem Höhepunkt zu, als Mary Poppins einen knappen Meter über mir entschwebt, natürlich durch Stahlseile gesichert. Ich muss mir unter Tränen eingestehen: Alles wird gut. Im Leben.

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Fazit: Drei Stunden ständige Stimulanz der Tränendrüsen verschaffen ein unglaubliches Gefühl, das sich auch durch die Preise im Merchandising-Shop nicht wieder vertreiben lassen. Gelungen, gelungen und nochmals gelungen! Auch die Leute in der U-Bahn scheinen nach anfänglich skeptischen Blicken endlich zu verstehen, warum ich leise „Chim, chiminey chim“ vor mich hinsumme und glücklich lächle.

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fischundfleisch

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lexago

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