Fotomontage Manfred Breitenberger

"Der erste philosophische Gedanke, den ich erinnere, war am Zaun der Kohlenhandlung Herzog entlang gehend, daß Gott unmöglich sein könne, da er so massenhaft Abscheulichkeiten zulasse, z. B. daß der Kutscher H. sein altersschwaches gestürztes Pferd hoch-prügele oder mein Großvater mit nur 56 Jahren gestorben sei, der Präsident Hindenburg schon über 8o Jahre sei. Diese Erkenntnis unterzog ich einem Experiment: wenn Gott dennoch existiere, müsse er mich doch unbedingt strafen, wenn ich z. B. in ein Weihwasserbecken pinkelte oder ihn einen Halunken nennen würde. Beides tat ich, und da meine Handlungen folgenlos blieben, sah ich meine Erkenntnis als erwiesen an. Damals war ich fünf Jahre." Heinar Kipphardt 1978 in "Ruckediguh-Blut ist im Schuh"

Der Schriftsteller Heinar Mauritius Kipphardt, geboren 1922 in Heidersdorf, gestorben 1982 in München, Dr. med., Fachrichtung Psychiatrie, gilt als einer der bedeutendsten Repräsentanten des Dokumentartheaters und war zudem Autor von Gedichten, Prosa und Fernsehspielen. Mit seinem Stück „In der Sache J. Robert Oppenheimer“ erlangte er Weltruhm. Heinar Kipphardts Methode war es geschichtliches Material zu sammeln, zu reflektieren und anschließend zu montieren um damit den historischen Dokumenten eine allgemeine Bedeutung zu geben. Durch das gesamte Werk Heinar Kipphardts ziehen sich die Themen Gehorsam und Widerstand, Mitläufertum und Unabhängigkeit, Pflicht und Gewissen, Schuld, Mitschuld und Verantwortung. Mit seinen Kriegserzählungen und Dokumentarstücken hat sich Kipphardt gegen die Verdrängung des Nationalsozialismus gewandt, wobei die Figuren in den Kriegsstücken, Pfeiffer und Rudat, unübersehbar einige autobiographische Züge aufweisen. In den politischen Auseinandersetzungen seiner Zeit war er sich stets sicher auf welcher Seite er zu stehen hatte, er brachte nicht nur seinen Kopf sondern seine gesamte Existenz ein.

Geboren und aufgewachsen ist Kipphardt in Schlesien. Sein Vater, ein Sozialdemokrat wurde nach der Machübernahme der Nazis mehrmals verhaftet und in verschiedene Konzentrationslager verschleppt. Die Verhaftung des Vaters war die erste Zäsur in Kipphardts Leben. Aus einer angesehenen Zahnarztfamilie wurden über Nacht politisch fragwürdige Existenzen. Mit einem weißen Matrosenanzug wollte er mit der Mutter am Lagertor des Konzentrationslagers Dürrgoy bei Breslau seinen Vater besuchen. Vergeblich, aber er sah den Vater kahlgeschoren, zerschlagen in Sträflingskleidung in einem Zug von Häftlingen. Da war seine Kindheit beendet, er war „später nie in Gefahr, das vergessen zu wollen.“ Nach dem Abitur 1949 wollte Heinar Kipphardt Arzt werden, sein Vater saß in Buchenwald im KZ, er studierte bis 1942 Medizin bis er eingezogen wurde und an die russische Front kam. Seine Kriegserlebnisse verarbeitet er in seinen Stücken „Der Hund des Generals“, „Der Desserteuer“ und „Der Mann des Tages“.

Im Januar 1945 setzte sich Kipphardt von der Truppe ab, desertierte und versteckte sich bis zum Untergang Nazideutschlands in Dahlbruch. Der Nationalsozialismus und die Erfahrungen des Krieges werden Kipphardt Zeit seines Lebens nicht mehr loslassen. Nach Kriegsende zieht Kipphardt mit seiner Familie nach Krefeld und nimmt in Düsseldorf wieder sein Medizinstudium auf. Kipphardt war entsetzt wie in der Bundesrepublik mit der Vergangenheit umgegangen wurde: „Es gab keine Nazis mehr und niemand hat das mindeste gewusst“. Die restaurierenden Tendenzen in Westdeutschland gefielen im nicht, in Ostdeutschland vermutete er, sei ein gründlicheres Umdenken möglich. Obwohl sich der Assistenzarzt keine großen Illusionen machte, siedelte er mit Frau und Kind nach Ostberlin über, wo er Arzt an der Charite, später den weißen Kittel ablegte, Chefdramaturg am Deutschen Theater und 1953 Mitglied der SED wurde.  Für das Schauspiel "Shakespeare dringend gesucht", eine Satire gegen die stalinistische Kulturpolitik, erhält er den Nationalpreis der DDR. Später folgten weitere Auszeichnungen, darunter der Schiller-Gedächtnispreis, der Gerhart-Hauptmann-Preis und der Adolf-Grimme-Preis. Nachdem sich die Kulturpolitik der SED verschärfte und sich seine Arbeitsbedingungen rapide verschlechterten, kündigt Kipphardt 1958 seinen Vertrag am Deutschen Theater und übersiedelt 1960 nach Düsseldorf, von wo er 1961 mit seiner Familie nach München zieht.

1962 war „Der Hund des Generals“ fertiggeschrieben, die Uraufführung fand im April statt. Das Stück handelt von einer Untersuchungskommission, eingesetzt von der Justizministerkonferenz um bislang ungeahndete Verbrechen deutscher Staatsbürger aufzuklären, die im Kriege begangen wurden. Siebzehn Jahre nach Kriegsende soll sich General Rampf für einen Vorgang während des Krieges rechtfertigen. Er wird beschuldigt, 60 Soldaten aus persönlichen Motiven in den Tod getrieben zu haben, weil der Soldat Pfeiffer den Hund des Generals erschossen hatte, der ihn angefallen und seine Hose zerfetzt hatte. Der ehemalige Soldat Pfeiffer beschuldigt den General, er habe mit dem mörderischen Einsatzbefehl, einem sinnlosen Himmelfahrtskommando nur seinen Hund rächen wollen. Doch kann im Laufe der Verhandlung vor der Untersuchungskommission kein kausaler Zusammenhang zwischen diesen beiden Vorfällen schlüssig nachgewiesen werden. Schon aus formaljuristischen Gründen wird General Rampf freigesprochen. Die Verhandlung endet mit den Worten des Oberstaatsanwalts: Das sind utopische Gerechtigkeitswünsche, leider, aber Rechtsnorm ist Rechtsnorm, während der Historiker Schweigeis antwortet: Und Mord Mord.

Der literarische Durchbruch im Westen gelang Heinar Kipphardt mit dem Stück „In der Sache J. Robert Oppenheimer“ im Jahre 1964. Das Stück hat die Verhandlung gegen den amerikanischen Physiker J. Robert Oppenheimer vor einem amerikanischen Untersuchungsausschuss zum Gegenstand. Unter der Leitung von Oppenheimer wurde 1943 im amerikanischen Los Alamos die erste Atombombe hergestellt. Von Anfang an gab es gegen Oppenheimer Sicherheitsvorbehalte, da sein Bruder Mitglied der Kommunistischen Partei war und er selbst mit den Kommunisten sympathisierte. Am 12. April 1954 begann die Verhandlung gegen Oppenheimer in welcher seine Loyalität gegenüber dem amerikanischen Staat in Frage gestellt wurde. Während der McCarthy-Ära wurden, wie in vielen anderen westlichen Staaten, durch intensiven Antikommunismus und Gesinnungsschnüffelei, Andersdenkende stigmatisiert und verfolgt. Die Ermittlungen führten zur Verurteilung Oppenheimers. Heinar Kipphardts Stück hat den prinzipiellen Konflikt dieser Vorgänge zum Thema, das Verhältnis zwischen Moral und Macht, zwischen Gewissensentscheidung und der Loyalität dem Staat gegenüber. Am Fall Oppenheimer zeigt Kipphardt spiegelverkehrt, was er kurz zuvor in seinem Stück „Der Hund des Generals“ demonstriert hatte. Dort war das moralische Anliegen des Soldaten Pfeiffer juristisch nicht verhandelbar und den Fakten nicht mehr rekonstruierbar. Nun wird der umgekehrte Fall beschrieben. In den Diensten einer Ideologie, soll die Staatsmacht erhalten bleiben. In beiden Prozessen bleiben die Wahrheit und die Moral auf der Strecke.

1970 wird Kipphardt Chefdramaturg an den Münchner Kammerspielen. Er ermöglichte die Aufführungen der ersten realistischen und gesellschaftskritischen Stücke von Franz Xaver Kroetz. Zum einem großen Theaterskandal kommt es wegen eines Programmheftes zum Stück "Dra-Dra" von Wolf Biermann. Auf zwei Seiten des Programmheftes sollten 24 Persönlichkeiten der Politik und der Wirtschaft abgebildet werden. Die Abbildungen erschienen nicht, die Seiten blieben leer, die Idee dazu stammte nicht von Heinar Kippardt und er hat sie auch nicht „abgesegnet“, doch der Skandal war perfekt.  Besonders Hans Jochen Vogel, der Oberbürgermeister von München fühlte sich angegriffen. Die Politiker der Stadt übten Zensur und Kipphardt verlor sein Amt. Begleitet wurde der Rauswurf von einer Kolumne des SPD Mitgliedes Günter Grass, der in der SZ den linken Konkurrenten Kipphardt zum „Abschuss“ frei gab. 1971 schrieb Heinar Kipphardt in einem Brief an Peter Hacks: " ... Es war für mich wirklich überraschend, wie nervenschwach die hiesigen Machtidioten sind. Wie schnell sie nach der Pistole langen. Sie scheinen sich nicht so sicher zu fühlen, wie sie tun. Am Ende gibt sogar einige, die wissen, was sie tun. Die Farce war ziemlich folgenreich, und der dämliche Grass sieht sich neben Springer und Strauß allesamt verfolgt von den mächtigen roten Kadern, die Vogel in München gerade noch mit Polizeieinsätzen in Schranken hält. Wenigstens im Bereiche der Kunst hat München den Ehrgeiz, zur Olympiade an die Traditionen von 1936 anzuschließen. …"

Neben vielen weiteren Veröffentlichungen wie beispielsweise „März“, dem Roman über einen schizophrenen Dichter erscheint von Kipphardt „Joel Brand – Die Geschichte eines Geschäfts“. 1944 bieten die Nationalsozialisten der jüdischen Hilfsorganisation in Ungarn an, eine Million Juden überleben zu lassen, wenn ihnen dafür 10.000 Lastwagen geliefert werden. Joel Brand, ungarisch-deutscher-israelischer linkssozialistischer Zionist, wurde im Mai 1944 von Adolf Eichmann nach Istanbul geschickt, um als Makler zwischen dem Deutschen Reich und den Alliierten den Vorschlag von Heinrich Himmler eine Million Juden die Ausreise gegen Lieferung von 10.000 Lastwagen zu unterbreiten. Die Alliierten und auch die Jewish Agency gingen auf das Angebot nicht ein.

Kipphardts Theaterstück „Bruder Eichmann“, das posthum 1983 uraufgeführt wurde, sorgte für großes Aufsehen und viele kontroverse Diskussionen. Adolf Eichmann, der an seinem Schreibtisch den Genozid an den europäischen Juden organisierte, erweist sich in Heinar Kipphardts Bühnenstück als eine Figur von beunruhigender Aktualität. „Das Monster, es scheint, ist der gewöhnliche funktionale Mensch, der jede Maschine ölt und stark im Zunehmen begriffen ist“, lässt Kipphardt den israelischen Polizeihauptmann Chass sagen, der Eichmann im Gefängnis verhört. In einmontierten Analogie-Szenen werden Beispiele der „Eichmann-Haltung“ aus der Gegenwart vorgeführt. Die Hauptquelle für das Stück sind die protokollierten Gespräche mit Eichmann von Avner Less, einem israelischen Geheimdienstmann. Als Avner Less von dem Vorhaben erfährt auf eine deutsche Bühne gebracht zu werden, protestiert er gegen die Darstellung seiner eigenen Person, er bestreitet dass er im Laufe von 275 Stunden Verhör diesem "menschlich" nähergekommen sei, weshalb aus Less im Stück Chass wird.

Unabhängig davon führt Kipphardt vor was er die "Eichmann-Haltung" nannte, das hündisch gute Gewissen eines Mannes der pariert hat. Sein Handwerkerstolz, wenn er seine Sache gut gemacht hat. Sein atemberaubendes Unverständnis für den Gedanken, daß das Machbare, nur weil es machbar ist, nicht deshalb auch gemacht werden darf, die "Allgemeinverbindlichkeit der Mentalität des blinden Gehorsams." Kritiker haben Kipphardt vorgeworfen er verharmlose wie Hannah Arendt den Massenmörder Eichmann und die gewöhnliche, menschliche Seite Eichmanns ist zweifellos eine Provokation. Die Bereitschaft im Rahmen einer gegebenen Ordnung unter Ausschluss moralischer Erwägungen zu funktionieren und dabei andere Menschen, auch gewaltsam auszugrenzen ist in Kipphardts letztem Stück die Definition der „Eichmann-Haltung“. Rolf Hochhuth kritisierte an „Bruder Eichmann“, nicht zu Unrecht, Kipphardt habe in dem Stück zu wenig an die Opfer gedacht.

Noch problematischer sind vor allem die "Analogieszenen", die beispielshalber vom Umgang des Staates mit den Terroristen der RAF, der Atombombe von Hiroschima, von Vietnam und neuen Gen-Technologien handeln. Obwohl Kipphardt nicht die Taten sondern die jeweilige Haltung gegenüberstellte relativierte er in den "Analogieszenen" die Verbrechen des NS-Systems. Die Analogieszenen mit den israelischen Soldaten gegen die Palästinenser sind Beleg für Kipphardts linken Antisemitismus, der in seinem Werk jedoch die Ausnahme bleibt. Schon 1983 wurden diese Szenen von verschiedenen Häusern nicht gespielt, im Gegensatz zum Salzburger Landestheater, dort wurde 1983 Kipphardts "Bruder Eichmann" in beinahe vier Stunden aufgeführt. In einer dieser „Analogieszenen“ wird das Interview von Oriana Fallaci mit Ariel Scharon zum Libanonkrieg und die subjektive Sicht einer Palästinenserin verlesen. Kipphardt war wie neunzig Prozent aller Linken in den 1980erJahren antizionistisch eingestellt. Eine breite Diskussion zum linken Antisemitismus innerhalb der Linken begann erst ab 1990.[1]

Bei aller ausgeführten Kritik an "Bruder Eichmann", die "Eichmann-Haltung", das Mitläufertum, die Gewissenlosigkeit, die Verantwortungslosigkeit und das fehlende Unrechtsbewusstsein in gewissen politischen Zirkeln und diversen Meinungsblasen gehört zum aktuellen Zeitgeist, wie das Amen in die Kirche. Die Denkungsart die den Faschismus ermöglichte ist nicht verschwunden. Beispielsweise die Rechtfertigung und Verteidigung des Islamismus und des Antisemitismus von heutigen "Antirassisten" und anderen reaktionären postkolonialen Gruppierungen, ihr duckmäuserisches Schweigen zu mörderischen antizionistischen Vernichtungsphantasien oder ihre elende Solidarität mit den Mördern von Samuel Paty oder Stéphane Charbonnier sind Erscheinungen die zweifellos aktuell die größte Gefahr für Demokratie und Humanität darstellen.

In den Materialien von „Bruder Eichmann“ ist nachzulesen: „Als Eichmann während der Verhöre durch die politische Polizei in Jerusalem gefragt wurde, ob er besondere Wünsche habe, bat er den vernehmenden Offizier, seine tägliche Zigarettenration von sechs auf zehn Zigaretten erhöhen zu lassen. Auch solle man, wenn dies möglich wäre, ihm zum Frühstück nicht mehr als drei Scheiben Brot geben und das Häufchen geschnittene Zwiebel beiseite lassen. Er sei kein starker Esser, und da er zu Zahnfleischentzündungen neige, würden sich die Zwiebelstückchen leicht in den Taschen seines Zahnfleisches festsetzen. Bis dahin hatte er stets alles Brot und auch die Zwiebeln gegessen. Er hatte als Kind gelernt: Was auf dem Teller ist, wird gegessen.“

Quellen: Heinar Kipphardt – Werkausgabe – 10 Bände – Rowohlt

Update: [1] Die beiden Sätze: "In einer „Analogieszene“ wird das Interview von Oriana Fallaci mit Ariel Scharon zum Libanonkrieg und die subjektive Sicht einer Palästinenserin verlesen. Kipphardt war wie neunzig Prozent aller Linken in den 1980erJahren antizionistisch eingestellt. Eine breite Diskussion zum linken Antisemitismus innerhalb der Linken begann erst ab 1990" wurden dem Text von 2011 am 1.2.2021 hinzugefügt um die Kritk der "Analogieszenen" noch mehr zu verdeutlichen.

Erstmals veröffentlicht in Mission Impossible zum 30. Todestag von Heinar Kipphart

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