Ist vorsätzliche Kinderlosigkeit amoralisch?

"Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde." So lautet der weithin bekannte Kategorische Imperativ eines der einflussreichsten Philosophen der Neuzeit: Immanuel Kant. Der Satz stellt nicht nur im moralphilosophischen Denken Kants das grundlegende Prinzip der Ethik dar, sondern hat eine allgemein anerkannte Gültigkeit. Versuchen wir nun, entlang dieses Prinzips die Titelfrage zu klären: Inwieweit ist die selbst getroffene Entscheidung, keine Kinder in die Welt zu setzen, mit dem Kategorischen Imperativ vereinbar? Und kann man ihn auf diese spezielle Frage überhaupt anwenden?

Im ersten Moment ist alles einfach

Die Antwort scheint zunächst klar: Würde Kinderlosigkeit zu einem "allgemeinen Gesetz" erklärt, käme es innerhalb von absehbarer Zeit zu einem Versorgungsnotstand in jeder Hinsicht. In einer alternden Gesellschaft ohne Nachwuchs würde zunächst die Wirtschaftsleistung sinken und danach die medizinische und vor allem die pflegerische Versorgung zusammenbrechen, weil altersbedingt bald niemand mehr in der Lage wäre, körperliche Arbeiten durchzuführen. Von der Herstellung von Lebensmitteln, von der allgemeinen Produktion, vom Handwerk und vom Bauwesen etc ganz zu schweigen.

Dantes Inferno

Ein allgemeines Handeln eines jeden Menschen nach der Maxime "Freiwillige Kinderlosigkeit" würde also unweigerlich in den Untergang der Gesellschaft münden - und das noch dazu in einem dem Dante`schen Inferno ähnlichen Szenario. Anders gesagt: Bevor eine kinderlose Gesellschaft endgültig ausstirbt, würde noch unermessliches Leid herrschen. Die Maxime "Freiwillig kinderlos" ist daher theoretisch betrachtet nach den Kant`schen Kriterien wider die Moral gerichtet, weil sie nach einer Latenzzeit nur noch Schaden verursachen würde.

Ganz so einfach ist es doch nicht

In der gelebten Realität ist die Sachlage allerdings etwas komplexer als im Gedankenexperiment. Es gibt zum Beispiel freiwillig Kinderlose, die ihr Leben gänzlich altruistischen Handlungen widmen - wie das etwa die in der Krankenpflege tätigen Nonnen tun. Und es gibt viele Leute ohne Kinder, die ihre Energien freiwillig in soziale Tätigkeiten investieren und sehr nützliche Dinge für andere tun. Diese Dienstleistungen könnten sie mit eigenen Kindern aus naheliegenden Gründen (Zeitmangel etc.) nicht durchführen. Durch altruistisches Handeln ist das theoretische Manko hinsichtlich des Kategorischen Imperativs ausgleichbar, weil der Altruismus für die Überlebensfähigkeit einer Gesellschaft ebenso notwendig ist wie der Nachwuchs.

Nur Selbstverwirklichung - geht gar nicht

Andererseits gibt es Leute, die aus Gründen ihres Individualismus und der heute vielgepriesenen "Selbstverwirklichung" ganz klar Nein zu eigenen Kindern sagen - einfach, weil sie sich nicht einschränken lassen und egozentriert leben möchten. Diese Lebensentscheidung samt Begründung erscheint nach den Kant´schen Maßstäben fragwürdig. Für jeden Menschen, der auf der Welt ist, haben sich Eltern oder ein Elternteil "einschränken lassen" müssen und für alle jetzigen Kinder, die eines Tages die Lasten der Gesellschaft zu schultern haben, lassen sich ebenfalls irgendwo gerade Eltern einschränken.

Was ist mit der Fairness?

Egozentrische kinderlose Individualisten müssen sich demzufolge die Frage nach ihrer sozialen Fairness gefallen lassen. Immerhin ist es nicht nur eine persönliche Entscheidung, sondern auch eine soziale Notwendigkeit, dass es Kinder gibt: Aus Kindern werden Erwachsene, die für andere Verantwortung übernehmen, für andere da sind und für andere etwas leisten. Und auch heute völlig selbstständige kinderlose Egozentriker können zu Pflegefällen werden, die von anderen Menschen zu versorgen sind. Glück gehabt, wenn andere Menschen Kinder bekommen haben - damit jemand da ist, der diese Arbeit macht.

Pflicht zum Altruismus?

Leitet sich also aus einer selbst gewählten Kinderlosigkeit die Pflicht zum Altruismus ab? Auf jeden Fall - und sei es nur indirekt, nämlich abgaben- und steuerbezogen in Form von Besserstellungen für Familien mit Kindern. Leute mit Kindern müssen zumindest spürbare Steuervorteile gegenüber Kinderlosen haben. Das ist der altruistische Minimalkonsens, dem Kinderlose ohnehin oft zustimmen.

Niemand soll gezwungen werden

Klar ist: Vorsätzlich Kinderlose kann und soll man weder zwingen, ihre Meinung bzw. ihren Vorsatz zu ändern noch soll man sie verpflichten, altruistische Handlungen oder eine Familiengründung zu ihrem Anliegen zu machen. Das wäre lächerlich. Die eigenverantwortliche Entscheidung zur Familie muss individuell getroffen werden und nicht per "moralbasierter" Verordnung. Ebenso sollte der angesprochene Altruismus echt sein und nicht im Gesetzbuch definiert werden.

Zwang hat hier nichts verloren, weil er die Mündigkeit und die Selbstverantwortung limitiert. Aber man muss in unserer zeitgeistig verblendeten Gesellschaft, die auf familiäre Strukturen immer weniger Wert legt und in der die Geburtenrate aus mehreren Gründen bei weitem zu gering ist, die inhärente gesellschaftliche Notwendigkeit des Kinderkriegens immer wieder zur Sprache bringen.

Der Zeitgeist weht in diesen Fragen sehr kräftig und er verbläst gerade viel Kluges, das einen langen kulturellen Bestand hatte. Das "Recht auf ein selbstgestaltetes Leben" wird durch diesen Zeitgeist oft in ein Recht auf absolute Egomanie umgemünzt.

Kant muss mitreden

Man darf daher auch und gerade in der Frage der freiwilligen Kinderlosigkeit mit dem Kant´schen Imperativ operieren, ja man muss das geradezu tun. Aber Obacht: Es geht dabei nicht um das Fällen von Moral-Urteilen oder um moralinsaures Bewerten von Lebensentscheidungen, sondern um das Spannen einer Richtschnur für das individuelle Handeln, aus dem ja durch die regelhaft stattfindenden Trendsetzungen immer ein gesellschaftliches wird.

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