ATV bzw. 55-plus-magazin.net http://www.55plus-magazin.net/php/carnuntum_niederoesterreich_gladiatorenkaempfe,17047,10715.html

Eines vorweg; ich äußere mich im Internet nur ungern über Politik und wollte dies auch vor der jetzigen Stichwahl nicht tun, doch manches gehört meiner Meinung nach einfach angesprochen. Mit diesem Beitrag möchte ich weder über die beiden Kandidaten, noch über irgendwelche politischen Standpunkte diskutieren. Stattdessen stehen dieses Mal die Wähler und der Wahlkampf an sich im Mittelpunkt – und damit auch besonders diese, welche das auf Facebook so fanatisch zur Schau stellen.

Facebook ist mittlerweile schon eine Parallelwelt zur Realität. Aufmerksamkeit & Anerkennung sind zwei der bedeutendsten Stützen dieses virtuellen Lebens im realen Leben. Heutzutage verwundert es niemanden, dass wir Fotos von unserem Mittagessen oder Posts über eigene Langeweile mit unseren Freunden (in der Realität oft nur flüchtige Bekannte, aber das ist ein anderes Thema) teilen. Deswegen überrascht es auch nicht, dass die Bundespräsidentenwahl 2016 zu einer Art Challenge wurde, bei der jeder wo & wann es nur ging seine Meinung zum Wahlkampf kundgab.

Da fotografiert man stolz den angekreuzten Stimmzettel oder liked das 100.000.Video von Van der Bellen oder den 500.000 Post von Hofer (danke liebe Facebook-Freunde, dass ihr immer deren Beiträge kräftig unterstützt, so dass ich beide mittlerweile in- und auswendig kenne, obwohl ich deren Seiten nicht einmal geliked habe). Zwischendurch diskutiert man noch über Aussagen, Handbewegungen oder Krawattenfarben des letzten Wahlduells und zeigt der Welt, wie sehr man sich doch mit der heimischen Politik auskennt und als einziger unter den ca. 6 Millionen Wahlberechtigten voll und ganz im Recht ist.

Interessant ist hierbei, dass der Großteil der selbsterwählten Politikexperten oft eine Kenntnis der Materie gegen Null haben (was im Internet natürlich niemand weiß). Um sich selbst als Experte zu fühlen reicht es offensichtlich vielen, wenn man dreimal pro Woche die ersten zwei Seiten einer Gratis-Tageszeitung liest, um bereits einen Dr.Filzmaier alt aussehen lassen zu können. Da ist dann plötzlich die Rede vom komplexen Konstrukt der Politik, das man selbstverständlich nur selber versteht, während man sich in selbigem Beitrag schon mit den einfachsten Beistrichregeln überfordert zeigt. Andere wiederum teilen die Wählergruppen in „linke Landesverräter“ und „Nazibauern“(der Kreativität sind hierbei anscheinend keine Grenzen gesetzt).

Die Glaubwürdigkeit von solch hochwissenschaftlichen Beiträgen soll jeder für sich selbst entscheiden.

Andere wiederum argumentieren etwas unkonventioneller. Bereits nach einem Wahlgang werden Reisepässe verschenkt, die Republik zu Tode getragen, der Kommunismus ausgerufen oder eine neue Achse des Bösen erkannt. Da wird im Rahmen der Wahl von einigen das Amt des Bundespräsidenten vom verzichtbaren Steuergeldpensionisten plötzlich zu dem eines gottähnlichen Allwissenden aufgewertet und jeder minimale Satzteil eines potenziellen Bewerbers als Orakel für die Zukunft gedeutet.

Kleine Erinnerung – Bundespräsidentenwahl: Nicht mehr & nicht weniger.

Vielleicht ist auch einfach das System des Wahlkampfs für so eine extreme Entwicklung Schuld. Lange war die Rede von Politikverdrossenheit – jetzt laufen die sozialen Netzwerke in Sachen Politikbeiträge über. Jeder ist plötzlich vollends überzeugt und setzt sich für seine Ansicht und seinen Kandidaten ein, koste es, was es wolle. Beiträge von unbekannten Quellen und parteiorientierten Zeitungen werden als unumstrittene Wahrheiten geteilt, völlig aus dem Zusammenhang gerissene Sätze aus dem letzten Jahrtausend als Indizien für Lügen gewertet und notfalls schreckt man auch nicht vor Beschimpfungen und Rufschädigungen andersdenkender zurück. Genau so funktioniert der Wahlkampf im Kleinen auf Facebook. Wer sich davon entscheidend beeinflussen lässt, ist selbst schuld.

Das Wahlkampfduell auf ATV zu Wochenbeginn (übrigens wohl einer der besten Marketingtrümpfe in der Geschichte des österreichischen Privatfernsehens) hat diese polarisierende und inhaltlich leere Form des Wahlkampfes bestens verdeutlicht: Neutrale Diskussionen wichen hier Anfeindungen aufgrund von späteren politisch nahezu irrelevanten Tatsachen (von selbsternannten Unterstützern bis hin zu angeblichen Aussagen beider Parteien). Das Ergebnis war ein rhetorischer Gladiatorenkampf auf unterstem Niveau (inklusive beleidigter Visagen und „Ich bin jetzt dran!“-Rufen). Inhaltlich entbehrlich, und dennoch mit einem Unterhaltungswert, der aber gerade bei Prestigeauftritten um das höchste Amt im Staat hätte ausbleiben können.

Gratulation also an die Polit-Showmacher von ATV & Puls 4 (Stichwort: Eignungstest für Kandidaten), eventuell könnte man 2022 noch einen Show-Boxkampf oder ein Rap-Battle anstatt des Liveduells anstreben.

Um die Aussage dieses Beitrags ironiebefreit zusammenzufassen: Das Internet hat den Wahlkampf verändert und lockt viele neuerdings Politikinteressierte mit der Möglichkeit unpersönlich und unsachlich argumentieren zu können. Für beide Seiten gilt: Bitte spart euch eure Kassandrarufe und lasst das Wahlvolk möglichst unpopulistisch und objektiv selbst entscheiden (sofern dies bei einem der diesjährigen Kandidaten überhaupt möglich ist/war).

Den Kandidaten wünsche ich alles Gute, beide mussten erkennen, dass der Unterhaltungswert mittlerweile mindestens genauso wichtig ist, wie die eigene Glaubwürdigkeit.

Brot und Spiele für das Volk hieß es damals im alten Rom – und heißt es offensichtlich heute noch. Der feine Unterschied: die Politiker sind von den elitären Tribünen aufs Schlachtfeld der Arena Wahlkampf gewechselt.

Schönen Wahlsonntag,

MarrowW

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