Ach, die Werte - Warum die christlichen/europäischen/westlichen Wertvorstellungen entweder für alle Menschen gelten oder gar nicht

Es ist jetzt schon fast 20 Jahre her, dass der Doyen der deutschen Erziehungswissenschaften Hartmut von Hentig den Band „Ach, die Werte. Über die Erziehung für das 21. Jahrhundert“ herausgebracht hat. In seinen Überlegungen verwies er bereits 1999 – und damit lange vor der aktuellen Migrations- und Flüchtlingsdebatte – auf eine zunehmende Radikalisierung rechter Ideologien, gegen die es gälte, die richtigen und damit die europäisch-humanistischen Werte in Stellung zu bringen. Insbesondere der Schule, so meinte er, komme die vornehmste Aufgabe zu, in einer Zeit wachsender Verunsicherung eine „Werteerziehung“ an den jungen Menschen vorzunehmen, die gewährleisten soll, dass „alles im Wesentlichen so bleibt, wie es ist.“

Es sollte anders kommen: Schon wenige Jahre später hat von Hentig sein eigenes Plädoyer zugunsten einer wertebasierten Erziehung persönlich desavouiert. Seine Weigerung, sich deutlich von den Missbrauchsvorwürfen gegenüber seinem Lebenspartner, dem langjährigen Leiter der Odenwaldschule Gerold Becker zu distanzieren, stellte alles, was von Hentig gedacht hatte, in Frage. Ungewollt wurde er damit zu einer Repräsentationsfigur eines doppelzüngigen Wertediskurses, im Rahmen dessen eine hehre Theoriebildung einer mehr als unheiligen Praxis gegenüber steht.

Vieles spricht dafür, dass von Hentig in dieser Dichotomie von Anspruch und Wirklichkeit nicht alleine ist, sondern sich diese vielmehr über Jahrhunderte in der Vermittlung eines wahlweise als christlich, europäisch oder westlich apostrophierten Wertekanons als konstitutiv erwiesen hat, dessen Umsetzung eine verhängnisvolle Spur des Leids und der Benachteiligung all derer, die davon zum Teil mit äußerster Gewaltanwendung überzeugt werden sollten, hinter sich her gezogen hat. (Die Folterpraktiken im irakischen Gefängnis Abu-Ghuraib durch US-Marines sind dafür zum Symbol geworden.)

Wenn von Hentig noch von in der Zukunft dräuenden politischen Entwicklungen gesprochen hat, so erleben wir in diesen Tagen eine nachhaltige Schwächung der liberalen Demokratie und damit eines Grundbausteins eines vor allem von liberalen Kräften beschworenen westlichen Wertehaushaltes, der unter dem Druck bislang unaufhaltsam wachsender autoritärer Kräfte in immer mehr Ländern zusammen zu brechen droht.

Über die wachsende Unglaubwürdigkeit der westlichen Welt

In dem Zusammenhang fragte der deutsche Historiker Heinrich August Winkler, u.a. Autor einer umfassenden „Geschichte des Westens“ bereits in seiner Abschiedsvorlesung 2007, ob es so etwas wie eine „westliche Wertegemeinschaft“ überhaupt (noch) gibt und wenn ja, worin sie besteht. Darin kommt er zum Schluss, dass der Westen nachhaltig an Glaubwürdigkeit eingebüßt hätte, wenn er immer wieder eklatant gegen die von ihm selbst dekretierten Werte verstoßen hätte, die dessen RepräsentantInnen für sich als konstitutiv beanspruchen würden: „Die Duldung von Sklavenhandel und Sklaverei durch die Gründerväter der Vereinigten Staaten ist dafür ein besonders krasses Beispiel. Aber auch vom Rassismus, Kolonialismus und Imperialismus und ihren Folgen darf der Westen nicht schweigen, wenn er glaubwürdig seine Werte vertreten will“.

In seinen Überlegungen spricht er dem „geographischen Europa, das vom Atlantik bis zum Ural reicht“ schlicht einen entscheidenden Einfluss am Zustandekommen eines westlichen Werteverständnisses ab. Von vorrangiger Bedeutung ist ihm statt dessen die amerikanische Unabhängigkeitserklärung von 1776, die erstmals mit universellem Anspruch dekretiert habe, dass „alle (und zwar wirklich alle, ungeachtet ihres Geschlechtes, Hautfarbe oder ihrer Herkunft) Menschen gleich geschaffen sind, dass sie von ihrem Schöpfer mit gewissen unveräußerlichen Rechten ausgestattet sind und dass dazu Leben, Freiheit und das Streben nach Glück (life, liberty and the pursuit of happiness) gehören“.

Europa war immer wieder auf Hilfe von außen angewiesen, wenn es darum ging, seine Werte aufrecht zu erhalten

Statt Europa als den Ort zu verklären, wo fundamentale Grundwerte wie Menschenrechte, Demokratie oder Rechtsstaatlichkeit schon immer ihre natürliche Heimat gehabt hätten, könnten wir uns darin erinnern, dass dieser Kontinent wie kein anderer in regelmäßigen Abständen dadurch gekennzeichnet war, diese Werte mit äußerster Brutalität zu desavouieren bzw. in ihr Gegenteil zu verkehren. Immerhin bedurfte es im vergangenen Jahrhundert mehrmals gewaltiger Anstrengungen von außen, um die Errungenschaften liberaler Demokratien wie Freiheit, Rechtsstaatlichkeit oder Gewaltentrennung zum Teil gegen massiven Widerstand in den europäischen Gesellschaften zu verankern.

Dessen eingedenk könnten wir besser verstehen, dass sich diese Werte schon vom Prinzip her nicht eindeutig geografisch verorten, sondern sich ausschließlich als universelle Prinzipien verhandeln lassen, die entweder alle Menschen oder niemanden betreffen. Dies erscheint heute umso notwendiger, wenn „der Westen“ als universelle Fortschrittsmaschine längst aufgehört hat, die Welt zu dominieren. Folgt man Winkler, dann vertritt er mittlerweile eine Lebensform und eine politische Kultur unter vielen, die mittlerweile nur mehr eine Minderheit der Weltbevölkerung betreffen würde. Was aber ist dann mit all den vielen anderen?

Gibt es so etwas wie eine westliche Wertegemeinschaft überhaupt noch?

Noch einen Schritt weiter geht der britische Philosoph Kwame Anthony Appiah, der in einem groß angelegten Essay für die britische Tageszeitung The Guardian die an Margret Thatchers Äußerung „There is no such thing as society“ angelehnte Behauptung aufstellt, „There is no such thing as western civilisation“. Darin radikalisiert er Mahatma Gandhi, der, als er gefragt wurde, was er von der westlichen Zivilisation halten würde, „I think it would be a very good idea“ geantwortet hatte. Aufgrund seiner historischen Herleitungen kommt Appiah zum Schluss: „I think you should give up the very idea of Western civilisation. It is at best the source of a great deal of confusion, at worst an obstacle to facing some of the great political challenges of our time.“

In seiner Analyse destruiert Appiah das Bild eines westlichen Werteverständnisses in Form eines „golden nugget“, das es gälte, innerhalb bestimmter geographischer Grenzen gegen den Rest der Welt zu verteidigen: „Living in the west, however you define it, being western, provides no guarentee that you will care about western civilisation. The values European humanists like to espouse belong just as easily to an African or an Asian who takes them up with enthusiasm as to a European. By that very logic, of course, they do not belong to a European who has not taken the trouble to understand and absorb that.”

Könnte es sein, dass der Kampf um die Werte heute ganz woanders ausgetragen wird?

In der Tat bestätigen viele unserer Kontakte – wie zuletzt im Rahmen des Mediterranean Forums der Anna Lindh Foundation – mit welchem Engagement sich vor allem junge Menschen außerhalb Europas gegen alle Widerstände für die Werte der liberalen Demokratie einsetzen und mit ihrem ungebrochenen Optimismus beispielgebend sein können für all diejenigen, die hierorts zur Zeit versuchen, sich im Herzen des alten Kontinents in der Ausmalung apokalyptischer Visionen zu übertreffen.

Eine weitere Facette zum aktuellen Wertediskur fügt der indische Autor und Literaturkritiker Pankaj Mishra hinzu, der 2012 seine Studie „From the Ruins of Empire: The Revolt Against the West and the Remaking of Asia“ vorgelegt hat. Darin analysiert er die verhängnisvolle Fehlentwicklung, dass die, auch vor Gewalt nicht zurückschreckende Ausbreitung westlicher Werte in Asien nicht als eine Erfolgsgeschichte, vielmehr als eine Katastrophe erlebt wurde: „Als die Briten die letzten Erben zum Mughal-Reich niedergeschossen, den Sommerpalast in Peking niedergebrannt oder die Herrscher des Osmanischen Reiches gedemütigt hatten, war klar, dass sich Asien auf die Suche nach einer Alternative machen musste.“ Das Ergebnis könne heute in Gestalt der Kommunistischen Partei Chinas bis zur Al Qaida, vom indischen Nationalismus bis zur Muslimbruderschaft beobachtet werden.

Die Konsequenzen dieser Form des westlichen Wertekolonialismus zeigen sich nach Mishra in der Geburt einer neuen Generation, sei es von zornigen Männern in den ermatteten westlichen Demokratien, sei es in Gestalt „rachsüchtiger islamischer, hinduistischer, buddhistischer oder jüdischer Chauvinisten“ im großen Rest der Welt, die – wo immer sie sich aufhalten – angehalten sind, sich angesichts der Notlage schwächerer Menschen ohne jede Träne des Mitleids den zentralen Werten ihres „Stammes“ zu unterwerfen. Zu beobachten seien allerorts die ebenso unerwünschten wie unerwarteten Nebeneffekte einer säkularen Moderne, in der sich die Wertvorstellungen von Gleichberechtigung, Moral, Würde, Freiheit und Mitgefühl in die Wertschätzung von Reichtum, Eitelkeit und Prahlerei pervertiert hätten, die heute das äußere Erscheinungsbild insbesondere der Gesellschaften dominieren würde, die einst aufgebrochen sind, ihre Werte in die Welt zu tragen.

Diese Pervertierungen zu Ende gedacht ist es nur logisch, wenn arabisch-stämmige Journalisten wie Faisal Bodi den Kanon westlicher Werte, insbesondere die darin festgeschriebene Trennung von Religion und Politik noch einmal prinzipiell in Frage stellen und zum Schluss kommen, „the West, not Islam, ist the real enemy of democracy“.

Diesem Befund steht freilich eine Logik kapitalistischer Globalisierung gegenüber, wonach alle Menschen, wo und wie immer sie auf der Welt leben um den Umstand nicht herum kommen, dass sie „zur Modernität verdammt“ (Octavio Paz) sind: Christen, Muslime, Hindus und Buddhisten durchleben gleichermaßen ihren eigenen Wandel von einer sakralen Welt sinnstiftender Symbole und Zeichen hin zu einer Welt der Ernüchterung. Die aktuellen politischen Entwicklungen zeigen freilich, dass wir uns diesbezüglich keinen zu großen Hoffnungen hingeben sollten, wenn die jeweilige Verfasstheit der nationalen Gesellschaften bestenfalls von zweitrangiger Bedeutung für den weiteren Säkularisierungsprozess ist (sie funktioniert ganz offensichtlich in liberalen Demokratien ebenso wie in Diktaturen). Schwerer für den Wertehaushalt wiegt möglicher Weise, dass viele der betroffenen Neuankömmlinge in Europa diese Entwicklung nicht als gleichberechtigte BürgerInnen, sondern vorrangig als stigmatisierte Minderheit durchleben, „die in besonderer Weise den Zwängen und den Vorurteilen einer Staatlichkeit ausgesetzt erscheinen, mit der sie eine lange und dunkle Geschichte des Imperialismus und des Rassismus verbindet; [dies] lässt das ganze Ausmaß der Pervertierung des aktuellen Wertediskurses durchschimmern“ (Mishra).

Wir brauchen neue Allianzen, über die alten Grenzen hinweg

Es bedarf keiner großen politischen Hellsichtigkeit, um das ganze Ausmaß der nicht nur ökonomischen, sondern kulturellen Krise Europas und damit des Westens wahrzunehmen. Dies bringt eine fundamentale Infragestellung eines in der Nachkriegszeit wieder errichteten Werteverständnisses, das im Wesentlichen auf dem Prinzip liberaler Demokratien beruhte, mit sich. Spätestens mit dem Wiederaufkommen autoritärer Kräfte, die kein Problem mit der Infragestellung menschenrechtlicher Prinzipien (z.B. im Bereich des Asylrechts) haben, verspielt der Westen einmal mehr seine wertebasierte Glaubwürdigkeit. Noch ist Europa gegen alle Abgesänge ein wichtiger globaler Faktor: Allein aufgrund seiner Wirtschaftskraft und seiner schieren Bevölkerungsanzahl könnte es eine bedeutende Rolle in der Welt spielen. Stattdessen aber zeigen sich die Bruchlinien im Rahmen eines neu aufgeflammten Kulturkampfes. Im Kampf um die Aufrechterhaltung liberaler Verfasstheiten laufen die neuen Grenzziehungen nicht mehr zwischen Europa/dem Westen und dem Rest der Welt. Sie verlaufen ebenso innerhalb der europäischen/westlichen Gesellschaften wie außerhalb. Dies aber führt mich zur Vermutung, dass wir nicht mehr auf einer Insel der Seligen leben, sondern angehalten sind, mit unseren liberalen Ansprüchen Verbündete nicht nur in den eigenen Reihen, sondern in anderen Teilen der Welt zu finden, neue Allianzen zu schmieden, nicht um westliche, sondern um universelle Werte leben zu können. Immerhin könnte es sein, dass Europa in der aktuellen Phase der Unterstützung von außen mehr bedarf, als wir noch zu denken wagen, wenn es darum geht, auch in Zukunft eine glaubwürdige Umsetzung universell geltender Werte zu gewährleisten.

Noch ticken zumindest in Österreich die Uhren anders: Das Innenministerium vermittelt ZuwanderInnen (warum eigentlich nur denen?) in einem Guide Grundregeln und Grundwerte des Zusammenlebens in der Hoffnung, damit Integration zu gewährleisten.

In einer Fußnote in von Hentigs Buch bin ich auf eine Liste von Werten bzw. Wertkomplexen aus vorrangig pädagogischer Sicht gestoßen, das über die Grenzen eines vermeintlich westlichen Werteverständnis eine universelle Perspektive eröffnet:

Leben; Freiheit/Selbstentfaltung/Selbstbestimmung/Autonomie; Frieden/Freundlichkeit/Gewaltlosigkeit; Seelenruhe – zum Beispiel aufgrund der erfüllten Pflicht oder aus Übereinstimmung mit dem eigenen Gewissen/also auch Schuldlosigkeit; Gerechtigkeit; Solidarität/Brüderlichkeit/Gemeinsamkeit (=Nichteinsamkeit) (Gemeinwohl ist die dies alles zusammenfassende Idee); Wahrheit; Bildung/Wissen/Einsicht/Weisheit; lieben können/geliebt werden; körperliches Wohl/Gesundheit/Freiheit von Schmerz/Kraft; Ehre/Achtung des Menschen; Schönheit.

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