Der Schein des „Ich“ und das Sein des „Miteinander“

Ein Versuch, Authentizität neu zu verhandeln

Augenscheinlich bis ins Letzte gecoacht betrat letzte Woche die SPÖ-Vorsitzende das ORF-Studio, um sich zum Ausgang der Mitglieder-Befragung befragen zu lassen. Und die Zuschauer*innen wurden Zeug*innen, wie da eine Person hinter ihrem äußeren Erscheinungsbild verschwand: Ein vorgestanzter Satz folgte auf den anderen. Keiner hatte etwas mit der Befindlichkeit der Sprecherin zu tun. Man konnte sie förmlich sehen die professionellen Einflüsterer*innen, dicht an Rendi-Wagners Ohr gepresst, wie sie der Sprecherin jegliche Chance nehmen, ihre eigene Stimme zu erheben.

Als Anwältin der Zuschauer*innen fungierte die Interviewerin bestenfalls als Stichwortgeberin zur Befestigung einer auf permanentes Lächeln getrimmte Fassade: Welche Widersprüche sich gerade in der Sprecherin auftaten, davon sollte niemand etwas erfahren. Ihre Aufgabe sollte sich darauf beschränken, sich selbst als eigensinnige Persönlichkeit zum Verschwinden zu bringen und stattdessen fremdbestimmten Rollenerwartungen zu entsprechen. Diese Leistung hätte auch von einer Sprechpuppe erbracht werden können.

Mit den Ansprüchen einer diskursiven Öffentlichkeit hat eine solche Haltung nichts zu tun. Und wohl auch nichts mit den gängigen Vorstellungen von Authentizität.

Zu groß war da offenbar die Angst, dem Fernsehpublikum die eigene Befindlichkeit zuzumuten, mehr noch, diese ins Verhältnis zu setzen zu den Sorgen, Ängsten, Erwartungen, Hoffnungen, vor allem aber Wertvorstellungen derer, mit denen die politische Repräsentantin ja angeblich ins Gespräch kommen wollte. Das aber wäre die Voraussetzung für eine gelungene Kommunikation gewesen, die sich nicht auf die Übermittlung von Worthülsen beschränkt sondern die eigene Persönlichkeit zur Disposition stellt.

Auf der Suche nach einer praktikablen Definition von „Authentizität“ fand ich das Bemühen des Menschen, Schein und Sein seiner/ihrer Persönlichkeit in ein kritisches Verhältnis zu setzen. Demnach wäre eine Person dann authentisch, wenn es ihr/ihm gelingt, die zwei wesentlichen Aspekte der Wahrnehmung: den des unmittelbaren Scheins und den des eigentlichen Seins, in Übereinstimmung zu bringen. Rendi-Wagner hat sich mit der Vermittlung eines ihr übergestülpten Scheins begnügt; ihr Sein konnte oder wollte sie nicht preisgeben. Für einen solchen Spagat aber zahlt sie einen hohen Preis: den der Unglaubwürdigkeit, mehr noch des Desinteresses an ihr als an einer Person, von der man annehmen muss, dass sie über sich nichts zu sagen vermag.

Der Begriff „Authentizität“ steht historisch in engem Zusammenhang mit „Auctoritas“ und damit dem Anspruch, ein eigenes, selbstbestimmtes Leben zu führen. Als authentisch wurden jene Menschen angesehen, die über die Autorschaft über ihr Leben verfügen; die nicht andere über sich bestimmen und sich selbst durch widrige Umstände ihren „Eigensinn“ nicht verkümmern lassen.

Möglicherweise war es noch nie so schwer wie heute, die Sehnsucht nach „Authentizität“ zu befriedigen. Die Gründe liegen auf der Hand: Allerorten bröckeln die verbindlichen weltanschaulichen Haltegriffe: Je mehr Kirchen, Parteien und andere soziale Institutionen an Bedeutung verlieren, desto größer die Not, in einem Meer der Unsicherheit auch gleich die Autorschaft für das eigene Leben zu verlieren. Und wir alle erfahren die Wirkungen des emanzipatorischen Potentials eines postmodernen „Anything goes“ (Paul Feyerabend). Fast schon verzweifelt machen sich Menschen auf die Suche nach Sicherheitsversprechen, auf denen sie noch einmal halbwegs sicher ihr Leben begründen können. Eine Hochzeit für Populist*innen als die neuen politischen Glücksritter; wenn deren Sicherheitsangebote nicht reichen, dann bleibt nur mehr der Weg ins eigene Innere. Der Boom, den ein neues Sektierertum gerade erlebt, weiß davon ein Lied zu singen.

Befördert wird die neue Suche nach „Authentizität“ auch durch eine bislang ungeahnte formelle und informelle Fremdbestimmung der Arbeits- und Lebensverhältnisse. Hinter einer Fassade eines alles vorstrukturierenden Designwillens verloren sich die letzten Spuren von Ursprünglichkeit (die bestenfalls in Gestalt eines (noch nicht) beherrschbaren Virus zurückschlägt) und schlossen die letzten eigenen Gestaltungsspielräume. Und so beschleicht uns das Gefühl, dass, was immer wir tun, wir damit immer schon von außen zugemuteten Verhaltensregeln folgen, ohne dass wir die dahinter liegenden Gründe noch nachvollziehen können: Wie immer wir uns verhalten, wir bedienen damit ein bereits vorgestaltetes Klischee. Mit diesem Verdacht stehen wir vor dem Paradox, dass just in einer Hochphase eines neoliberalen Regimes der Deregulierung der deutsche Soziologe Andreas von Reckwitz in seiner Studie zu den „Singularitäten“ vom verzweifelten Wunsch vieler Menschen berichtet, sich in einer gleichermaßen desorientierten wie verregelten Welt noch einmal als etwas Eigenes und zugleich Besonderes zu stilisieren.

Kein Wunder also, wenn der Anspruch auf Authentizität in diesen Tagen noch einmal eine besondere Konjunktur erlebt. Dass selbst so kluge Menschen wie Pamela Rendi-Wagner meinen, sich dieser Erwartung um fast jeden Preis verweigern zu müssen, erzählt zuallererst etwas über die Ängste, die damit verbunden sind. Offenbar erscheint es in einer hochkomplexen, vernetzten Welt jedenfalls für Politikberater*innen und ihrer Klientel weitgehend undenkbar, das Leben in die eigenen Hände zu nehmen.

Es sind die “Anderen“, die mich zum „Ich“ machen

Dazu eine prinzipielle Anmerkung: Bei der Suche nach unserem eigenen, unverstellten „Ich“ kommen wir bald zur fürs Erste frustrierenden Einsicht, dass dieses für sich nicht existiert. Je genauer wir hinschauen, desto deutlicher wird, dass dieses „Ich“ nur als ein Austauschverhältnis zwischen mir und der Welt existiert. Ein „Ich“, losgelöst vom großen Rest der Welt, lässt sich zwar denken, leben lässt es sich nicht. Also müssen wir lernen, mit dem Paradox umzugehen, dass „Ich“ mich nur finden kann im Bezug zum „Anderen“. Damit aber konstituiert sich jegliche individuelle Persönlichkeit als eine Mischung aus eigenen Anlagen und äußeren Einflüssen (über das Mischungsverhältnis lässt sich in den Wissenschaften bis heute trefflich streiten).

Jedenfalls kommen wir um den Umstand nicht herum, dass das „Ich“ als für sich stehende Entität bestenfalls ein Konstrukt zur Lebensgestaltung im Zuge des aktuellen Hypes um den Primat Individualisierung in der Konkurrenzgesellschaft darstellt. In Bezug auf die vielfach vernetzten Lebenswirklichkeiten erscheint es mir aber wesentlich plausibler, das „Ich“ als ein Scharnier zwischen der inneren Verfasstheit und dem äußeren Kontext, in dem sich dieses bewegt, zu verhandeln. Das kann stressig sein und ist doch die Grundlage jeglicher menschlicher Erfahrung (manche sagen auch „lebensbegleitendes Lernen“ dazu).

Eine solche Sichtweise hat gravierende Auswirkungen auf unsere Erwartungen auf „Authentizität“. Diese lassen sich im Rahmen einer Diskussion zur Zukunft des Kulturbetriebs exemplarisch verhandeln. Nirgendwo sonst treffen essentialistische und kommunikative Vorstellungen von Authentizität, damit von Sein und Schein noch so unvermittelt aufeinander wie hier.

Als die Künstler*innen meinten, sich von der Welt verabschieden zu müssen

Wir alle sind geprägt von einem bislang vorherrschenden, romantischen Künstlerbild, das sich nur seiner Kunst verpflichtet weiß. Idealtypisch sahen ihre Vertreter*innen ihre Bestimmung darin, sich jeglicher Einflüsse von außen zu entziehen, um ausschließlich aus sich selbst heraus zu schaffen. „Hier steh ich, ich kann nicht anders“ könnte man mit Luthers Worten sagen, um diesem radikalen Anspruch auf Authentizität auf den Punkt zu bringen. Dieser behauptete von sich eine Kunst zu gebären, die ihre Existenzbegründungen in hermetischer Weise ausschließlich in sich selbst sucht und sich damit ihren gesellschaftlichen Gegebenheiten entbunden weiß. Daraus entstand eine auratische Aufladung künstlerischer Emanationen – damit die konsequente Nachfolge eines religiösen Glaubens antretend – in der die Kunst einen aus der Zeit genommenen, universellen Wahrheitsanspruch repräsentieren sollte. Dieser dominiert – trotz den Einwänden Walter Benjamins vor bereits fast hundert Jahren – bis heute das kulturelle Geschehen (Benjamin, Walter (1939): Das Kunstwerk in Zeiten seiner technischen Reproduzierbarkeit).

Besondere Bedeutung haben diese Kunstvorstellungen in Österreich erhalten. Während diverse Moderne-Strömungen diese sakrosankte Position bereits heftig in Frage stellten, ergab sich in Österreich nochmals eine besondere kulturpolitische Konstellation, die – im Rückbezug auf die Verklärung des Barock – eine spezifisch österreichische Kultur mit dem Anspruch einer aus der Zeit gerissenen Repräsentation und Totalität (siehe dazu etwa Steinberg, Michael (1990): The Meaning of the Salzburg Festival) zu verbinden suchte. Eine darauf basierende rückwärtsgewandte Kulturpolitik mutiere nach 1945 zur Staatsraison und bescherte Österreich eine unvergleichliche Erfolgsgeschichte, die einen am Boden liegenden Kleinstaat zur weltweit affirmierten „Kulturgroßmacht“ überzuführen vermochte. Die versprengten Gruppen diverser Avantgarden, die versuchten, diese Hypostasierung zumindest zu relativieren, haben es bis heute nicht leicht.

Eine darauf begründete Kunstideologie brachte freilich spezifische Anforderungen an die Künstler*innen mit sich. Als diese Kunst Gebärende sollten sie sich ganz in ihren Dienst stellen und dabei die äußeren Umstände hinter sich lassen. Suggeriert wurde damit eine „Eigentlichkeit“ künstlerischer Existenz, die dem Kunstschaffen alles andere unterordnet. Eine billige Rechtfertigung für all die Künstler*innen, die sich mit dem nationalsozialistischen Regime gemein gemacht hatten: Die politischen Verhältnisse seien für sie – so argumentierten sie – bestenfalls zweitrangig gewesen: Ihr Auftrag, dem alles andere unter zu ordnen wäre, hätte ausschließlich darin bestanden, „ihre“ Kunst in die Welt zu bringen. Sie, die Kunst und der Dienst an ihr seien viel wichtiger gewesen als die Auseinandersetzung mit den gerade mehr oder weniger zufällig herrschenden politischen Umständen.

Die damit verbundene Haltung brachte Herbert von Karajan auf den Punkt, als er – wohl irgendwann in den 1960er Jahren – in einer Laudatio Karl Böhm als einen Musiker charakterisierte, dem es gelungen sei, nicht nur die herrschenden politischen Verhältnissen für irrelevant zu erklären sondern bei der Gelegenheit gleich ganz hinter seiner Kunst zu verschwinden: Nicht mehr er, Böhm würde musizieren, sondern „es“, um damit die Kunst ganz zu sich kommen zu lassen.

Diese Beschreibung lässt allenfalls Assoziationen zu fernöstlichen Meditationen aufkommen und repräsentiert dennoch in erster Linie eine Sehnsucht nach einer besonderen Form einer entpersönlichten „Authentizität“. Sie ist einem Menschenbild verpflichtet, das von sich beansprucht, endgültig Transzendenz erlangt zu haben und damit nicht mehr von dieser Welt zu sein. Dass Böhm und seine ideologischen Mitstreiter sehr wohl sehr handfest „in dieser Welt“ agiert und dabei für die Betroffenen nicht nur angenehme Spuren hinterlassen haben, konnte schon einmal dem Vergessen anheimfallen (siehe dazu die wunderbare Produktion „Böhm“ von Nikolaus Habjan).

Eine solche auf individuelle Extraterritorialität künstlerischen Tuns gerichtete Haltung, so meine Vermutung, hat sich bis heute tief in den Kulturbetrieb hineingefressen. Sie beginnt – naturgemäß in den verschiedenen Sparten anders gerichtet – bereits bei der künstlerischen Ausbildung. Diese beschränkt sich nur zu gern darauf, dem individuellen Kunstwollen der Studierenden bestmöglich zum Ausdruck zu verhelfen. Es geht um die Arbeit“ an sich selbst“. Jegliche Einflüsse von außen werden dabei als tendenziell störend empfunden, die es gilt, tunlichst zu vermeiden (Dass vor allem Musiker*innen viel Lebenszeit dem „Üben“ widmen müssen, erschwert zusätzlich eine gebührende Wahrnehmung der jeweiligen gesellschaftlichen Umstände, in denen eine musikalische Meisterschaft angestrebt wird).

Ihre Fortsetzung findet diese Ideologie in der kulturbetrieblichen Organisation, die bis heute weitgehend mit sich selbst beschäftigt erscheint und damit eine gesellschaftliche Enklave bildet, die gar nicht anders kann, als auf eine, diesmal kollektive gesellschaftliche Sonderstellung zu bestehen. Als solche macht sie sich in einer breiteren Öffentlichkeit nur dann bemerkbar – wie jetzt in der aktuellen Krise – wenn ihre Bestandsinteressen ernsthaft gefährdet sind. Darüber hinaus aber besteht sie auf einem autonomen Status, der nur zu leicht in Verachtung umschlägt gegenüber all denen, für die große Bedeutung des Kulturbetriebs als etwas quasi Naturgegebenes keine Selbstverständlichkeit darstellt. Die kulturpolitische Vernachlässigung des Publikums als die andere Seite dieser Medaille, die erst jetzt in vollem Ausmaß ihre verheerenden Wirkungen zeigt, ist dafür vielleicht der eindrücklichste Beleg.

Wider die „Gottsucherbande“ (Bazon Brock): Kunst ist Kommunikation

Neben diesem Mainstream einseitiger Produktionsorientierung haben Künstler*innen auf immer neue Weise versucht, diesen engen Authentizitätsanspruch in Frage zu stellen. Dem Wissen folgend, dass Menschen und so auch Künstler*innen gar nicht anders können, als sich in ihren jeweiligen Kontexten zu verorten, sich dazu zu verhalten, um damit das unvermeidliche Spannungsverhältnis von innen und außen produktiv zu machen, sehen sie sich nicht mehr nur als Schöpfer*innen letzter künstlerischer Wahrheiten sondern als Knotenpunkte menschlicher Kommunikation. Mit der Losung „Kunst ist Kommunikation“ (siehe dazu etwa: Krieger, David J. (1997): Kommunikationssystem Kunst) geht es ihnen nicht darum, weiter einem Kunstbegriff hinterherzulaufen, der darauf abstellt, künstlerische Produktion zu entkontextualisieren und dieser einen transzendenten Charakter zuzuschreiben, sondern ganz im Gegenteil den Versuch unternimmt, „Kunst und Leben“ miteinander zu verbinden und so der Kunst ihren Kontext zurückzugeben. Erst die Absicht, Kunst in die Gesellschaft zu tragen und ihr dort Relevanz zu verleihen, so der kommunikative Ansatz, würde sie zu einer zumindest potentiell eminenten Ressource machen.

Zugegeben: Die Folgen für Künstler*innen sind schwer auszuhalten. Die Verweigerung eines sakrosankten Standpunktes kommt einer narzisstischen Kränkung gleich. Ihr vordringlichstes Ziel kann es fürderhin nicht mehr sein, ihre isolierte Eigentlichkeit zu kultivieren, sondern diese in ein gebührendes Verhältnis zu dem zu setzen, was sonst noch so auf der Welt passiert. Notwendig ist dafür in erster Linie, die Fähigkeit, sich und damit die eigene Verortung in der Gesellschaft in Frage zu stellen und damit ein Selbst-Bewusstsein zu entwickeln, das sich nicht fernab sondern mitten in den gegebenen gesellschaftlichen Verhältnissen weiß, um daraus mit künstlerischen Mitteln produktive Schlüsse zu ziehen.

Das Publikum spielt mit

Die Bereitschaft, Kunst als Kommunikation zu verhandeln setzt zudem voraus, sich von der alten Rollenverteilung zwischen Sendern und Empfängern zu verabschieden. Eine diesbezügliche Infragestellung hat sich in weiten Teilen demokratisch verfasster Gesellschaften längst durchgesetzt. Ganz offensichtlich gibt es ausgerechnet im Kulturbetrieb ganz besondere Beharrungskräfte, die verhindern, allen Beteiligten das Recht zuzusprechen, sich nicht nur als notwendiges, weil zahlendes Übel, sondern als willkommene Akteure in einem interaktiven Geschehen zu beteiligen. Das aber würde den Charakter des Kulturbetriebs fundamental ändern: Es geht um nicht mehr und nicht weniger als um die Ermächtigung eines bislang auf Objektstatus reduzierten Publikums, das endlich auch als Subjekt wahrgenommen werden will. Mit seiner künftigen Teilnahme wird es sich immer weniger das Recht nehmen lassen, sich als Teil einer gleichberechtigten Kommunikation zu verstehen, in der es gehört wird, damit es mitreden, mitbestimmen und mitspielen kann.

In solchen Settings kann künstlerische Wahrheit nicht mehr einseitig dekretiert werden. Sie konstituiert sich im gelungenen Fall als ein kommunikatives Miteinander, in dem der/die Künstler*in nach wie vor eine zentrale Rolle zukommt, den künstlerischen Prozess aber nicht mehr allein zu bestimmen vermag. Und so werden alle zu Mitwirkenden, zu Gestalter*innen einer gemeinsamen Erfahrung mit offenem Ausgang, der Gewohntes in Frage stellt, verändert und damit reicher macht.

Aktive Mitwirkung als Geschäftsmodell der digitalen Medien

Auf dieses hier angedeutete Spannungsverhältnis zwischen Ansprüchen überkommener Affirmation und zeitgemäßer Kommunikation trifft zurzeit eine digitale Revolution, die mittlerweile alle Lebens- und Arbeitsbereiche der Menschen erfasst hat. Sie erhält mit der aktuellen Krise noch einmal eine besondere Dynamik, zumal sie weiten Teilen der Bevölkerung (etwa im Bildungsbereich, Home-Office,…) die umfassende Nutzung ihrer Leitmedien aufzwingt. Die Folge sind vielfältige Lern- und Einübungsprozesse, die auch neue (kulturelle) Haltungen evozieren, von denen zu vermuten ist, dass sie nach einem möglichen Abflauen der Krise nicht mehr „entlernt“ werden wollen.

Das spezifisch emanzipatorische Potential der digitalen Medien liegt in der potentiellen Aufwertung aller Nutzer*innen als aktiv Beteiligte. Als ko-kreative Mitwirkende lassen sie sich nicht mehr auf einfache Sender-Empfänger-Schemata reduzieren. Ihr Habitus zielt auf vielfältige Partizipations- und Interaktionsformen, die in der digitalen Welt als selbstverständlich immer schon vorausgesetzt werden.

Der Staat setzt neue Prioritäten

Mit dem Überhandnehmen einer solchen neuen Haltung kommt ein auf ein traditionelles Verständnis von künstlerischer Authentizität setzender Kulturbetrieb in zumindest zweifacher Weise in die Defensive. Da fällt ihm einerseits der Umstand auf den Kopf, dass er sich in den letzten Jahren immer weiter vom Rest der Gesellschaft entfernt hat, um dort auf seine Juxtaposition zu beharren. Und doch findet er sich mit seinen aktuellen Hilferufen an den Staat plötzlich mit einer Reihe anderer Anspruchswerber wieder, die von den Folgen der Pandemie in mindestens ebenso drastischer Weise getroffen sind wie die traditionellen „Kunstsucher*innen-Banden“. Und sie sehen sich unerwartet wieder in einer Konkurrenzsituation, die sie auch mit noch so gut gemeinten Argumenten zur möglichst raschen Wiederherstellung des Status quo nicht für sich entscheiden können. Der Staat, der sich mit verheerenden wirtschaftlichen und sozialen Problemen konfrontiert sieht, setzt andere Prioritäten (Die Zwangslagen, in denen etwa deutsche Kommunen stehen, die aufgrund der wachsenden Budgetprobleme darüber entscheiden müssen, ob der Spitalsbetrieb aufrechterhalten oder eine Kultureinrichtung wieder aufgesperrt werden kann, machen das Problem deutlich).

Noch hat jede mediale Innovation auf das Rezeptionsverhalten aller Vorherigen massiv zurückgeschlagen

Und da ist andererseits ein anderes, ein neues Kulturverhalten derer, die mit Hilfe der digitalen Medien durch die Krise gegangen sind und sich nicht mehr damit begnügen wollen, einseitig bespielt zu werden. Als solche fordern sie den Kulturbetrieb heraus, gerade jetzt neue interaktive Formate zu entwickeln, die sie zu mitspielenden Akteur*innen des künstlerischen Geschehens machen.

In der Diskussion, die ich vor ein paar Tagen mit Künstler*innen führen konnte, war viel von nostalgischen Erfahrungen die Rede, wonach die gemeinsame physische Begegnung einer Kulturveranstaltung durch nichts ersetzt werden kann. Kann sein, und doch sollten wir die Macht der aktuellen medialen Innovationen nicht unterschätzen. Sie zwingt uns – ob wir wollen oder nicht – einen kulturellen Lernprozess auf, der bereits morgen das Selbstverständnis einer vergleichsweise kleinen Gruppe an Eingeweihten über das „richtige“ Kulturverhalten über den Haufen werfen kann.

Eines muss man den digitalen Medien lassen: Mit ihrer Hilfe lassen sich erstmals wirklich alle Menschen erreichen

Bleibt ein nicht unwesentliches betriebswirtschaftliches Argument. Der Kulturbetrieb stand lange unter dem Eindruck des sogenannten Baumolschen Gesetzes. Dieses besagt, dass sich in diesem Bereich – zum Unterschied zu fast allen anderen Wirtschaftszweigen – durch laufende Automatisierung kaum nennenswerte Produktivitätsgewinne erzielen lassen. Demensprechend sei es nicht möglich, durch die sukzessive Übertragung der menschlichen Arbeitskraft auf die Maschine signifikante Einsparungen zu erzielen.

In einer Zeit, in der aufgrund wachsender Budgetprobleme der öffentlichen Hand beträchtliche Kürzungen der öffentlichen Kunst- und Kulturförderung erwarten sind, widerlegen die digitalen Medien von William Baumol: Mit ihrer Hilfe ist es jetzt schon möglich, künstlerische Produktionen nicht nur einem kleinen Kreis physisch im Theater- oder Konzertsaal Anwesender zugänglich zu machen. Stattdessen kann eine prinzipiell unbegrenzte Zahl von Menschen angesprochen werden, immer vorausgesetzt, diese lassen sich für das Angebot interessieren und sind bereit, dafür einen – wenn auch wesentlich geringeren Obolus an die Veranstalter zu leisten.

Die aktuelle Krise ist in vielerlei Weise grundstürzend: Sie appelliert an einen Gemeinschaftssinn, der sich dadurch ausdrückt, dass wir möglichst jede Art physischer Vergemeinschaftung vermeiden. Zugleich verlagern sich weite Teile der Kommunikation in den digitalen Raum. Der Kulturbetrieb versucht vorerst noch sehr halbherzig, auf diesen Zug aufzuspringen und mit Hilfe diverser Streamingdienste zu suggerieren, dass sich das bewährte Angebot nicht geändert hätte, vielmehr nur auf einen anderen Kanal verlagert wurde.

Eine neugierige Haltung als Schlüssel zu einem authentischen Leben

Das wird, so steht zu befürchten, nicht reichen. Der Kulturbetrieb wird nach der Krise auf Menschen treffen, die sich verändert haben, und daher gut daran tut, sich selbst weiter zu entwickeln. In unserer Diskussion hat es Spaß gemacht zu überlegen, wie physische und virtuelle Formate miteinander verknüpft werden können, etwa, wenn sich zwar viele kleine Gruppen physisch versammeln, die große Gemeinschaft aber in Form eines digitalen Angebot erfahren wird, das sich aus vielen individuellen Beiträgen speist (Wer die Produktion von Gert Kühr „Corona Meditation“ gesehen hat, im Rahmen dessen Künstler*innenstars mit „Ordinary People“ musiziert haben, weiß, wovon ich rede).

Wir alle sind gerade dabei, unsere Vorstellungen von „Authentizität“ weiter zu entwickeln. Gerade Künstler*innen wird dabei besonders viel abverlangt. Ihnen wird nicht mehr und nicht weniger als die Bereitschaft abverlangt, sich nicht weiter als die einzig wahren Kunst-Schaffenden zu stilisieren. Sie sind stattdessen eingeladen, sich in den Dienst einer gemeinsamen Sache zu begeben, in der sich jeder/jede mit seinem subjektiven Vermögen (samt darauf bezogenen Wertvorstellungen) einzubringen vermag. Das bedeutet nicht, ihr künstlerisches Vermögen ab sofort unter den Scheffel zu stellen. Aber es bedeutet, die eigene künstlerische Persönlichkeit in eine kommunikative Beziehung zu setzen zu allen anderen Persönlichkeiten, die bereit sind, sich in kommunikativer Weise mit Kunst auseinander zu setzen und also erst gemeinsam die Qualität des künstlerischen Prozesses ausmachen. Authentizität als Gemeinschaftserfahrung also.

Vielleicht wäre das auch eine adäquate Handlungsanleitung aus Künstler*innen-Sicht nicht nur für die Politikerin Rendi-Wagner: Aus Angst, etwas von ihrer Persönlichkeit Preis zu geben, könnte sie sich künftig verweigern, sich auf eine Funktion eines Durchlauferhitzers beschränken zu lassen. Statt das Publikum mit vorgestanzten Stehsätzen aus fremdem Mund zuzuschütten könnte sie vermitteln, mit ihrer eigenen Widersprüchlichkeit mitten im Leben ihrer Mitmenschen zu stehen, sich für sie zu interessieren, durchaus selbst über eine profunde Meinung zu verfügen, diese aber auf immer neue Weise zur Diskussion zu stellen zugunsten eines besseren Ganzen. Erst dadurch brächte sie Schein und Sein zur Deckung und käme der Hoffnung vieler Menschen auf ein authentisches Geschehen näher, sei es als eine innere, sei es als eine äußere Wahrnehmung.

Und das Publikum würde neugierig werden auf eine Persönlichkeit mit dem Anspruch auf eine persönliche Autor*innenschaft, die es gerade dadurch für sich beansprucht, das öffentliche Geschehen mitzugestalten – Neugierde als prinzipielle Haltung zum Leben als der vielleicht der beste Schlüssel zu jeder Form der Authentizität.

Michael Wimmer schreibt regelmäßig Blogs zu relevanten Themen im und rund um den Kulturbereich.

Anhand persönlicher Erfahrungen widmet er sich tagesaktuellen Geschehnissen sowie Grundsatzfragen in Kultur, Bildung und Politik.

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Frank und frei

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