Die Kunst im Wohlfühltaumel – Was alles das Leben verlängert, ein Lagebericht

Frage an Thomas Hampson: Macht Kunst die Welt besser, oder macht Politik die Welt besser?

Antwort: Menschen machen die Welt besser

In letzter Zeit mehren sich Beiträge, die die Mitwirkung an kulturellen Aktivitäten wahlweise mit einer Verbesserung des individuellen Wohlbefindens oder der kollektiven sozialen Verfasstheit (Integration, Kohäsion,…) begründen wollen.

Bereits 2013 waren die europäischen Kulturminister zu einem Treffen in Moskau zusammengekommen, um Belege dafür zu sammeln, dass kulturelle Teilhabe notwendig zu einer Vertiefung demokratischer Errungenschaften führen müsse. Während aber die damalige sozialdemokratische österreichische Kulturministerin Claudia Schmied noch auf den Unterschied zwischen Arm und Reich hinwies, dem es wegen des dadurch verursachten ungleichen Zugangs zu Kunst und Kultur mit politischen Mitteln zu begegnen gälte, beauftragte der Europarat den deutschen Soziologen Helmut Anheier von der Hertie School of Governance, anhand eines Indicator Frameworks einen thematischen Bericht zum Verhältnis von kultureller Partizipation und sozialer Kohäsion zu erstellen An den Ergebnissen sollten sich, so die Kulturminister*innen, künftige kulturpolitische Maßnahmen orientieren. Die kulturpolitischen Wirkungen des 2016 veröffentlichen Berichtes waren enden wollend. Immerhin veröffentlichte 2019 eine EU-Expert*innen-Gruppe zum Thema „Kultur und soziale Inklusion“ einer Reihe an Good-Practices samt Handlungsempfehlungen. Dazu verabschiedete die Weltgesundheitsorganisation WHO ebenfalls 2019 einen ersten Weltbericht zu „Kunst und Gesundheit“, der einen kausalen Zusammenhang zwischen der Beschäftigung mit Kunst und körperlichem und geistigen Wohlbefinden plausibel machen möchte.

Als extern Mitwirkender an diesem Bericht, erschienen mir die dadurch geweckten Erwartungen ziemlich überzogen, darüber hinaus (kultur-)politisch gefährlich. So verständlich mir der politische Wunsch erschien, nach den ernüchternden Befunden im Bereich der Wirtschaftspolitik („Cultural and Creative Industries als neue Wachstumsmotoren in Europa) nunmehr die Sozialpolitik als neues Legitimationsangebot in Stellung zu bringen, so wenig hatten diese affirmativen Behauptungen mit den gesellschaftlichen Realitäten zu tun. In dieser steht eine wachsende Kunstproduktion (samt damit verbundenen Konkurrenz- und Verdrängungsverhältnissen) eine mindestens ebenso wachsende soziale Verungleichung gegen. Also versuchte ich, ein Minderheitenvotum zu formulieren, das aber keinen Eingang in das offizielle Dokument finden sollte .

Mozart, Schubert und Presley zum Trotz - Je mehr Kunst, umso länger das Leben

Jetzt gibt es also neue Anläufe. So erschien in der Wiener Zeitung jüngst ein Bericht über Studienergebnisse, wonach der Umgang mit Kunst zu einem längeren Leben führen würde. Wissenschafter*innen des University College London seien zur Erkenntnis gekommen, dass je häufiger Menschen mit Kunst in Kontakt treten würden, umso weniger käme es zu einem frühzeitigen Tod. Schön für alle, die daran glauben, könnte man meinen – und es ansonsten dabei belassen. All die Künster*innen, die früh gestorben sind, wird es egal sein.

Die Geschichte geht aber mittlerweile weiter: In Finnland wurde im Rahmen einer interministeriellen Zusammenarbeit Kunst nicht nur als Mittel zur Lebensverlängerung sondern zur Verbesserung der Lebensqualität in Anschlag gebracht. Kunst solle fürderhin als vorbeugende Maßnahme der Vorsorge dienen, als Teil der Sozialarbeit sowie als Teil des Gesundheitswesens und der Rehabilitation. Und auch in Großbritannien gibt es Bestrebungen, „Kunst auf Verschreibung“ zu verordnen. Kein Wunder also, dass sich vor allem bei der kulturellen Standesvertretung der Versuchung nachzugeben, Kultur künftig auch in Rezeptform unter die Leute zu bringen und so neue Einnahmequellen zu lukrieren.

Der Kampf gegen strukturelle Ungleichheit – Schnee von gestern?

Es gibt in den nationalen Statistiken eine Reihe von signifikanten Faktoren, die die Lebenserwartung zu beeinflussen vermögen: genetische Ausstattung, Gesundheit, Ernährung, Geschlechts- oder Familienzugehörigkeit sind nur einige davon. Mindestens ebenso relevant erscheinen die geographische Herkunft, der Bildungsgrad, die Wohnungsverhältnisse, Arbeitszufriedenheit oder die Einkommenshöhe. Die meisten davon ließen sich auf bestehende Macht- und Einflussverhältnisse beziehen und waren so Gegenstand (gesellschafts-)politischer Auseinandersetzungen. Es machte eben einen Unterschied in der Lebenserwartung, ob ein Mensch in einem behüteten urbanen Wohlstandsmilieu aufwuchs oder devastierten Familienkonstellationen, die ihm/ihr keine Lebensperspektive zu bieten vermochte. Ob er oder sie zufällig auf der Flucht aus der Sahelzone geboren wurde oder in eine Villa in Hietzing, in der alles zur Verfügung stand, das sein/ihr Herz begehrte (übrigens auch das keine Garantie für gutes kulturelles Verhalten).

Diese strukturelle Ungleichheit der Startbedingungen ins Leben war lange Zeit zentraler Gegenstand des politischen Kampfes. Er richtete sich vorrangig gegen die ungerechte Selektion einer weniger zuungunsten der Vielen oder zugunsten der Integration derer, die mit der Zufälligkeit ihrer Geburt gesellschaftliche Nachteile in sich trugen, die – neben vielem anderen – auch ihre Lebenschancen reduzierte.

Kulturpolitik war einmal die Fortsetzung von Sozialpolitik – Tritt sie jetzt an ihre Stelle?

Kulturpolitische Maßnahmen zielten die längste Zeit darauf ab, diesen existentiellen Skandal wenn schon nicht zu eliminieren so doch zumindest zu relativieren. Darauf nahm noch einmal Claudia Schmied in ihrer Moskauer Rede Bezug, wenn sie meinte, es wäre die Aufgabe von Kulturpolitik, möglichst allen Menschen, ungeachtet ihrer sozialen Zugehörigkeit, gleiche Zugangschancen zu Kunst und Kultur zu eröffnen.

Diverse Kulturstatistiken machen deutlich, dass die diesbezüglichen guten Absichten auch nach 40jährigen Bemühungen bestenfalls sehr beschränkt eingelöst werden konnten. Nach wie vor bestimmt die Zugehörigkeit zu bestimmten sozialen Milieus und damit der Zugang zu materiellen und immateriellen Ressourcen wesentlich Art und Umfang der kulturellen Teilhabe. Allenfalls geändert hat sich das Image von Kunst und Kultur, deren Nutzung immer weniger in der Lage ist, soziale Hierarchien zu begründen: Die einen können es sich leisten teilzunehmen und tun das auch, die anderen eben nicht; wo liegt das Problem in einer Zeit, der Pluralität und Diversität das kulturpolitische Anspruchsdenken dominieren?

Die besondere Faszination der neuen kulturpolitischen Argumentationslinie liegt darin, dass damit versucht wird, die Verhältnisse auf den Kopf zu stellen. Nicht mehr die Aufgabe von Kulturpolitik soll es sein, die Voraussetzungen dafür zu schaffen, dass sich Menschen ungeachtet ihrer sozialen Stellung instand gesetzt fühlen, an Kunst und Kultur zu partizipieren. Jetzt soll sie sich dafür stark machen, (unter Absehung der sich aktuell immer weiter verschärfenden sozialen Ungleichheit) den Zugang zu Kunst und Kultur zu fördern, auf dass sich das individuelle Wohlbefinden ebenso wie die soziale Verfassung verbessere. Kunst und Kultur werden also in Dienst genommen, um das zu leisten, was eine auf Sozialstaatlichkeit gerichtete Politik bislang nicht zu leisten vermag.

Haben jetzt die Kulturalisierungsstrategien der Rechten auch den liberalen Kulturbetrieb erfasst?

Und so werden wir unversehens Zeugen einer besonders infamen Form der Kulturalisierung der gesellschaftlichen Verhältnisse, diesmal von vermeintlich fortschrittlicher Seite, die nolens volens darauf abstellt, die herrschenden sozialen Konfliktlinien mit kulturellen Mitteln zu kaschieren. Nicht mehr der mühevolle Kampf um individuelle und kollektive Emanzipation aus strukturell benachteiligten Verhältnissen steht auf dem Programm sondern die Beschäftigung mit Kunst und Kultur, die künftig die anstehenden sozialen Probleme lösen soll. Beides probiert, kein Vergleich, ließe sich sagen. Um dann noch hinzuzufügen, dass man sich mit solchen Argumentation auf eine gleiche Ebene begibt wie der Rechtspopulismus, der seinen Anhänger*innen verspricht, die bedrückende soziale Perspektivlosigkeit mit dem Versprechen des kulturellen Wohlfühlens zu kompensieren.

Eine an den gesellschaftlichen Rand gedrängte Gruppe lädt uns ein, ihren Wohlfühlstrategien zu folgen, haha

Die besondere Eigenart dieser Initiative besteht für mich darin, dass es sich bei ihren Befürworter*innen mehrheitlich um eine sozial besonders an den Rand gedrängte Gruppe handelt: Es sind die Künstler*innen, denen der jüngste Bericht zur sozialen Lage gerade attestiert hat, mit einem Einkommen von durchschnittlich 5.000 Euro/Jahr aus ihren künstlerischen Tätigkeiten auskommen zu müssen, die jetzt an die Mehrheitsgesellschaft appellieren, sich mehr mit Kunst zu beschäftigen, in der Erwartung, damit ihre Lebensqualität zu steigern. Es steht zu befürchten, dass sie als typische Role Models damit nur wenig Überzeugungskraft entwickeln werden.

Kunst ist nicht dazu da, sich in der Welt wohlzufühlen (oder das Leben zu verlängern) sondern der Welt ins Auge zu blicken (auf die Gefahr hin, dabei vielleicht zu Tode zu erschrecken)

Vielleicht liegt das Dilemma aber einfach nur darin, dass wir im Zuge der Verschlampung von Sprache, die unter anderem die zunehmend inhaltslose Formel „KunstundKultur“ hervorgebracht hat, vergessen haben, wovon wir überhaupt reden. Es ist hier nicht der Ort, den kunstthheoretischen Diskurs der Moderne in seiner ganzen Vielfältigkeit nachzuzeichnen. Eine Funktion aber war der Kunst dezidiert nicht als mitgegeben: Das Leben von Menschen zu verlängern. Die lange Ahnenreihe von Künstler*innen, die im wahrsten Sinn ihr Leben für ihre Kunst gegeben haben, mag dafür Beweisgenug sein.

Weit eher wurde mit der Kunst als sinnliches Medium der Aufklärung der Anspruch verbunden, gesellschaftliche Wahrheiten zum Ausdruck zu bringen, die von wissenschaftlichen Erkenntnisprozessen, wenn überhaupt dann nur sehr unzureichend erfasst werden können. Also eröffnete Kunst die Chance auf ein erkenntnisreicheres, intensiveres, allenfalls auch wahreres Leben. Dabei verstand sich – jedenfalls gute – Kunst nie als ein Medizinersatz, der irgendetwas zum Besseren zu richten vermag; ganz im Gegenteil, sie brachte ansonsten unterdrückte, tabuisierte, unerträgliche bzw. unter anderen Bedingungen unaushaltbare Unvollkommenheiten menschlicher Existenz zum Vorschein und provozierte den/die Produzent*in ebenso wie den/die Rezipient*in, sich damit auseinander zu setzen, auch auf die Gefahr hin, damit an Lebensqualität einzubüßen.

Möglichkeiten, die eigene Lebensqualität zu verbessern – und dabei allenfalls sogar das Leben (in welchem gesundheitlichen Zustand eigentlich?) zu verlängern, gibt es viele: Die Ärzte empfehlen viel Bewegung in guter Luft oder gesunde Ernährung. Ich kann meinen Job wechseln, allenfalls auch meinen Aufenthaltsort, ich kann unglückliche Beziehungen beenden und mir ein sinnstiftendes Hobby suchen. Und natürlich kann ich auch in Museen gehen, ins Konzert oder Theater, mich bei einem Gesangsverein anmelden oder für einem Kurs für Hinterglasmalerei. Und vielleicht erfährt der/die einzelne damit mein Leben einen neuen Sinn, erlebt sich auf überraschende Weise neu und/oder geht in einer Gruppe Gleichgesinnter auf.

Das utopische Potential von Kunst liegt in der Notwendigkeit des Unnotwendigen

Kunst braucht gar nichts zu können. Soziale Probleme, und darauf will ich hinaus, können mit ihr nicht einmal ansatzweise gelöst werden. Mit einer solchen, auf Affirmation der bestehenden Herrschaftsverhältnisse gerichteten Argumentation wird bloß eines erreicht: Die Pervertierung des letzten eigensinnigen Mediums, das damit einem utilitaristischen Anspruchsdenken unterworfen wird, das mittlerweile in die engsten Ritzen unserer Lebens- und Arbeitsverhältnisse gedrungen ist. Vereinzelte individuelle Geschichten von Künstler*innen oder auch Rezipient*innen, deren Leben sich in der Beschäftigung mit Kunst zum subjektiv empfundenen Besseren (oder auch Schlechteren) gewendet hat, ändern nichts an diesem Befund.

Vor diesem Hintergrund stellt das, was da passiert, eine weitere Etappe im Zuge einer umfassenden neoliberalen Kolonialisierung dar. Mit diesbezüglichen – auch noch wissenschaftlich untermauerten –Behauptungen soll der Anspruch auf umfassende Durchsetzung einer Wohlfühlgesellschaft umgesetzt werden, in der Kunstundkultur ein ganz besonderer Platz eingeräumt wird. Dass damit das universelle Prinzip der unbedingten Nutzenorientierung auf angenehme, weil heilsversprechende Weise umgesetzt werden kann, macht einen solchen Kausalzusammenhang besonders verführerisch.

Dass depravierte Künstler*innen in ihrer oft mehr als prekären Situation verzweifelt nach jedem Strohhalm greifen und so auch bereit sind, sich als Medium zur Steigerung des Wohlbefindens all derer, die einer solchen Argumentationslinie aufsitzen, zur Verfügung zu stellen, erscheint nur allzu verständlich. Und auch einer Kulturpolitik, die sich in Konkurrenz mit anderen, mächtigeren Politikfeldern immer wieder an den Rand gedrängt weiß, kann man es nicht verdenken, wenn sich händeringend nach Argumenten greift, von denen sie glaubt, sie würden dort verstanden, wo man bislang meinte, ohne Kunst auskommen zu können.

Der Kunstbetrieb als Teil einer umfassenden Glücksindustrie?

Die israelische Soziologin Eva Illouz hat zuletzt gemeinsam mit ihrem Kollegen Edgar Cabanas die Ergebnisse einer Studie „Das Glücksdiktat – und wie es unser Leben beherrscht“ veröffentlicht. Darin untersucht sie das Hochkommen einer Milliarden schweren Glücksindustrie, die die Menschen auf ihre teure Mitgliedschaft in einer umfassenden Wohlfühlgesellschaft (ungeachtet der jeweiligen sozialen oder sonstigen Zugehörigkeit) vorbereiten will. Ihre Angebote, etwa in Form von Glücksseminaren, Glücksratgeber, Happiness-Indizes aber auch neuen Schulfächern zielen darauf ab, jedwede negative Gefühle zu blockieren und statt dessen sich selbst zu optimieren. Illouz‘ Analyse nach läuft diese Entwicklung auf eine ultra-individualistische Gesellschaft hinaus, in der sich der Staat immer weniger für soziale Gerechtigkeit oder ein funktionierendes Gesundheitssystem zuständig fühlt und stattdessen den Bürger*innen die Aufgabe zuweist, sich – koste es was es wolle - selbst die Bedingungen zu schaffen, um glücklich zu sein. Wesentlich mitgeholfen bei diesem Transformationsprozess hat die universitäre Aufwertung der neuen Disziplin der Positiven Psychologie, die wiederum auf der ideologischen Grundlage von Positivem Denken ruht. (siehe dazu etwa: Barbara Ehrenreich: Smile or Die: Wie die Ideologie des positiven Denkens die Welt verdummt). Ihre Vertreter*innen werden nicht müde zu behaupten, die nötigen psychologischen Voraussetzungen für ein gesundes, erfolgreiches langlebiges, in jedem Fall optimal funktionierendes Individuum bereitstellen zu können. Da darf die Beschäftigung mit KunstundKultur natürlich nicht fehlen.

Spät aber doch ist mit dem Anspruch einer „Kultur auf Rezept“ auch der Kulturbetrieb in diesem ideologischen Glücks-Nirvana angekommen. Aber wir sollten aufpassen: Man kann sich darin nur zu leicht verlieren bzw. im allgemeinen Glückstaumel Wege beschreiten, deren Wegweiser weit hinter bereits errungene Erkenntnisgewinne über ungebrochen fortbestehende gesellschaftliche Konfliktlinien zurückführen.

Kunst hatte einst Avantgarde-Funktion im Sichtbarmachen gesellschaftlicher Widersprüche inne. Ihre Vertreter*innen sollten noch einmal gut überlegen, ob sie im Zeichen neoliberal getönter Glücksversprechen (und sei es der Lebensverlängerung) künftig die Rolle einer verdummenden Arrièregarde übernehmen wollen.

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Iris123

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