Teil VI meiner kleinen autobiographischen Revue: Übers Lernen und übers Studieren

Über meine ambivalenten Erfahrungen im Halbinternat der Piaristen habe ich ja schon berichtet. Besonders in Erinnerung ist mir der Nürnberger Trichter in der 4. Klasse, mit dem Lehrer Paltram über Monate versucht hat, uns mit den Grundlagen des Satzbaus zu traktieren, auf dass wir die Aufnahmeprüfung in die Mittelschule schaffen. Der Fähigkeit, die Begriffe Subjekt und Objekt halbwegs fehlerfrei aussprechen zu können, sei Dank, schaffte ich den Überstieg und fand mich im Rainergymnasium schnell in einer Klasse von Arzt- und Juristensöhnen wieder, die sich über die Zurückgebliebenen in der benachbarten Hauptschule lustig machten. Das hinderte uns alle freilich nicht, die Lehrer, die sich das gefallen ließen, mit Kreidestücken zu beschießen und auch sonst bis aufs Blut zu sekkieren, vom dritten Stock Wasserbomben auf Passanten zu werfen oder Außenseiter in der Klasse völlig haltlos so lange zu quälen, bis einer der Väter zur Selbstjustiz gegriffen hat.

Mein einschneidendstes Erlebnis in dieser Lebensphase bestand wohl in einer schweren Erkrankung, die mich im Frühjahr der zweiten Klasse für drei Monate ins Spital verbannte. Unser Klassenvorstand Hampel, der viel auf Gemeinschaft setzte, bemühte sich sehr, meine Mitschüler dazu zu bringen, mich über den Unterricht auf dem Laufenden zu halten. Als ich Mitte Juni unser Klassenzimmer das erste Mal wieder betrat, umgab mich ein Meer an Blumen, die meine Mitschüler mitgebracht hatten. Mit Ausnahme von Englisch und Geographie verzichteten alle anderen Fachlehrer auf jedwede Form der Nachprüfung. Gut in Erinnerung ist mir noch die Aussage des Mathematiklehrers, der meinte, als Gesunder hätte ich eine ausreichende Leistung erbracht. Und nur die wolle er bewerten. Als ich aber auf die Suggestivfrage des Geographielehrers, ob sich das Salz in Salzseen unterirdischen Verbindungen mit dem Meer verdanke, mit Ja beantwortete, kam ich um eine Nachprüfung zumindest in diesem Fach nicht herum.

Zusammen mit anderen an Musik interessierten Schulkollegen veranstaltete ich den einen oder anderen musikalischen Nachmittag. Als Eyecatcher kündigten wir auf den handgeschriebenen Plakaten Friedrich Gulda an, den wir freilich nie kontaktierten und daher auch nicht kam. Stattdessen machten wir uns selbst über Beethoven-Sonaten her und nutzten den von zu Hause mitgebrachten Plattenspieler, um unseren biographischen Geschichten Tonbeispiele hinzuzufügen. In der Elternvereinskasse klingelte es, einer der Väter gab einen Hundert-Schilling-Schein in den Spendenkorb. Damals ein unglaublich hoher Betrag.

Meine Klasse war selbstredend eine reine Bubenklassen. Nur in der humanistischen Parallelklasse, in der neben Latein und Altgriechisch unterrichtet wurde, gab es ein paar Mädchen. Die einzige Chance, mit diesen zusammen und damit meinem ersten Schwarm näher zu kommen, ergab sich in der Firmvorbereitung. Also wurde ich gefirmt, der Schwarm hingegen blieb unerreichbar

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Als der Zufall über die Schulkarriere entschied

Dann erfasste mich die Pubertät, die mich ordentlich durcheinander wirbelte, die Lernleistungen nahmen rapide ab und der Lateinlehrer Stickler und sein Angstregime tat ein Übriges, mir die Lust auf Schule zu vergällen. Da traf es sich, dass mein Vater von einem Gastspiel seiner Band aus Düsseldorf zurückkam und mir ausgerechnet einen Chemiebaukasten mitbrachte. Und ich war Feuer und Flamme. Schon bald richtete ich mir in meinem Zimmer ein „Labor“ ein, verätzte meine Bettwäsche mit Salzsäure-Dämpfen, erschreckte meine Familie mit Jodnitrid und erfreute mich an Bromdämpfen, die die ganze Wohnung durchzogen. Angesichts zweier Nichtgenügend im Halbjahreszeugnis erzählte ich meinen Eltern, ich hätte leider kein Zeugnis bekommen, es hätte Schwierigkeiten bei der Ausfertigung gegeben.

Am Ende aber wurde doch offensichtlich, dass es für mich in dieser Schule keine Zukunft gab. Also war es naheliegend, mich in der Rosensteingasse und damit der Höheren Lehr- und Versuchsanstalt für chemische Industrie anzumelden, um mich dort die nächsten fünf Jahre vorrangig mit Biochemie zu beschäftigen. Es war also schierer Zufall, der meine Schulkarriere nachhaltig verändert hat und es mir bis heute erlaubt, die Welt mit einem naturwissenschaftlichen Grundverständnis wahrzunehmen. Noch gut kann ich mich an die Frage des Physiklehrers erinnern, was denn Wärme wäre und ich darauf mit Bewegungsenergie antwortete (ich muss das zuvor in der Rainergasse aufgeschnappt haben). Damit war mein Imagewechsel vom Versager zum Vorzugsschüler vollzogen, eine Zuschreibung, die mich gegen manche Evidenzen (mein Versuch, ein Glas mit Zyankali aus dem Labor zu entwenden, wurde nie restlos aufgeklärt) bis zum Abschluss bringen sollte.

Wir lernen immer etwas anderes als es der Plan vorsieht

Wenn ich aber heute noch mit damaligen Schulkolleg*innen zusammen komme, fällt auf, dass die nachhaltigsten Erinnerungen nicht der Beschäftigung mit Biochemie sondern den Erfahrungen mit geisteswissenschaftlichen Fächern wie Literatur und Geschichte geschuldet sind. Immerhin unterrichtete uns damals Roland Heger, der Autor einer umfänglichen Anthologie zum österreichischen Roman des 20. Jahrhunderts. Meiner Matura-Leseliste, voll mit den russischen Klassikern fügte er Handkes Hornissen hinzu, die erst kurz davor erschienen waren. Ich verstand nichts und fühlte mich doch als ein Teil einer Avantgarde. Und auch Julia Schutting – damals noch als Frau Professor auftretend - versuchte sich darin, stets ihre Halskette vor ihrer Brust drehend, uns ein erstes Geschichtsbewusstsein zu vermitteln. Der Mathematiker Winkler hingegen machte uns mit den ersten Vorformen der Informatik vertraut: Stolz rollte er mit einem Wagen einen unhandlichen Computer ins Klassenzimmer und versuchte uns ein Semester lang vorzuführen, wie eine quadratische Gleichung programmiert werden kann. Legendär aber war unser Klassenvorstand August Siegl, der bei aller Verschrobenheit den Idealtyp eines guten, weil universell gebildeten und verständnisvollen Lehrer repräsentierte, dem zu folgen Freude machte. Neben ihm aber fand sich auch ein schwerer Alkoholiker, der sich in seinen vier Wochenstunden Maschinenbau, sofern er überhaupt noch sprechfähig war, hauptsächlich von seinen Enkeln erzählte.

Spezialisierung als Verlust von Welt

Wir hatten damals Stundenpläne, die bis zu 36 Wochenstunden umfassten. Gegen Ende der Ausbildung nur mehr wenige Schüler*innen waren wir eng aufeinander verwiesen. Von dem, was außerhalb stattfand, bekamen wir in der Regel nur wenig mit. Die 68er Revolution hin oder her, meine diesbezüglichen Erfahrungen erschöpften sich in der Frage an einen Schulfreund, ob er mir nicht einmal LSD besorgen könnte. Es ist nicht dazu gekommen; stattdessen begnügten wir uns mit jeder Menge Bier, das wir schon in der Mittagspause zusammen mit einer Portion Bratkartoffel mit viel Senf konsumierten, um danach lallend wieder in den Nachmittagsunterricht zurückzukehren.

Wieder sollte ein Zufall meinen weiteren Weg bestimmen. Es war Pater Jergen, der uns in katholischer Religion unterrichtete und der es mir ermöglichte, in „seiner“ nahegelegenen Herz-Jesu-Sühne-Kirche Orgel zu üben. Schon wenig später zog ich das Pfarrhaus ein, übernahm die regulären Orgel-Dienste zu den Messfeiern und übernahm auch die Leitung des Kirchenchors. Und so erhielt ich ungewollt einen faszinierenden Einblick in das umstürzlerische Kirchengeschehen der nachkonziliaren Zeit, in der sich ein junger Kaplan aus Spanien weigerte, zur Messfeier nochmals den Ornat anzulegen, um sich mit den Kirchgänger*innen auch nach außen sichtbar zu verbrüdern (dieser junge Kaplan kam aus Spanien war aus Spanien nach Wien gekommen, um über Ferdinand Ebner zu dissertieren. Auf seinem Weg in den Vatikan wurde ihm in der Statione Termini in Rom sein Koffer gestohlen. Darin befand sich u.a. sein einziges Exemplar seiner Arbeit. Und so kehrte er in vordigitaler Zeit noch einmal für ein Jahr nach Wien zurück, um sich nochmals an die Arbeit zu machen). Zur gleichen Zeit lud ein anderer Pater eine Reihe älterer Frauen zu sich in seine Wohnung zu Herz-Marien-Andachten, um danach seltsam im Gesicht glühend den Versammlungsort wieder zu verlassen.

Was heute vielleicht abenteuerlich klingt, war damals für die meisten meiner Kolleg*innen völlig normal. Ja, mit der Matura an dieser Schule verfügten wir über die Matura samt einer fundierten beruflichen Ausbildung. Aber der Umstand, dass auf jeden vor uns mehr als 250 freie Stellen warteten, befreite uns 1970 von jeglichem Zwang, uns möglichst rasch im Arbeitsleben einzufinden und die Karriereleiter hinauf zu klettern. Stattdessen war Ausprobieren angesagt. Und von dieser Möglichkeit – die den jungen Menschen heute immer mehr erschwert wird – haben die meisten von uns Gebrauch gemacht. Um in der Folge Tierärztin, Anthropologin, Physiker, Weinbauer, Trader, Laufzubehör-Händler, Gallerist oder einfach Lebemann zu werden.

Die Möglichkeit der Wahl und die Not der Entscheidung

Ich konnte mich lange Zeit nicht entscheiden, wie es mit mir weiter gehen sollte. Auf eine Ferialpraxis bei Bayer Leverkusen unmittelbar nach der Matura folgte die Mitwirkung an einer Kampagne der Zuckerfabrik Hohenau. Daraufhin nahm ich eine Stelle als Laborassistent just an der Schule an, der ich als Schüler gerade entronnen war. Zugleich bereitete ich mich auf die Aufnahmeprüfung für die Orgelklasse Alois Fohrer an der Musikakademie vor und begann ein Lehramtsstudium als Musikerzieher. Dazu besuchte ich Lehrveranstaltungen für Mathematik und Chemie an der Universität Wien und suchte mein Seelenheil bei Frau Balabene, deren Yoga-Klasse mir dabei half, mir einen kritischen Abstand zur Allmacht des Katholischen zu ermöglichen.

Gerade weil ich mich gerne als anarchistischer Einzelgänger gerierte, habe ich den engen Zusammenhalt in der Orgelklasse als besonders bereichernd gefunden (warum ich überhaupt aufgenommen wurde, ist mir bis heute ein Geheimnis. Meine Performance während der Aufnahmeprüfung war grottenschlecht. Forers damaliger Assistent Rudolf Scholz wandte sich danach an mich: Um Gottes Willen, warum haben Sie sich denn nicht davor bei mir gemeldet? Aber offenbar gab es genügend unbelegte freie Plätze.) Als Gruppe waren wir unzertrennlich, machten die Emporen der österreichischen Kirchen unsicher, auf denen wir zusammen musizierten und über all das Brimborium da unten lustig machten, um damit ein Stück die Utopie einer Einheit von Kunst und Leben Wirklichkeit werden zu lassen.

Und doch: Bei all dem Durcheinander sollten meine ersten Studienversuche schon bald zum Erliegen kommen. Auf der Anschlagstafel der Musikakademie fand sich ein Hinweis auf eine offene Stelle als Musikerzieher an der Lehranstalt für wirtschaftliche (damals noch Frauen-)berufe Musikerziehung in Wiener Neustadt zu unterrichten, das ich ohne groß darüber nachzudenken freudig annahm. Dass ich über keinerlei Zertifizierung verfügte, spielte damals offenbar keine Rolle, zu groß war der Lehrer*innenmangel in einer Zeit der von Kreisky und Sinowatz vorgetragenen Bildungseuphorie. Bald schon sollte diese kurze Phase meiner beruflichen Tätigkeiten als Musikerzieher zu meiner wahrscheinlich wichtigsten Schule des Lebens werden, die mir und vielen meiner Schüler*innen nachhaltige Einsichten ermöglicht hat, wie Gesellschaft funktioniert und welche Rolle dabei der Schule zukommt (siehe dazu hier).

Wenn schon Kulturpolitik, dann ordentlich

Während das reguläre Studium nur mehr auf Sparflamme weiterlief, machte ich in der Folge eine Reihe von beruflichen Wechsel durch, die mich über den Jugendrat für Entwicklungshilfe und der commune schließlich zu den Jugendzentren der Stadt Wien führen sollten. Mittlerweile 30 Jahre alt geworden, spürte ich intuitiv, dass es nunmehr an der Zeit wäre, zumindest ein Studium zu einem guten Ende zu bringen. Zuerst aber wollte ich mir ein theoretisches Unterfutter für die Kulturarbeit in den Jugendzentren erwerben. Das damals neu gegründete Institut für Kulturelle Management (IKM) bot sich an und sollte sich doch schon bald als ungeeignet erweisen für meine Suche nach guten methodischen Grundlagen für eine kulturelle Basisarbeit in der außerschulischen Jugendarbeit. Die beiden Legenden des österreichischen Nachkriegs-Kulturbetriebs Ernst Häussermann und Marcel Pravy hatten sich damals zusammengefunden, um für „ihren“ Kulturbetrieb nicht nur den künstlerischen sondern auch den manageriellen Nachwuchs vorzubereiten. Dabei setzten sie weniger auf die Vermittlung konzeptiver Grundlagen; vielmehr stellten sie das Studium darauf ab, die Studierenden mit führenden Exponenten des Kulturbetriebs bekannt zu machen, die ihnen anhand praktischer Erfahrungen das Rüstzeug, Kultureinrichtungen zu führen, mitgeben sollten. Häussermann lud dazu jeden Dienstag Abend zu seinem Stammtisch ins Wiener Glacisbeisl, wo die Studierenden unmittelbar mit den Machern in Kontakt treten konnten. Darüber hinaus gab es vereinzelte, für die damalige Zeit noch ungewöhnliche Innovationen etwa in Form von Lehrveranstaltungen zu Rhetorik oder Gruppendynamik (die Drei-Tages-Treffen mit Bernhard Pesendorfer und Peter Scheer bei mir zu Hause in Pitten hatten nachhaltige, auch persönliche Auswirkungen).

Aber auch im Kontext des IKM fand Lernen vor allem untereinander statt. Die meisten der Studierenden waren selbst in Kulturprojekten involviert, an denen wir uns in vielfältiger Weise abarbeiten konnten. Als wirklich gemeinschaftsstiftend aber sollte sich die Friedensbewegung erweisen, die sich damals europaweit vor allem gegen den „NATO-Doppelbeschluss“ als Antwort auf die Wiederauflage des Kalten Krieges richtete. Als IKMler gründeten wir den österreichischen Ableger der Initiative „Künstler für den Frieden“, die u.a. einen großen Event in der Wiener Stadthalle ausrichtete.

Sich ein Studium selbst zusammenstellen dürfen, was für ein Privileg

Mein Abgang von den Jugendzentren der Stadt Wien machte mich zum Arbeitslosen. Eine gute Gelegenheit, dachte ich mir, meine im IKM erhaltenen, doch sehr oberflächlichen kulturpolitischen Kenntnisse zu vertiefen und noch einmal ein Studium zu beginnen. Als an gesellschaftspolitischen Fragen Interessierter verfiel ich rasch auf das Studium der Politikwissenschaften, das mir neue Zugänge zur Analyse von Macht- und Herrschaftsverhältnissen ermöglichen sollte. Dazu erlaubte die damalige Studienordnung die weitgehende Selbstorganisation eines „studium irregulare, für das ich mir selbständig einen Korb an Lehrveranstaltungen zusammensuchen konnte, die ich für eine vertiefte Beschäftigung mit kulturpolitischen Fragen für relevant hielt. Sie reichten von Volks- und Betriebswirtschaft, Psychologie, Soziologie, Philosophie, Zeitgeschichte, Innen- und Außenpolitik über ästhetische Theorie bis zu Theater-, Musik- und Kunstgeschichte.

Obwohl mir lange ein vertieftes Verständnis dafür fehlte (und ich war dabei beileibe nicht allein), um was es in den Politikwissenschaften wirklich geht, konnte ich als mittlerweile 33-Jähriger eine Zielstrebigkeit entwickeln, von der ich zehn Jahre zuvor nur träumen konnte.

Frei nach der Aussage des vormaligen Kulturministers Fred Sinowatz, Kulturpolitik sei als eine Fortsetzung von Sozialpolitik zu verstehen, war ich von der Idee geleitet, zu dem etablierten Politikfeld der Sozialpolitik ein gleichwertiges der Kulturpolitik zu etablieren und dazu die hierfür notwendigen Kompetenzen zu erwerben. Ein herausragender Begleiter dabei sollte mir bei diesem Versuch Emmerich Tálos sein, der als Universitätslehrer in besonderer Weise profunde fachliche Expertise mit gezieltem gesellschaftlichem Engagement zu verbinden wusste. Mit seinen grundlegenden Studien zum Sozial- und Wohlfahrtstaat wies er mir den Weg zu konzeptiven Annäherungen an die Kulturstaatlichkeit Österreichs, die mich am Ende auch bei ihm auch im Rahmen einer Diskursanalyse zu „Kultur – Arbeit – Technologie“ 1987 dissertieren ließen. Davor hatte ich mich bereits im Zuge des Masterstudiums mit einer ersten Geschichte der österreichischen Kulturpolitik in den Jahren zwischen 1968 und 1985 auseinandergesetzt.

Es sind die Menschen, die lernen stimulieren

Als älterer Student genoss ich das Studium sehr. Zum Unterschied von vielen jüngeren Kolleg*innen, die viele Semester in der eigenen Unsicherheit badeten, wusste ich einiger Maßen, worauf ich hinauswollte. Darüber hinaus saß mir die Existenzangst im Nacken. Sie ließ mich fürchten, das Arbeitsamt könnte mir früher oder später die Notstandshilfe wegen Arbeitsverweigerung entziehen. Aber nein, meine Referent*innen am AMS erwiesen sich als konziliant und dank Nachhilfestunden konnte ich meinen Lebensunterhalt halbwegs bestreiten und mich voll auf das Studium konzentrieren. Während eine letzte Generation von Studentenrevolutionär*innen noch einzelnen Vortragenden das Leben schwer machte, erlebte ich anderswo Sternstunden, etwa der Volksbildner Gerhard Kappner, der uns in seinem Seminar zu Ästhetischen Theorien in das Kulturverhalten arbeitender Menschen einführte; Gerhard Schwarz, der mit seinen Großgruppenexperimenten im Hörsaal 38 die Teilnehmenden an den Rand ihrer Frustrationstoleranz brachte; Dieter Bogner, der uns als Externer an der Kunstgeschichte in Umberto Ecos Offenes Kunstwerk einführte oder Herbert Lachmayr, der in seiner Kultvorlesung ähnliches mit Aby Warburgs ikonographisches Denken versuchte. Ich verdanke ihnen allen viel. Und ganz besonders einer schrulligen wissenschaftlichen Hilfskraft am Philosophischen Institut, dessen Namen mir entfallen ist, die mir in seinen Lehrveranstaltungen auf sehr anschauliche Weise ein vertieftes Verständnis in Philosophiegeschichte ermöglichte.

Zwischen den Vorlesungen verfertigte ich Proseminar- und Seminararbeiten am laufenden Band und schloss das Magisterstudium in sechs Semestern ab. Unmittelbar darauf schrieb ich meine Dissertation (eigentlich schrieb sie auch meine Schwester. Als Sekretärin eines Rechtsanwaltes kannte sie sich mit der Nutzung der ersten Bürocomputer gut aus und brachte meine

Texte mit Hilfe von Displays mit 12 Zeichen auf einer Floppy-Disc in Form) und meldete mich schon ein halbes Jahr später zu den Abschlussprüfungen an. Im Dekanat hatte die Sachbearbeiterin bereits den Stempel in der Hand, um dann doch mit Blick auf das Formular zu meinen, ein Doktoratsstudium dürfe vier Semester nicht unterschreiten. Also zog ich unverrichteter Dinge wieder ab, um eineinhalb Jahre später mit denselben Unterlagen wieder zu erscheinen (eine Anfrage bei der Volksanwaltschaft hatte ergeben, dass diese Vorschrift keine Ausnahmen kennt).

Dazwischen aber erhielt ich einen Anruf aus dem Unterrichtsministerium. Der Abteilungsleiter für Literaturförderung war am Apparat, um mich zu fragen, ob ich nicht Leiter des Österreichischen Kultur-Service werden wolle. Wieder sagte ich spontan zu und es begann eine neue Phase des beruflichen Learning by Doing. Und es sollte noch einmal zwanzig Jahre dauern, bis es mir möglich wurde, mich nach meiner Habilitation an der Universität für angewandte Kunst im Fach „Kulturpolitikforschung“ wieder intensiver mit Studienfragen zu beschäftigen. Aber das ist eine andere Geschichte….

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