Über meine Mutter Elfriede Wimmer – Wie eine Frau lernte, sich selbst zu genügen und dabei eine gute Wirtin wurde

Wirklich zusammengelebt habe ich mit meiner Mutter nur kurze Zeit. Meine Eltern trennten sich, als ich 6 Jahre alt war; danach wurde ich meinem Vater zugesprochen. Danach kreuzten sich unsere Wege nur selten; ihr Bedarf, Mutter sein, war nach den ersten Jahren offenbar mehr als gedeckt.

Ich weiß also wenig über meine Mutter und kann nur wenig aus unmittelbarer, noch weniger aus in Sprache übersetzbarer Erfahrung erzählen. Und doch hat sie gefühlt mein Leben nachhaltig beeinflusst. Ein guter Grund, mir noch einmal ein Bild zu machen, wer meine Mutter gewesen ist und was ihr Sinn und Halt gegeben hat – und was nicht.

Dafür muss ich etwas weiter ausholen. Sowohl ihr Vater als auch ihre Mutter stammten aus dem Sudetenland. Ihr Vater und seine Schwester waren Kinder eines wohlhabenden Lederwarenfabrikanten in Brünn. Als deren Mutter früh starb, heiratete der Vater eine seiner Bediensteten, die mit den beiden Kindern nichts anfangen konnte. Als archetypisch böse Stiefmutter setzte sie die beiden, die sie die Konkurrenz zu ihrem eigenen Nachwuchses sah, mit ihrem 14ten Lebensjahr einfach auf die Straße. Für die Schwester hätte es nicht schlimmer kommen können, immer wieder auf der Flucht wurde sie als unerwünschte Deutschstämmige in den letzten Kriegswirren von sowjetischen Soldaten vergewaltigt. Als sie schließlich in Wien ankam, verschlugen sie ihre Heilserwartungen ins Umfeld des Thronprätendenten Otto Habsburg. Eine durch die katholische Kirche eingefädelte Ehe zwischen ihr und einem Versehrten in schon recht fortgeschrittenem Alter ließen gegen Ende ihres Lebens die Grenzen zwischen Ehefrau und Pflegerin verschwimmen.

Auch mein Großvater war völlig mittellos, als er nach Wien kam. Er fand eine Stelle als Kellnerlehrling, wechselte aber schon bald zur Bahn, wo er sich in eine sichere Dauerstellung erhoffte. Als Verschieber hatte er einen harten und gefährlichen Job. Aber immer wenn ich als kleines Kind die Großeltern besuchte, nahm er mich mit auf die Ameisbrücke, von wo aus wir am darunter liegenden Verschiebebahnhof stundenlang das Zusammenstellen der Züge beobachteten.

Über die Großmutter habe ich viel weniger in Erfahrung bringen können. Ebenfalls aus dem Sudetenland zugezogen sei sie Milchfrau gewesen, als sie als die Ältere meinen Großvater kennen lernte. Das junge Ehepaar bezog eine Zimmer-Küche-Gemeindebauwohnung in Wien Penzing, in der sie insgesamt drei Kinder aufzogen, meine Mutter und ihre beiden älteren Brüder. Die Großmutter war eine „Hantige“; steif bis in die Knochen und an Gicht leidend „hatte sie die Hosen an“. Darüber hinaus wachte sie streng über die bescheidenen Mittel und bekochte ihre Familie mit Fleisch von einem Stand am Meiselmarkt, der unter abgelaufene Ware anbot. Entsprechend roch es in der Wohnung. Der Großvater hingegen war die Güte in Person. Er sah in seiner Ehefrau die verloren gegangene Mutter und verhielt sich auch so. Gern als „guter Lotsch“ abgestempelt versuchte er, es „der Mutti“ in allem recht zu machen und erntete doch nur stille Missachtung ob seiner fehlenden Männlichkeit. Und doch verbinde ich angenehme Erinnerungen an den Ort, an dem meine Mutter aufgewachsen ist: Fünf Minuten vor Sieben erklang aus dem Radio die Melodie „Guten Abend, gute Nacht, mit Rosen bedacht…“ und das Sandmännchen begann eine beruhigende Geschichte zu erzählen. Dazu gab es Grießkoch mit ein wenig Kakao oben drauf.

Bis heute ist es mir ein Rätsel, wie drei Heranwachsende auf so beschränktem Raum auch nur halbwegs zurechtkommen konnten (einer der beiden Brüder soll sich jeden Abend das Klappbett in einer kleinen Abstellkammer aufgestellt haben). Der älteste Sohn war der große Stolz der Mutter: Als Flieger (angeblich nur von Transportflugzeugen) im Zweiten Weltkrieg stand er für den gesellschaftlichen Aufstieg der Familie. Als er sich jedoch mit der falschen Frau einließ, die als Kriegerwitwe zwei Kinder in die Beziehung mitbrachte, zögerte die Mutter keinen Augenblick, ihren Liebling auf Lebenszeit zu verstoßen. Eisern stand sie bis zu ihrem Tod zu ihrem Entschluss. Erst das Begräbnis der Mutter brachte ein, wenn auch letztes „Wiedersehen“ mit ihrem verlorenen Sohn. Der mittlere Sohn folgte den Fußstapfen seines Vaters, nach einer technischen Ausbildung führte ihn sein beruflicher Weg ebenfalls zur Bahn, wenn auch in einer beamteten Funktion am Schreibtisch. So kam ich als kleiner Bub in den Genuss ganzer Stapel von Lochkarten als frühe Anwendungen der Automatisierung, auf denen ich zeichnen durfte.

Die Verhältnisse müssen mehr als beengt gewesen sein, umso mehr als das Schlafzimmer untertags geschlossen blieb und nicht benutzt werden durfte. Alles spielte sich in der kleinen Wohnküche ab. Ich will mir nicht vorstellen, wie meine Mutter, noch dazu als Jüngste in diesen rundum einschränkenden Verhältnissen auch nur halbwegs zurandegekommen sein mag. Sie besuchte die Handelsschule in der Wenzgasse und galt schon früh als Schönheit. Als solche probierte sie einiges aus, u.a. wurde ihr ein Verhältnis mit einem britischen Besatzungsoffizier nachgesagt. In Walter, einem typischen Wiener Strizzi soll sie ihre erste große Liebe gefunden haben.

Über die sozialen Grenzen hinweg muss sie den Weg ins innerstädtische Nachleben der späten 1940er Jahre gefunden haben. Verwandte berichten, dass sie sich zu Beginn als „Zigarettenmädchen“ in der Edenbar verdingt hat. Immerhin erlebte sie in diesem Umfeld das schiere Gegenprogramm zur Enge im Gemeindebau in der Hickelgasse. Als attraktive Serviererin muss sie auch das Interesse meines Vaters erregt haben. Sie muss dem Kapellmeister und Leader verschiedener Live-Bands immer wieder über den Weg gelaufen sein. Geht es nach den erhaltenen Fotos, dann wusste meine Mutter zu gefallen; und mein Vater war durchaus empfänglich für diesbezügliche Avancen.

Ob auch meine Mutter Gefallen an meinem Vater gefunden hat, sie sich in ihn verliebt, vielleicht sogar das Gefühl der Liebe verspürt hat, das kann ich nicht rekonstruieren. Ich habe jedenfalls keine diesbezüglichen Zeugnisse gefunden. Dass sich für sie in einer Beziehung mit einem bereits arrivierten Unterhaltungskünstler die Chance eröffnete, sich aus allem zu befreien, was an räumlicher und emotionaler Enge zu Hause wartete, kann ich annehmen. Mit meinem Vater kam da einer, der ihr die große Freiheit ermöglichen sollte.

Und so heiratete mein knapp 40 Jahre alter Vater (der bereits eine Ehe hinter sich hatte) meine knapp 20 jährige Mutter nach einem nur sehr kurzen Kennenlernen. Während meine Mutter ein Leben in – endlich – besseren Verhältnissen vor sich sah, hatte mein Vater relativ klare Vorstellungen über ihre künftigen Aufgaben. Klar war da seine männliche Eitelkeit, mit ihrer Schönheit zu schmücken. Weil er sich aber bereits in die Jahre gekommen wusste, war es ihm vielleicht sogar noch wichtiger, in ihr die Mutter seiner Kinder oder zumindest seines Kindes gefunden zu haben. Also kam ich schon bald nach ihrer Eheschließung auf die Welt; die Fotos zeigen eine blutjunge Frau, die nicht so recht weiß, was sie mit diesem Säugling anfangen soll. Ihre ganze Körperhaltung zeigt, dass sie lieber nichts mit ihm zu tun haben möchte. Der Vater hingegen strahlt über beide Ohren, sichtlich stolz, nunmehr über einen Stammhalter zu verfügen, birst er schier vor Selbstvertrauen. Aus seiner Sicht erstaunlich, dass nach mir keine weiteren Geschwister gefolgt sind. Im Badezimmer fand ich als kleiner Bub seltsame, mit einem Schlauch verbundene, an der Wand aufgehängte metallene Gefäße, mit denen ich gerne gespielt hätte. Meine Mutter muss in einer Zeit, in der es noch keine Anti-Baby-Pille gab, vieles versucht haben, um nicht ein zweites Mal schwanger zu werden.

Meine Erinnerungsfähigkeiten als Baby reichen nicht aus, nachzuvollziehen, was sich mit meiner Geburt zwischen den Beiden abgespielt hat. Verwandte berichteten von permanentem Streit, weil mein Vater, dessen Band täglich von 9 Uhr abends bis 5 Uhr früh musizierte, darauf bestand, dass meine Mutter in dieser Zeit bei mir zu Hause verbringen sollte. Aber sie dachte überhaupt nicht daran, sich an neue Vorschriften zu halten. Sie sah die Ehe mit meinem Vater als eine Eintrittskarte in die weite Welt, deswegen war sie sie ja eingegangen. Keinesfalls war sie gewillt, sich nochmals einsperren zu lassen.

Die neuen Möglichkeiten, meinen Vater bei verschiedenen Engagements in Italien, der Schweiz oder in Deutschland zu begleiten und dabei zumindest einen Zipfel von High Life zu erhaschen, reichten nicht für die Einwilligung, sich in den Willen des Ehemanns zu fügen. Und auch die Erlaubnis meines Vaters, dass sie zumindest nachmittags weiterhin als Kellnerin arbeiten „durfte“, bedeutete für sie noch nicht die neue große Freiheit (Als eine meiner ersten diesbezüglichen Erinnerungen sehe ich mich auf einen Barhocker im Domino in der Krugerstrasse (in dem Lokal sollte Uzzi Förster Jazzgeschichte schreiben) klettern, um meine Mutter bei der Arbeit hinter der Theke zu beobachten; einer ihrer Arbeitskollegen, der sie nach der Trennung von meinem Vater ihr weiteres Leben begleiten sollte, war ganz besonders nett zu mir).

Irgendwann muss mein Vater drauf gekommen sein, dass seine Ehefrau seinen kleinen Sohn immer wieder allein und unbeaufsichtigt in der Wohnung zurückließ, um sich in Bars mit Freund*innen und Kolleg*innen zu treffen. Zumindest einmal soll nach einem Erbrechen die Gefahr zu ersticken groß gewesen sein. Das verzweifelte Schreien um den abwesenden Teil meines symbiotischen Ichs und der Druck des Polsters auf meinem Gesicht, der sie und mich von meinem schieren Dasein befreien sollte, haben sich tief in mich eingegraben. Die psychischen Folgen beschäftigen mich bis heute; aber das ist eine andere Geschichte, die ich allenfalls mit einem Therapeuten teile.

Als sich immer deutlicher zeigte, dass da zwei unversöhnliche Lebensentwürfe aufeinander prallten, betrieb mein Vater aktiv die Ehescheidung. Meine Mutter, die sich in der Zwischenzeit mit einem Kellner-Kollegen eingelassen hatte, der in seiner bedingungslosen Loyalität ihr gegenüber wesentlich mehr ihrem Vater als ihrem Ehemann glich, unternahm noch einmal einen Versöhnungsversuch, in dem sie in seiner Abwesenheit die Wohnung renovieren ließ. Immerhin war ich inzwischen 6 Jahre alt geworden, nicht mehr permanent zu beaufsichtigen, und auch die Großeltern väterlicherseits versprachen, sich noch mehr um mich zu kümmern.

Die Zeit während eines Engagements meines Vaters im Sommer 1956 in Bad Gastein verbrachte ich in einem Jugendlager. Als ich ein paar Tage auf der Krankenstation lag, besuchte mich meine Mutter. Als hätte ich geahnt, dass da gerade meine Familie auseinander bricht, wollte ich sie partout nicht weglassen. Sie müsse kurz aufs Klo, meinte sie, wenig später sah ich sie das Haus verlassen und mir zuwinken. Ohne sich zu verabschieden machte sich auf den Weg nach Wien, um den Handwerkern die notwendigen Aufträge zu geben.

In derart äußerlich renovierten Umständen probierten es meine Eltern noch einmal für ein paar Monate, einen Modus des Zusammenlebens zu finden. Schon bald brachen die alten Unvereinbarkeiten in voller Härte wieder auf. Mein Vater beauftragte einen Privatdetektiv, der meiner Mutter nachspionieren sollte mit dem Ziel, ihr im Scheidungsverfahren die Schuld am Scheitern der Ehe zu- und damit die Vormundschaft über mich absprechen zu lassen. Als Stammhalter sollte ich in jedem Fall bei ihm bleiben. Als es dann soweit war, legte meine Mutter wohl gar keinen Wert darauf, mich zu behalten. Sie muss schon damals gefühlt haben, dass Mutterschaft nicht zu ihren herausragenden Lebenszielen zählt. So hat sie es dann auch bis zum Ende ihres Lebens gehalten. Mit meinem Vater hat sie den Rest ihres Lebens keine fünf Worte mehr gesprochen.

Von zu Hause konnte meine Mutter nach der Trennung keine Unterstützung erwarten. Als junge geschiedene Frau war sie ganz auf sich allein gestellt. Und sie war bereit, ihr Schicksal in die eigene Hand zu nehmen und dafür jede sich bietende Chance zu nutzen. In den ersten Begegnungen, die mein Vater erlaubte, trat mir meine Mutter als sehr taffe Person entgegen, die wusste, was sie wollte und die sich von niemandem etwas dreinreden lassen wollte.

Versiert im Nachtgeschäft nahm sie verschiedene Jobs als Serviererin außerhalb Wiens an. Bei den wenigen Begegnungen wollte sie sich mir gegenüber vor allem als Erfolgsfrau präsentieren. Wir besuchten das Erste Spielzeuggeschäft am Platz, den Mühlhauser in der Kärnter Strasse, wo ich mir, was immer ich wollte, aussuchen durfte. Es waren meistens Matchbox-Autos. Dazu schenkte sie mir eine ganz teure lederne Schultasche, mit der ich mich nicht unter meine Schulkameraden traute. Und einmal tauchte sie mit ihrem Freund mit einem offenen Ford Impala auf (ein amerikanischer Schlitten mit charakteristischen Flügeln am Heck), um mit mir als 8 jährigem eine Rundfahrt zu machen. Dass diese ganze Zurschaustellung nur dazu gedacht war, mich dafür zu benutzen, um meinen Vater zu beeindrucken, sollte ich erst viel später realisieren.

Einmal durfte ich sie in einem Hotel am Semmering, wo sie die eine oder andere Saison arbeitete, besuchen. Später verschlug es sie nach Vaduz und später nach Köln, das ihre zweite Heimat werden sollte. Stolz erzählte sie, dass sie dorthin mit nichts als einem einzigen Koffer mit dem Allernotwendigsten gekommen wäre. Am Anfang gab es nicht einmal ein Bett; sie musste mit einem Lehnstuhl eines Freundes vorlieb nehmen, um über die Nacht zu kommen.

Offenbar wild entschlossen, außerhalb des Einflussbereiches meines Vaters zu reüssieren, war sie auch am Anfang ihres Aufenthaltes in Köln in mehreren Lokalen als Serviererin tätig. Ihre vagen Versuche, sich noch einmal auf eine neue Beziehung einzulassen, verliefen schon bald im Sand. Schon bald eröffnete sich für sie die Möglichkeit, selbst Wirtin zu werden. Im Arbeiterbezirk Venlo mieteten sie und ihr Lebensgefährte, der ihr seit ihren beruflichen Anfängen in Wien unermüdlich zur Seite stand, eine eingefahrene Kölsche Wirtschaft „Em drügge pitter“ samt angeschlossener Wohnung, die über Jahre ihren Lebens- und Arbeitsmittelpunkt darstellen sollte. Bereits um 6 Uhr morgens fanden sich die ersten „Durstigen“ ein, die an den Rollbalken klopften. Bis spät in die Nacht wechselten sich die beiden ab, einen „Strech“ nach dem anderen auf den Bierdeckel zu setzen; ein Schäferhund war der wichtigste Garant, dass so manche gewalttätige Konflikte nicht allzu sehr eskalierten.

Irgendwann muss sich für die beiden die Gelegenheit geboten haben, das Arbeitermilieu hinter sich zu lassen. Ihnen wurde der Gastronomiebetrieb des Tennisklubs „Grün Weiß“ in einem der Außenbezirke angeboten. Spätestens mit der Übernahme dieses eingeführten Gastronomiebetriebs für das gehobene Kölner Bürgertum muss meine Mutter gewusst haben, dass sie es geschafft hatte. Mit ihrem Willen, auch schwierige Zeiten durchzubeißen und dabei nur auf sich selbst zu vertrauen hatte sie sich eine vorzeigbare bürgerliche Existenz geschaffen. Ihrem Lebenspartner gegenüber, der immer wieder darauf drängte, mit ihr eine Ehe einzugehen, antwortete sie – wohl in Anlehnung an einen Vorwurf meines Vaters – mit der Überzeugung, „nie mehr heiraten zu wollen, um sich dann anhören zu müssen, sie sei mit nichts gekommen“. Da konnte sie sich schon mal nostalgisch als Teil einer Wiener Bohème der unmittelbaren Nachkriegszeit imaginieren: ideal dafür erschien ihr der „Herrn Karl“; sie vermochte lange Textpassagen in bester Qualtinger-Manier zu rezitieren – An wen sie dabei wohl gedacht hat?

Mit der Übersiedlung meiner Mutter nach Köln wurden unsere Begegnungen noch sporadischer, wir sahen einander oft über Jahre nicht. Dann aber erhielt ich eine Praktikumsstelle bei Bayer Leverkusen und fand mich unversehens in derselben Stadt wie sie wieder. Zuerst durfte ich sogar bei ihr wohnen; als ich aber als 19 jähriger mit meiner Freundin ankam, verweigerte sie uns die Aufnahme; wir mussten uns ein billiges Untermietzimmer suchen; meinem Vater könnte es nicht recht sein, wenn sie uns bei sich aufnähme, so ihre Begründung.

Es gab mehrere Anläufe, unsere Beziehung noch einmal zu verbessern. Ich sollte erst später herausfinden, dass hinter diesen Bemühungen vor allem ihr Lebenspartner steckte, der schon allein aufgrund seiner eigenen zerbrochenen Familienverhältnisse (sein Vater schaffte als Jude gerade noch rechtzeitig die Flucht nach Palästina und ließ seine Frau in Wien zurück) einen besonderen Auftrag darin sah, uns zumindest als Erwachsene noch einmal näher zusammen zu bringen. Er organisierte einen gemeinsamen Urlaub auf Andros, einer der Inseln der Bahamas, wo sich meine Mutter schon zuvor besonders wohlgefühlt hatte und wir in aller Abgeschiedenheit mehr Zeit miteinander verbringen könnten. Wir waren nicht sehr erfolgreich; in Erinnerung ist mir immerhin ihre Bemerkung, ich hätte mich bereits als ganz kleines Kind mit meinem Vater verbündet, dagegen hätte sie keine Chance gehabt. Um mir Nähe zu zeigen, nahm sie mich gerne – auch noch als Erwachsener – recht kräftig am Oberarm, um mich über die Straße zu führen. Gerne verwendete sie auch den Stehsatz, vor allem, wenn ich mit irgendetwas unzufrieden war: „Geh, Du mei armes Kind“.

Als eingeführte Gastwirtin war meine Mutter Mitglied eines deutschen Gastwirtverbandes, der immer wieder Kulinarik-Reisen in alle Teile der Welt anbot. Sie beteiligte sich gerne daran, immer allein, weil ja – so das Argument – jemand den Betrieb weiterführen müsse. Noch einmal in die Haare gerieten wir uns, als sie Südafrika noch in der Zeit des Apartheit-Regimes besuchte und ich mich gerade in der „Dritte-Welt-Bewegung“ engagierte: Sie habe wunderbare Gaststätten mit einem perfekten Service vorgefunden, sie sei von Schwarzen professionell bedient worden, ihr sei keinerlei Diskriminierung gegenüber Schwarzen aufgefallen, alle würden von den Weißen freundlich behandelt, sie verstünde die ganze Aufregung um eine angebliche Diskriminierung der Schwarzen überhaupt nicht. Und ich stand sprachlos da, unverstanden, mit meinem weltfremden Weltverbesserungs-Gelabere.

Der Club Grün Weiß stellte noch nicht die letzte berufliche Station meiner Mutter dar. Als die Kölner Traditionsgaststätte „Haus Töller“ einen neuen Mieter suchte, bewarb sich meine Mutter und erhielt den Zuschlag. Sie musste den dort als Stammgäste verkehrenden Honoratioren zusagen, den Betrieb völlig unverändert weiter zu führen und nur ja nicht auf die Idee kommen, österreichische Gerichte auf den Tisch zu bringen. Und es funktionierte: Ganz offensichtlich haben der Wiener und der Kölsche Humor einiges gemeinsam; ihr lautes Lachen nachdem Erzählen eines Witzes durchdrang den ganzen Raum. Die sarkastischen Bemerkungen über die einfältigen Kölschen Bürger*innen sparte sie sich ebenso für die Zeit nach Betriebsschluss wie den Stolz, dass an diesem Abend wieder ein Prominenter wie Gunther Philipp bei ihr Gast war.

Mehr als 10 Jahre leitete meine Mutter von ihrem „Thekenschaaf“ aus diese Kölsche Wirtschaft, um dort mit dem Angebot von „Reibekuchen“, „Hämmchen“ und „strammem Max“ die Zeit still stehen zu lassen. Meine Mutter verstand es perfekt, Berufliches und Privates zu trennen. Wobei ihre Privatheit zunehmend darin bestand, rechtzeitig das Fernsehgerät einzuschalten und sich dazu das eine oder andere Glas Sekt zu gönnen. Die allabendliche Wiederholung des Gongs zu den ARD-Nachrichten und die lustigen Geschichten der Mainzelmännchen sind mir unvergessen.

Weder die Beschäftigten noch die Gäste fanden bald den Umstand auch nur erwähnenswert, von einer Wienerin geführt zu werden (Als ich dieses Lokal voriges Jahr noch einmal besucht habe, sah es äußerlich noch immer völlig unverändert aus; trotzdem konnte ich mich des Eindrucks nicht erwehren, es könnte mittlerweile zur Heimstätte eines rechtsradikalen Milieus geworden sein. Auf der Website fanden die aktuellen Betreiber es jedenfalls nicht Wert, die Tätigkeit meiner, ihnen offenbar zu „ausländischen Mutter“ zu erwähnen.

Eine Zeit lang überlegte meine Mutter, die Jahre ihrer Pension am Attersee zu verbringen. Die Pläne für ein neu zu erbauendes Haus waren schon gezeichnet und sind doch nie realisiert worden. Sie entschied sich stattdessen, in Köln zu bleiben, für das sie so etwas wie Heimatgefühle empfand. Immer wieder kam sie nach Wien zu Besuch, ohne den Kontakt zu mir zu suchen. Als ich selbst Vater wurde und ihr das Enkelkind vorstellen wollte, reisten wir nach Köln. Allzu naiv verband ich den Besuch mit der Hoffnung, diese Begegnung würde nochmals ihren Mutterinstinkt wecken; ihr Interesse war endenwollend, die Entscheidung war längst gefallen, mit der Anwesenheit eines neuen kleinen Familienmitglieds nicht noch einmal in die dunklen alten Zeiten und niemals ausgesprochene Verweigerung ihrer Mutterrolle auftauchen zu lassen. Die beiden haben einander nie mehr gesehen.

In den letzten Jahren befiel meine Mutter eine seltene Muskelerkrankung, die sie zunehmend an den Rollstuhl fesselte. Sie trug diese Situation mit Fassung, manchmal schien es, als würde sie sie durchaus genießen, zumal sie jetzt einen Grund mehr hatte, sich rundum bedienen zu lassen. Mit ihrem neuen Gefährt stand sie noch einmal ganz im Mittelpunkt des Geschehens; im wahrsten Sinn hatte sich alles um sie zu drehen. Hauptbetroffener dabei war ihr Lebensgefährte, der ein Leben lang alles versucht hatte, ihr das Leben so angenehm wie möglich zu machen und darin doch nicht die volle Erfüllung fand.

Nach dem Tod meiner Mutter, der unmittelbar auf den ihres Lebensgefährten folgte, wurde ich einigermaßen überrascht mit der Tatsache konfrontiert, dass dieser in den letzten Jahren ein Doppelleben geführt hatte. Am Stadtrand von Köln hatte er auf seine alten Tage eine neue Liebe gefunden, die ihm seinen Muttertraum erfüllte und mit der er das fand, was ihm meine Mutter nicht zu geben vermochte, u.a. den einen oder anderen gemeinsamen Urlaub. Die Frage, ob meine Mutter davon gewusst hat oder nicht, kann ich nicht beantworten. Sehr wahrscheinlich aber ist, dass sie nichts davon wissen wollte und daher bis zu ihrem Ende einfach so weiter getan hat, als hätte es keine gravierenden Veränderungen in ihrem unmittelbaren Umfeld gegeben.

In den letzten Jahren herrschte weitgehende Funkstille zwischen uns. Eines Abends erhielt ich den Anruf einer mir fremden Person, die mir mitteilte, dass meine Mutter zu Tode erkrankt sei: „Wenn Sie sie nochmals lebend sehen wollen, dann kommen Sie sofort“ meinte sie und fügte hinzu, dass sie mit dieser Kontaktaufnahme gegen den Willen meiner Mutter handeln würde. Sie hätte sich von ihr als einer befreundeten Nachbarin ausbedungen, mich nicht zu informieren, weil sie mich nicht stören wolle. Nach dem ich just an diesem Tag ein Symposium zu Ehren des 75jährigen Fred Sinowatz zu organisieren hatte, setzte ich mich noch vor dem offiziellen Ende in den letzten Flieger und fand sie im Spitalzimmer in Köln zwar noch lebend, aber ohne Bewusstsein vor. Am nächsten Morgen starb sie, ohne dass wir noch einmal ein Wort oder einen Blick getauscht hätten. Beim Halten erkalteten ihre Hände langsam.

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