Gemeinsam statt einsam (1994)

War alles falsch?

Als an der Welt interessierter, Frieden und Wohlstand genießender Student habe ich natürlich internationaler Zusammenarbeit, der Überwindung von Nationalismen und der Beseitigung von Reise- und Handelshemmnissen nur Positives abgewinnen können. Die schrittweise Absiedelung der Semperit-Reifenwerke[1] ins östliche Ausland habe ich als Randnotiz in den Wirtschaftsnachrichten zur Kenntnis genommen, zumal man dort auch von einem Sozialplan lesen konnte. Was wiegen ein paar (sozial ohnedies abgesicherte) Arbeitslose schon gegen die zum Greifen nahe Vision, durch die Teilnahme an einem gesamteuropäischen Markt die Handelsbeziehungen so zu verflechten, dass dadurch die Vorstellung, durch ein „Gegeneinander“ jemals mehr als im „Miteinander“ erreichen zu können, absurd würde. Was wiegen ein paar Modernisierungsverlierer schon gegen die verlockende Perspektive, dass Europas Jugend über Austauschprogramme einen Teil ihrer (Aus)Bildung im Ausland absolvieren könne, dadurch den Horizont erweitern und so mit einer völkerverbindenden Grundeinstellung ins Berufsleben starten würde. Was könnte man denn dagegen haben, dass Standards für Produktzulassungen vereinheitlicht und damit den Unternehmen Hindernisse bei Innovation und Marktentwicklung erspart werden? Was soll denn an einer Abschaffung der nationalen Währungen so schlecht sein, schließlich erspart man sich Wechselspesen, und der Kulturverlust durch das Verschwinden von unterschiedlichen Erscheinungsformen des Bargeldes kann ja wohl nur infantile Nostalgiker stören. Was spielen denn die Kosten von ein paar zusätzlichen Beamten und transnationalen Verwaltungsstrukturen für eine Rolle, wenn der Erlös der immerwährende Friede und Europa als führende Weltwirtschafts-, -sozial-, -kultur-, und –moralmacht ist.

Richtig Fahrt in die öffentliche Debatte ist natürlich in den letzten Wochen vor dem Beitrittsreferendum gekommen: Rot und Schwarz haben gemeinsam mit staatsnahen Medien und der Kronenzeitung Stimmung für den Beitritt gemacht, einzig Grüne und Blaue waren dagegen. Während man die Grünen damals kaum ernst genommen hat, empfanden wir im Kollegen- und Freundeskreis „den Haider“ natürlich als eine Bedrohung für nahezu alle Errungenschaften des modernen Österreich. Wenn nun genau er mit seiner VdU-Nachfolgeorganisation dagegen ist, kann es ja nur daran liegen, dass ihm eben die in Aussicht stehenden gesellschaftlichen Fortschritte ein Graus sind, weil diese ja die Fehlerhaftigkeit seiner xenophoben Rhetorik und nationalistischen Vorstellungen beweisen würden. Unter diesen Umständen sah ich über die ersten Fouls der Regierung wie eine millionenschwere Beauftragung von Werbeagenturen[2] zum Umstimmen der EU-skeptischen Bevölkerung[3], den einseitigen „Brief an alle österreichischen Haushalte" [4], die Unausgewogenheit der (bestellten) Berichterstattung und dem Ausstellen von ungedeckten Schecks[5] hinweg. Auch dass man auf Seiten des pro-EU Establishments mit allerlei Angstbotschaften arbeitete, die dramatische Wohlstandsverluste[6] (bis hin zu Arbeitslosenraten im Bereich von 25 % und Zuständen wie in den dreißiger Jahren[7]) , eine Ausgrenzung unseres Landes[8], ja sogar eine Steigende Kriminalität[9] im Falle einer Ablehnung des von der Regierung erzielten Verhandlungsergebnisses vorhersagten, erschien angesichts eines möglichen Triumphes der Haider-Position als hinnehmbares Makel.

Dementsprechend groß war bei uns die Freude über den Ausgang, demzufolge man meinte, nun in die europäische „Familie“ aufgenommen zu sein und allseits erwartete man insbesondere akademischen Umfeld eine lange Periode von Friede, grenzüberschreitender Kooperation und Wohlstandsgewinnen. Da die Kampagne der Beitrittbefürworter auch die Möglichkeit, im gemeinsamen Europa „mitreden“ zu können[10], angepriesen hatte, existierte auch die Vorstellung, dass unser Land seine Stärken einbringen werde können und bei der einen oder anderen Entscheidung die Interessen unseres Landes berücksichtigt würden.

Wo stehen wir heute, gut 20 Jahre später? Während die Vorteile der Mitgliedschaft[11,12,13] mehr oder weniger greifbar sind und diese teilweise auch schon davor bestanden haben bzw. auch nicht-EU-Mitglieder diese nutzen, können die Kosten für unser Land zumindest grob abgeschätzt werden: Neben der jährlichen netto-Beitragszahlung iHv über 1 Mrd EUR [14], wären hier noch die folgenden Belastungsposten zu nennen:

-) 80 Mrd. EUR: Haftungen für die Euro-Rettung [15] (ESM - Haftungssumme)

-) 10 Mrd. EUR: Offene Kredite und Haftungen für Griechenland [16], die nötig waren, um ein Ausscheiden Griechenlands aus dem EURO zu verhindern.

-) 23 Mrd. EUR: Kosten für die Versorgung von mehr als hunderttausend Immigranten, die nur durch das Nichtfunktionieren des EU-Außengrenzschutzes in unser Land gekommen sind.[17]

-) 360 Mio. EUR p.a.: jährliche Kosten für die Aufnahme von 31.000 deutschen Numerus-clausus-Flüchtlingen [18]

Fasst man die genannten Posten für einen 10-Jahreszeitraum zusammen, so käme man auf die Summe von EUR 126 Mrd., was ca. dem doppelten des Jahresbudgets des Bundes[19] entspricht. Nimmt man für die Wahrscheinlichkeit des Haftungsfalles (ESM) und des Kreditausfalles (Griechenland) jeweils 30 % an, so läge man immerhin bei einem Betrag, von über 62 Mrd. und somit in der Größenordung eines Bundesjahresbudgets.

Neben diesen Belastungen wäre auch noch die Frage der erwarteten Wohlstandsgewinne zu prüfen: Während die Einkommen von Arbeitern im Zeitraum 1998-2013 real um 14 % gesunken sind [20], verzeichneten Angestellte & Vertragsbedienstete eine Stagnation. Für die unselbständig Erwerbstätigen insgesamt bleibt es bei einem inflationsbereinigten Verlust von 4,4 % [20]. Das unterste Zehntel der Einkommen hat einen Verlust von sage und schreibe 45 % hinnehmen müssen [20]. Gleichzeitig ist die Arbeitslosigkeit von 6,6 % im Jahr 1995 auf 9,2 % im Jahr 2015 und damit um den Faktor 1,4 gestiegen[21]. In absoluten Zahlen sind damit in diesem Jahr (2016) über 400.000 Menschen ohne Erwerbseinkommen[22].

Im Gegensatz dazu hat das nicht-EU-Mitglied Schweiz die folgende Entwicklung genommen: Lohnentwicklung real plus 12,5 %[23], dies bei gleichbleibend niedriger Arbeitslosigkeit (2005 – 2015 konstant bei 4,5 % [24,25]).

Im Zusammenhang mit der Euro-Rettung wurde auch gerne darauf verwiesen, dass wir (nur) durch die Einbindung in die Währungsunion vor Spekulation und daraus resultierenden Kurs- und damit Wohlstandsverlusten geschützt wären[26]. Auch hier zeigt sich aber anhand der Kursverläufe der Schwedischen (10 jähriger Kursverlauf zum EURO -5% [27]), Dänischen (+0,2% [28]), Norwegischen (-6,7% [29]) und Tschechischen Krone (+4,5% [30]), des polnischen Zloty (-10% [31]) sowie des Schweizer Franken (+45% [32]), dass auch nationale Währungen nicht so schlecht durch die Krise gekommen sind. Dem wäre noch hinzuzufügen, dass die EU-Gemeinschaftswährung gegenüber dem US-Dollar einen 10-Jahresverlust von 12 % hinnehmen musste [33].

Auf der Negativseite zu verbuchen wären weiter noch Souveränitätsverluste, die zu schmerzhaften Eingriffe in passabel funktionierende Systeme [34,35] führen bzw. sinnvolle Lösungen für die Linderung wichtiger innenpolitischer Anliegen unmöglich machen [36].

Weiters habe ich bei meiner Recherche kein ernst zu nehmendes Beispiel finden können das zeigt, dass Österreich in der EU wirksam „mitreden“ konnte – ich wäre dankbar, dazu im Kommentarbereich einen Hinweis zu erhalten. Die neulich dargebotenen Schauspiele, die unsere Bundesregierung im Bereich CETA und Türkeibeitritt geliefert haben machen eher den Eindruck, dass man sich gar nicht darum bemüht hier rechtzeitig respektable Bündnisse zustande zu bringen sondern eine innenpolitisch populäre Position hinausposaunt ohne sich mit Gleichgesinnten (z.B. den Wallonen betreffend CETA) rechtzeitig abzustimmen. Die Spitzenvertreter des Landes wandeln hier auf den Spuren des braven Soldaten Schwejk. Leider agieren diese nicht Zulasten eines obsolet gewordenen militärischen Machtapparates sondern auf Kosten jener, die sie zu vertreten vorgeben und von denen sie auch bezahlt werden.

Dies führt mich wieder zurück zum Ausgangspunkt, dem Friedensprojekt: Ist es nicht so, dass die Tatsache, dass die meisten Gewaltverbrechen innerhalb der Familie geschehen[37] darauf zurückzuführen ist, dass enttäuschte Hoffnungen und Erwartungen zu den gefährlichsten Quellen von Hass und Brutalität zählen? Ist es nicht so, dass die Nettozahler über die mangelnde Budgetdisziplin von z.B. Griechenland nachhaltig enttäuscht sind, diese wiederum über die fremden Eingriffe in deren Haushaltsführung mindestens ebenso verbittert sind und dass diese wechselseitigen Enttäuschungen erst durch den EURO geschaffen wurden? Ist es nicht so, dass wir über den dysfunktionalen Schutz der EU-Außengrenzen enttäuscht sind, sich die Länder des Südens über die mangelnde Unterstützung bei dieser Aufgabe mindestens ebenso beklagen und dass man auf die Idee für den Schutz der eigenen Grenzen nicht selbst verantwortlich zu sein überhaupt erst durch das Schengener Abkommen gekommen ist?

Zum Thema der „Friedenssicherung durch Handelsverflechtung“ erscheint mir noch erwähnenswert, das der Wert des Welthandels von 1790 bis 1913 auf das Fünfzigfache gestiegen ist, [38] ohne den im Folgejahr losbrechenden Feuersturm aufhalten zu können.

Quellen:

[1] http://diepresse.com/home/wirtschaft/international/528769/Nach-113-Jahren_SemperitWerk-Traiskirchen-schliesst : Die Werkschließung nahm mit der Auflösung der Forschungs- und Entwicklungsabteilung im Jahr 1994 seinen Anfang, Anm.

[2]Franz HESCHL (2002), „Drinnen oder Draußen? Die öffentliche österreichische EU-Beitrittsdebatte vor der Volksabstimmung 1994“, Böhlau Verlag“, S. 273: Auftrag über 100 Mio. ATS für eine Kampagne von Demner & Merlicek; S. 298: Schätzungen über die Ausgaben alleine des Bundeskanzleramtes für die pro-Beitrittswerbeaktionen liegen bei 235 Mio. ATS.

[3]http://www.demokratiezentrum.org/fileadmin/media/pdf/informationskampagne_oe_eu-beitritt.pdf: Hier kann man lesen, dass 1992 nur 1/3 der Wähler für einen Beitritt gewesen waren während bei der Volksabstimmung 1994 2/3 mit „Ja“ stimmten.

[4] Brief des Bundes- und Vizekanzlers an alle österreichischen Haushalte, Mai 1994

[5] https://de.wikipedia.org/wiki/Ederer-Tausender

[6]HESCHL (2002) „Drinnen oder Draußen“, S. 206: Peter Schieder (SPÖ) bewertet den Beitritt als die einzige reale Chance auf Wohlstandszuwächse; S. 228: Franz Vranizky befürchtet massive wirtschaftliche Nachteile bei einem „Nein“ zum Beitritt.

[7] Ebenda: S. 233 Rudolf Neumann prognostiziert im „Standard“ (30.4./1.5.1994) bei einem „Nein“ eine Arbeitslosenrate von bis zu 25 % und Zustände „wie in den dreißiger Jahren“.

[8] Ebenda: S. 226: Josef Höchtl (ÖAAB/ÖVP)erwartet bei einem „Nein“ Verarmung und Ausgrenzung für Österreich.

[9] Ebenda: S. 240: Justizminister Michalek behauptet, dass ohne EU-Beitritt die Gefahr bestehe, dass Österreich zu einem Refugium der Kriminalität und ein Rückzugsraum für Verbrecher werde.

[10]Ebenda: S. 201: Franz Vranizky: „Besser wir sind „drinnen“ und können uns wehren, wenn uns etwas nicht passt.“

[11] http://www.profil.at/oesterreich/history/20-jahre-eu-beitritt-wer-mitgliedschaft-378783

[12] http://www.news.at/a/eu-oesterreich-regierung-wuerdigung

[13] http://www.zukunfteuropa.at/site/4660/default.aspx

[14] https://kurier.at/wirtschaft/eu-nettobeitraege-oesterreich-knackt-die-milliarde/110.712.872

[15] http://derstandard.at/1345165278451/Oesterreichs-Haftungsrisiken-80-Milliarden-Euro-Problemlaender-Eurokrise

[16] http://diepresse.com/home/wirtschaft/international/4771142/Osterreich-haftet-mit-bis-zu-zehn-Milliarden-Euro-fur-Athen

[17] http://diepresse.com/home/wirtschaft/economist/5094462/Was-die-Fluchtlingswelle-kostet?_vl_backlink=/home/wirtschaft/economist/index.do

[18] http://diepresse.com/home/wirtschaft/international/4744640/Lieblingsziel-Osterreich_Der-Exodus-der-deutschen-Studenten : hier kann man lesen, dass 31.000 Deutsche in Österreich studieren. Die Kosten pro Student (ca. EUR 12.000,- p.a.) sind im folgenden Artikel zu finden http://www.oe24.at/oesterreich/politik/Jeder-Student-kostet-11-609-Euro/443638

[19] https://www.bmf.gv.at/budget/das-budget/budget-2016.html

[20] http://derstandard.at/2000009715873/Lohnkluft-in-Oesterreich-waechst-rapide

[21] http://derstandard.at/2000015434074/Arbeitslosigkeit-in-Oesterreich-Das-Ende-eines-Musterschuelers

[22] http://oesterreich.orf.at/stories/2777715/

[23] http://www.bfs.admin.ch/bfs/portal/de/index/themen/03/04/blank/key/lohnentwicklung/nominal_und_real.html

[24] https://de.statista.com/statistik/daten/studie/17329/umfrage/arbeitslosenquote-in-der-schweiz/ & http://dievolkswirtschaft.ch/content/uploads/2010/01/06D_Sheldon.pdf

[25]http://dievolkswirtschaft.ch/content/uploads/2010/01/06D_Sheldon.pdf

[26] http://az-neu.eu/euro-sch%C3%BCtzt-vor-w%C3%A4hrungskrisen

und https://www.gruene.at/themen/europa/10-vorteile-von-europa

[27] http://www.onvista.de/devisen/SEK-EUR-SEK-EUR

[28] http://www.onvista.de/devisen/DKK-EUR-DKK-EUR

[29] http://www.onvista.de/devisen/NOK-EUR-NOK-EUR

[30] http://www.onvista.de/devisen/CZK-EUR-CZK-EUR

[31] http://www.onvista.de/devisen/PLN-EUR-PLN-EUR

[32] http://www.onvista.de/devisen/Franken-Euro-CHF-EUR

[33] http://www.onvista.de/devisen/Dollarkurs-Euro-Dollar-EUR-USD

[34] http://orf.at/stories/2247099/ & http://derstandard.at/2000014103354/Das-neue-Arbeitszeitgesetz-Ein-harter-Schlag-fuer-Aerzte-und-Patienten

[35] http://www.krone.at/oesterreich/kredite-werden-wegen-basel-iii-empfindlich-teurer-banken-reformpaket-story-273475 und http://diepresse.com/home/wirtschaft/economist/1394439/Kredite-werden-teurer-Alternativen-gesucht

[36] http://derstandard.at/2000002906108/EuGH-kippte-Deutschtest-bei-Nachzug-von-Ehepartnern-aus-Tuerkei

[37] http://derstandard.at/1363706950300/70-Prozent-der-Morde-werden-in-der-Familie-veruebt

[38] http://diepresse.com/home/zeitgeschichte/1512998/Erster-Weltkrieg_Das-Ende-der-ersten-Globalisierung

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baur peter

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